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muss sich in den folgenden Monaten sehr über den unlauteren Wettbewerb, den einzelne seiner Kollegen angeblich praktizierten, geärgert haben. Denn er nahm dies zum Anlass für eine weitere Eingabe an die Reichsregierung, nun an den neuen Staatssekretär Helfferich, erst kurz zuvor ernannt und im Ressort Inneres mit der Zuständigkeit für Wirtschaft beauftragt. Gegen wen sich sein Ärger ganz konkret richtete, sagte er nicht. „Wir haben entgegen der Gepflogenheit anderer Industriellen davon abgesehen, die Öffentlichkeit durch Vermittlung der Presse über unseren bedeutenden Besitz – wohl den größten, über den überhaupt ein deutsches Werk in Frankreich verfügt – zu unterrichten.“ Die GHH sei bewusst zurückhaltend gewesen, weil man annahm, „dass erst bei Friedensschluss sich das Reich um private Interessen würde kümmern können“. Die Vorstöße der Konkurrenz veranlassten ihn jedoch, zu diesem Zeitpunkt die Zurückhaltung aufzugeben. Die Reserven an Eisenerz in den von der GHH seit 1907 erworbenen Gruben in der Normandie listete Reusch im Einzelnen auf. Von den insgesamt 305 Millionen Tonnen befänden sich anteilig 224 Millionen Tonnen im Besitz der GHH: „Daraus geht hervor, dass es sich um einen ganz gewaltigen Erzbesitz handelt, der für die deutsche Volkswirtschaft von hervorragender Bedeutung ist.“ Den Wert veranschlagt er nach Abzug der Aufwendungen der GHH auf ca. 50 Millionen Mark und leitet daraus die Forderung ab, „die bedeutenden Interessen unseres Unternehmens in Frankreich bei Friedensschluss geneigtest im Auge behalten zu wollen, nachdem unser Besitz, ebenso wie der Besitz der übrigen deutschen Werke von der französischen Regierung mit Beschlag belegt worden ist.“35

      Wie wichtig ihm die Sache war, geht aus der Tatsache hervor, dass Reusch den Entwurf des Schreibens an die Reichsregierung persönlich korrigierte und Bergassessor Kipper ausdrücklich anwies, diese Korrekturen in die endgültige Fassung der Eingabe aufzunehmen. Dieses Schreiben knapp zwei Jahre nach Kriegsbeginn macht deutlich, wie Reuschs Wunschlösung aussah. Es war nicht mehr die Rede von einer Hinnahme der Enteignung der Gruben in der Normandie im Tausch gegen entsprechenden Besitz in Lothringen. Für die GHH strebte er nach dem Sieg über Frankreich den Zugriff auf das Eisenerz in Lothringen und in der Normandie an.

      Intern äußerte sich Reusch schon im Frühjahr 1916 sehr abfällig über Bethmann-Hollwegs Zögern, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg wieder zu eröffnen. Der Reichskanzler hatte eine Denkschrift des Admiralstabs, in der diese brutale Form der Seekriegsführung gefordert wurde, wegen der katastrophalen Folgen für die Friedenssondierungen wieder einsammeln lassen. Reusch kommentierte diesen Vorgang in einem Schreiben an den Vorsitzenden der „Deutschen Vereinigung“ Graf Hönsbröch so: „Dem Herrn Reichskanzler war es naturgemäß sehr unangenehm, dass einige Exemplare dieser Denkschrift auch gewöhnlichen Sterblichen zugänglich gemacht wurden.“ Damit sollte nach Reuschs Meinung erreicht werden, dass „den Herrn … in der Wilhelmstraße die Stimmung des Volkes über den U-Boot-Krieg nicht noch mehr zu schaffen macht.“ Von den „Leitsätzen“ des Admiralstabs würden jetzt Abschriften angefertigt, die einem kleinen Kreis von Personen, zu denen Reusch offenbar auch zählte, zugesandt würden. Damit sei der Beweis erbracht, „dass der Admiralstab, mit Ausnahme des Chefs, der wieder umgefallen ist, etwas anderer Ansicht war und wahrscheinlich heute noch ist, als der Herr Reichskanzler.“36 Was den uneingeschränkten U-Boot-Krieg anging, so hatte Reusch anscheinend einen größeren Kreis von Unternehmern angesprochen. Begeisterten Beifall erhielt er von seinem Kollegen Wieland aus Württemberg: „Es ist erfreulich, feststellen zu können, mit welcher Einmütigkeit sämtliche gefragte Herren sich für eine rücksichtslose Führung des U-Boot-Krieges ausgesprochen haben. Wann wird wohl der Zeitpunkt kommen, dass unsere Regierung von dieser Waffe energisch Gebrauch macht?“37

      Immerhin zögerte Reusch im Sommer 1916 noch, ob er dem „Unabhängigen Ausschuss für einen Deutschen Frieden“, der ganz auf der extremen Linie des Alldeutschen Verbandes lag, beitreten sollte. Wilhelm Hirsch, der Syndikus der Essener Handelskammer, einer der führenden Interessenvertreter der Industrie im Reichstag und enger Vertrauter von Paul Reusch, hatte dies angeregt. Reusch wollte aber erst die Richtlinien dieses Ausschusses klar festgelegt haben. Er drängte darauf, „beim Friedensschluss Russland möglichst zu schonen und unser Hauptaugenmerk auf die Hinausschiebung der westlichen Grenze zu richten“. Im Osten wollte Reusch vor allem einen von Russland unabhängigen polnischen Staat verhindern. „Wer – wie ich – mehr als ein Jahrzehnt in Österreich-Ungarn gelebt hat, weiß, dass die Polen in Österreich-Ungarn dem Deutschen Reiche niemals freundlich gesinnt sein werden. Auch unsere ganze Politik, die wir in Russisch-Polen treiben, schafft uns dort keine Freunde. Unsere Nachgiebigkeit wird als Schwäche ausgelegt! Die Polen werden niemals aufhören, ihr ganzes Bestreben darauf zu richten, dem neuen polnischen Reiche auch die Preußisch-Polnischen Landesteile anzugliedern.“38 Diese Vorstellungen deckten sich mit denen des extrem nationalistischen, ja rassistisch eingestellten „Deutschen Ostmarkenverbandes“.

      Einige Tage später präzisierte Reusch seine Vorstellungen und distanzierte sich in polemischer Form von der Kompromissbereitschaft des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg: „Der Herr Reichskanzler und die von ihm beeinflussten Kreise wollen die Wiederherstellung Belgiens, vollständige Schonung Englands und Frankreichs, Errichtung eines Königreiches Polen und Angliederung eines Teiles von Kurland und Livland an Preußen.“ Reusch dagegen reklamierte die Politik Bismarcks für sich, wenn er dafür plädierte, „mit demjenigen Staat auf freundschaftlichen Fuß zu kommen, mit dem Preußen durch Jahrzehnte hindurch gute Beziehungen gehabt hat, und das ist Russland. Dazu veranlasst mich auch die Erkenntnis, dass es in Russland wohl möglich ist, das Volk für uns allmählich wieder freundlicher zu stimmen, während es ganz ausgeschlossen ist, dass in England und Frankreich eine Änderung der feindseligen Stimmung erreicht werden kann. Ob wir Belgien nehmen oder nicht nehmen, ob wir Frankreich das Hochplateau von Briey entreißen oder nicht, bleibt für die Volksstimmung in England und Frankreich ganz gleichgültig! Sie werden uns so oder so hassen! Unser weltfremder Herr Reichskanzler sieht das allerdings nicht ein. Wenn wir Weltpolitik treiben wollen, müssen wir England die Faust auf die Nase setzen und unser Gebiet nach dem Westen erweitern. Auf der anderen Seite aber können wir nicht die ganze Welt dauernd zu Feinden haben und deshalb müssen wir uns mit Russland vertragen.“39

      Feldman zieht die beiden letzten Sätze – vom Kontext isoliert – dafür heran, Reusch „relativ nüchterne Ansichten“40 bei den Kriegszielen zu bescheinigen. Dies ist unhaltbar: Reusch offenbart in diesem Brief –

       –abwegige Vorurteile über die angebliche Volksstimmung bei den Kriegsgegnern,

       –eine arrogante Missachtung der Unabhängigkeitsbestrebungen der Polen,

       –eine weltfremde Überschätzung der wirtschaftlichen und militärischen Macht Deutschlands,

       –die völlig unrealistische Hoffnung, die Kriegsgegner auseinanderdividieren zu können, und

       –die Weigerung anzuerkennen, dass die Räumung Belgiens die Mindestbedingung für eine irgendwie geartete Verständigung mit den Kriegsgegnern war.

      Reuschs Ziele waren nur durch einen totalen Sieg im Westen zu erreichen. Verständigung mit Russland auf Kosten Polens, um dadurch den Krieg im Westen zu Land und auf See umso brutaler führen zu können – das war seine Strategie. Was ist an einer derartigen Vorstellung „nüchtern“?

      Reuschs Spekulationen über einen Separatfrieden mit Russland waren zudem alles andere als originell. Schon im November 1914 hatte Kriegsminister Falkenhayn eine Verständigung mit Russland vorgeschlagen, weil der Krieg gegen drei Großmächte gleichzeitig nicht zu gewinnen war. Reichskanzler Bethmann-Hollweg stimmte ihm zu.41 Entschieden gegen einen derartigen „faulen“ Frieden opponierten jedoch die nationalistischen Verbände und die Schwerindustrie, letztere in der Regel vertreten durch Stinnes, der jederzeit Zugang zum Reichskanzler hatte.42 In den Akten gibt es nicht den geringsten Hinweis, dass Reusch sich von den extremen Kriegszielen der Alldeutschen, auf deren Linie Stinnes vorbehaltlos eingeschwenkt war, offen distanziert hätte. Weder im „Kriegsausschuss der deutschen Industrie“ noch in anderen Verbandsgremien, weder in Schreiben an die mächtigen Wortführer der Industrie (Stinnes, Kirdorf, August Thyssen, Hugenberg) und der Groß-Landwirtschaft noch in Eingaben oder Denkschriften an die Regierung äußerte

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