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Hindenburg und Ludendorff witterte er jetzt die Neigung zu einem „Verzichtfrieden“.58 Reusch war zum Jahreswechsel in ähnlich düsterer Stimmung: „Die Nachrichten aus Brest-Litowsk lauten wenig erfreulich. Wenn man auch bei dem erneuten Friedensangebot an die Westmächte mit einer Ablehnung gerechnet hat, – sie ist inzwischen ja auch tatsächlich erfolgt – so hat man sich doch für die Zukunft in einer Weise festgelegt, die uns auch bei einem siegreichen Ausgang des Kampfes im Westen schweren Schaden zufügen wird. – Von der gegenwärtigen Regierung ist ein deutscher Frieden nicht zu erwarten. Ich fürchte, dass die schlappe Haltung … auf die Kampfesfreudigkeit unserer Truppen einen sehr ungünstigen Einfluss ausüben wird.“59 Also auch die Nachfolgeregierung nach dem Sturz Bethmann-Hollwegs war Reusch noch zu „schlapp“!

      Um die Jahreswende müssen ihm andererseits Zweifel an einem von Deutschland zu diktierenden Siegfrieden gekommen sein. Er berichtete seinem württembergischen Kollegen Wieland von der Industrie-Gesellschaft m.b.H., die 1916 von Krupp, Gelsenberg, Phönix, Deutsch-Luxemburgischer Bergwerks- und Hütten-AG und der GHH zu dem alleinigen Zweck gegründet worden war, „die in Belgien zur Liquidation kommenden Industrien aufzukaufen“. Anfang 1918 schienen derartige Käufe aber nur noch wenig lukrativ, weil befürchtet wurde, dass bei einem Friedensschluss alle Firmenkäufe in Belgien wieder rückgängig gemacht werden würden. Deshalb riet Reusch in diesem Stadium des Krieges von Erwerbungen in Belgien dringend ab.60

      Als er wenige Wochen später ein Programm für die „Rohstoff-Beschaffung nach dem Kriege“ entwarf, schienen alle Bedenken vom Januar wieder zerstreut. Im Interesse der Industrie und der zukünftigen Schlagfertigkeit des deutschen Heeres müsse die Rohstoffversorgung bei den „bevorstehenden Friedensverhandlungen mit den Westmächten … eine besondere Rolle spielen“. Bei „energischer Haltung unserer Unterhändler“ dürften sich seiner Meinung nach der Durchsetzung von sechs Programmpunkten „keine unüberwindlichen Schwierigkeiten in den Weg stellen“: „1. Unsere Gegner werden im Friedensvertrage verpflichtet, an uns gewisse Mengen von Rohstoffen, wie Kupfer, Nickel, Baumwolle, Wolle, Gummi usw. usw., bis zu einem bestimmten Zeitpunkte franco deutschem Seehafen zu liefern. 2. Die zu liefernden Mengen werden auf ein Mehrfaches unserer Einfuhr im letzten Friedensjahre festzusetzen sein. 3. Die Bezahlung dieser Rohstoffe erfolgt nach Eingang zu den Marktpreisen vom 1. Juli 1914. 4. Belgien und Nordfrankreich wird erst geräumt, wenn diese Rohstoffmengen zur Ablieferung gebracht sind.“ Im fünften und sechsten Punkt war der Verkauf zu den aktuellen, weit über dem Niveau von 1914 liegenden, Marktpreisen vorgesehen. Die riesige Preisdifferenz ließ – so Reusch – einen gewaltigen Gewinn zugunsten der Reichskasse erwarten. Reusch sah in dieser Vorgehensweise eine „mittelbare Kriegsentschädigung, die nach Lage der Verhältnisse zu fordern, wir uns aber nicht scheuen sollten, umsomehr, als eine unmittelbare Kriegsentschädigung im Friedensvertrage kaum zu erreichen sein wird.“ Das Schreiben ging an den Staatssekretär des Reichswirtschaftsamtes Freiherr vom Stein, Abschriften erhielten General Ludendorff für die Oberste Heeresleitung und Reichsschatzsekretär Graf von Roedern.61

      In der Geschäftsstelle des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller wurde in diesem Frühjahr noch über viel weiter gehende Forderungen an Frankreich phantasiert. Die GHH erhielt Ende Juni 1918 die Abschrift eines Schreibens des einflussreichen Geschäftsführers des VdESI, Dr. Reichert, in dem allerdings die Adressaten nicht genannt werden. Es dürfte sich vor allem an die OHL gerichtet haben, da ihm eine Anfrage „von militärischer Seite … bezüglich des Friedensschlusses mit Frankreich“ beilag. Neben dem Inhalt selbst ist auch von Interesse, welche Teile des bemerkenswerten Papiers in der GHH, vermutlich von Reusch persönlich, angestrichen wurden. Ausdrücklich auf die Denkschrift über die „Einverleibung“ des Erzbeckens in Lothringen vom Dezember 1917 bezugnehmend, wird die Verlegung der Grenze möglichst weit nach Westen verlangt. In der Abschrift, die der GHH vorlag, war folgender Satz unterstrichen: „Als Mindestforderung käme wohl die Maaslinie mit Verdun in Betracht.“ Reichert fährt fort: „Außerdem wäre von französischen Kolonien mindestens Marocco für uns zu verlangen.“ Der Zugriff auf das Eisenerz reichte dem Verfasser nicht, es ging ihm auch um Mangan und andere wertvolle Nichteisenmetalle: „Es genügt keineswegs, dass wir Briey und Longwy ins Reich einverleiben. Wir müssen vielmehr auch die Ausbeutung der im französischen Mutterlande und in den Kolonien gelegenen Gruben verlangen, und zwar unbeschränkt und ungehemmt, also auch zollfrei.“ Deutschen müsste der Erwerb von Erzgruben überall ermöglicht werden, sie seien wirtschaftlich den französischen Staatsbürgern gleichzustellen. Vor dem Krieg mit deutschen Firmen geschlossene Verträge seien wieder in Kraft zu setzen. Die folgenden Punkte waren in der GHH wieder besonders angestrichen worden: Die früheren billigen Eisenbahntarife und andere Transporterleichterungen seien wieder herzustellen. Die im Krieg „von den feindlichen Ausländern“ erworbenen Rechte an den Erzgruben deutscher Eigentümer seien zu annullieren. „Ferner ist zu erstreben eine zollfreie Einfuhr von Eisen- und Stahlerzeugnissen aus Deutschland, welche zum Wiederaufbau der zerstörten französischen Gegenden … nötig sind.“62

      Am 8. Juni 1918 befasste sich der Hauptvorstand des VdESI mit der Problematik des Friedensschlusses mit Frankreich. Diskussionsgrundlage war ganz offensichtlich das Reichert-Papier vom April, denn die Geschäftsstelle forderte danach alle Mitglieder des Hauptvorstandes dazu auf, aufgrund dieses Papiers nun ihrerseits die individuellen Wünsche für den Friedensschluss mit Frankreich zu formulieren.63

      Reusch nahm wenige Tage später zu Reicherts Programm ausführlich Stellung. Bei der neuen Grenzziehung empfahl er, sich von wirtschaftlichen, nicht primär von politischen Gesichtspunkten leiten zu lassen. Dass das gesamte lothringische Erzbecken an das Deutsche Reich anzugliedern war, stand für ihn außer Frage. Bergsachverständige Gutachter sollten den Umfang der Erzvorkommen abgrenzen. „Aufgrund dieses Gutachtens hat die Oberste Heeresleitung diejenigen Grenzen zu bestimmen, die ihr für den ausreichenden Schutz dieses Erzvorkommens notwendig erscheinen.“ Deutschlands Grenze sollte also nach seinen Vorstellungen weit über die Erzgebiete Lothringens hinaus nach Westen verschoben werden. Gar nicht einverstanden war er mit der sehr vagen Formulierung über die Erwerbsrechte für Erzgruben und Grundstücke im Allgemeinen durch Deutsche: „Bekanntlich wird und muss Deutschland aber unter allen Umständen französischen Einfluss und französischen Besitz in Elsass-Lothringen ausschalten.“ Diesseits und jenseits der nach Westen verschobenen Grenze müsse ein etwa 150 km breiter Gebietsgürtel geschaffen werden, „in dem auf deutscher Seite kein französischer und auf französischer Seite kein deutscher Besitz erworben und kein Bergbau betrieben werden darf.“ Die formale Einhaltung des Prinzips der Gegenseitigkeit sollte wohl die Tatsache verdecken, dass die gesamten Erzvorkommen auf der deutschen Seite der neuen Grenze liegen würden. Die Forderungen über die Eisenbahntarife gingen Reusch zu weit. Da Frankreich seine Eisenbahnen künftig würde besteuern müssen, reiche für deutsches Gut auf französischen Bahnen das Prinzip der Meistbegünstigung. Reusch dachte hier offensichtlich an die finanziellen Lasten, die der Sieger dem unterlegenen Frankreich aufdrücken würde und die nur durch hohe Steuern würden aufgebracht werden können. Für den Erztransport waren für Reusch, wie er ausführlich erläuterte, ohnehin die Wasserwege wichtiger als die französischen Eisenbahnen. Er verschweigt bei der sehr ausführlichen Argumentation, dass dieses angeblich allgemeine Interesse deutscher Firmen in erster Linie aus der Lage der GHH-Gruben in der Normandie erwuchs. Reusch distanziert sich schließlich von Reicherts Forderung auf zollfreie Einfuhr der für den Wiederaufbau benötigten deutschen Güter nach Frankreich. Eine derartige Vorschrift hielt er für undurchführbar. Der Konzernchef der GHH schloss mit folgendem Appell an die Geschäftsstelle des VdESI: „Im Übrigen möchte ich dringend bitten, dafür Sorge zu tragen, dass die in dem Schreiben vom 27. April 1918 niedergelegten, sehr weitgehenden Forderungen nicht in die Öffentlichkeit gelangen. Es besteht doch die Möglichkeit, dass bei Bekanntwerden derartiger Kriegsziele diejenigen Forderungen, die von der Eisenindustrie mit allem Nachdruck und ernstlich vertreten werden müssen, Gefahr laufen, nicht die nötige Beachtung zu finden.“ So abwegig die Forderungen in dem Reichert-Papier waren, so sehr muss gleichzeitig betont werden, dass auch Reuschs „gemäßigte“ Vorstellungen für alle denkbaren westlichen Verhandlungspartner völlig inakzeptabel gewesen wären. Wie unversöhnlich, objektiv jegliche Verständigung mit den Kriegsgegnern ausschließend, seine Position war, machte er sich wohl nicht bewusst, wenn er ganz am Ende seiner Stellungnahme

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