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von Longwy-Briey an uns abgetreten wird, die Verwertung eines Teiles dieser Erze zu überlassen? Welche Möglichkeiten liegen vor, den Franzosen für Longwy-Briey Kompensationen zu geben?“64 Reichert bedankte sich prompt bei Reusch für die „besonders eingehende Stellungnahme“, die anscheinend nicht die Regel war.65

      Noch wenige Wochen vor Kriegsende, im September 1918, nahm Reusch an einer Besprechung mit Beukenberg, dem Chef des Phönix-Konzerns und Vorsitzenden der wichtigsten Interessenverbände der westlichen Schwerindustrie, teil, um die weitere Aufschließung der gemeinschaftlichen Grube in Lothringen zu planen. Von Seiten der GHH waren neben Reusch sein späterer Stellvertreter Kellermann und Bergrat Mehner anwesend.66 Niemand aus dem Kreis der Industriellen konnte sich offenbar vorstellen, dass Lothringen für Deutschland bald verloren sein würde.

      Kennzeichnend für die Mentalität und die wirklichkeitsfremde Sicht der Herren der Schwerindustrie war auch der Vertrag mit der unabhängigen Republik Georgien über den Abbau von Manganerz im Kaukasus. Im Juli 1918, drei Monate vor dem Zusammenbruch der deutschen Armee, schloss ein Konsortium, dem auch die GHH angehörte, mit dem Georgischen Staat einen Vertrag, der den deutschen Firmen die ausschließliche Abbau-Konzession für Manganerz auf 30 Jahre und die Verfügung über den Hafen Poti am Schwarzen Meer auf 60 Jahre zusicherte.67 Nach Kriegsende, im Frühjahr 1919, trafen sich Vertreter der beteiligten Firmen im Industrieclub in Düsseldorf, wo sie aber wenig mehr tun konnten, als sich über die „Unsicherheit der politischen Verhältnisse“ auf dem Gebiet des ehemaligen Zarenreiches zu beklagen.68 Die „politischen Verhältnisse“ hatten offenbar zur Folge, dass dieser „Vertrag“ nie wirklich in Kraft trat.

      Die Hartnäckigkeit, mit der Reusch bis zum Sommer 1918 an den imperialistischen Kriegszielen festhielt, mussten zusammenhängend dargestellt werden, denn aus dieser Zielsetzung ergaben sich alle anderen, nach innen gerichteten Entscheidungen und Aktionen der Kriegszeit. Allerdings erscheint es sinnvoll, bei den Problemen der Sozial- und Innenpolitik in der Mitte des Krieges eine Zäsur zu setzen.

      In den ersten beiden Kriegsjahren kümmerte sich der Konzernchef Reusch nur eher sporadisch um die Arbeitskräfte-Problematik. Als sich die Ernährungskrise in der zweiten Kriegshälfte verschärfte und gleichzeitig die Arbeiter durch das Vaterländische Hilfsdienstgesetz mehr Rechte erhielten, forderten die Konflikte mit den Gewerkschaften aber verstärkt seine Aufmerksamkeit.

      Schlagartig mit Kriegsbeginn Anfang August wurden 5.879 Arbeiter der GHH und 374 „Beamte“ zum Wehrdienst eingezogen. Dies führte zu spürbaren Einschränkungen der Stahlproduktion. Reusch schrieb seinem Aufsichtsratsvorsitzenden, dass von sieben Hochöfen drei nur noch „gedämpft“ betrieben werden könnten. Wie Reusch die Lücken in der Belegschaft füllen wollte, sagte er nicht.69 Kurzfristig kamen nur zwei Gruppen in Frage: Vor allem Frauen und in geringerem Umfang Jugendliche.

      Die Arbeitsbedingungen der Frauen waren ab 1915 ständiges Thema im Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller (VdESI). In einer Denkschrift über Arbeiterfragen für das Kriegsministerium wand sich der Vorstand ganz entschieden gegen die Verkürzung der Nachtschicht für Frauen auf acht Stunden. Reusch wurde zusammen mit sechs anderen prominenten Kollegen in die Delegation gewählt, die dem Kriegsminister diese Denkschrift überreichen sollte. Offenbar genoss er das besondere Vertrauen seiner Kollegen, denn in der gleichen Sitzung im Hotel Adlon in Berlin beauftragte ihn der Vorstand auch mit der Wahrnehmung der Industrie-Interessen im Landeseisenbahnrat.70 Am 1. November 1915 trug Reusch gemeinsam mit seinen Kollegen dem Kriegsminister und anderen Vertretern der Reichsregierung die Forderungen des VdESI vor: Beibehaltung des Zehn-Stunden-Tages für Frauen mit Zwölf-Stunden-Schicht. Die Hauptversammlung bekräftigte diese Forderung am 9. Dezember. Als der Regierungspräsident von Düsseldorf trotzdem die Acht-Stunden-Schicht ab dem 1. Januar 1916 anordnete, wollte Reusch hart bleiben: „Ich habe mich dagegen gewehrt und auch die Hilfe des Kommandierenden Generals angerufen. … Einführen werde ich die Achtstundenschicht nicht.“ Falls der Regierungspräsident auf der Anordnung beharren sollte, würde die GHH die Produktion der Geschossfabrik Sterkrade auf die Hälfte drosseln und eventuell den Reichskanzler, das Handelsministerium, das Kriegsministerium, den Feldzeugmeister, und den Kommandierenden General per Telegramm darüber informieren. „Wir werden dann ja sehen, was die Herren weiter machen.“71 Noch ein Jahr später beharrte der Hauptvorstand des VdESI auf seiner Ablehnung der Acht-Stunden-Schicht für Frauen. Reusch trug diese Entscheidung mit. Wie sehr er sich auf die Unterstützung seiner Kollegen verlassen konnte, wurde im Februar 1917 deutlich, als er als Vertreter der Eisen- und Stahlindustrie in die betreffende Fachgruppe des Centralverbandes deutscher Industrieller delegiert wurde.72

      Auch die Bezahlung der Frauen wurde im Vorstand diskutiert, ohne allerdings einen Beschluss herbeizuführen. Reusch vertrat auch in dieser Sache einen besonders harten Standpunkt. Er wollte den Frauen keinesfalls den gleichen Akkordsatz zubilligen wie den Männern: „Das tun wir im Westen nicht.“ Auch die Gewerbeaufsicht habe einer Zwei-Drittel-Regelung für Frauen nicht widersprochen, weil nämlich „die Ausnutzung der Maschinen nicht in demselben Umfange stattfindet wie von den männlichen Arbeitern. Außerdem besteht die Gefahr, dass, wenn wir die Frauen so viel Geld verdienen lassen, die Männer sagen: wir wollen mehr haben. … Im großen und ganzen verdienen die Frauen bei uns doch sehr viel Geld, zwischen 3 und 6 Mark, mehr als Herr Hilger von Oberschlesien erwähnt hat.“ Auch durch einen Zwischenruf von „Geheimrat Hilger“ ließ Reusch sich nicht beirren: „Wir bleiben im Westen dabei, dass wir den Frauen zwei Drittel des Akkordsatzes der Männer geben.“73

      Schon vor Kriegsausbruch hatten sich die Unternehmer der Schwerindustrie Gedanken über den Einsatz von Jugendlichen gemacht. Sie sahen eine Chance, Schutzvorschriften für jugendliche Arbeiter wieder zu beseitigen. Bei einer Besprechung von „Arbeitnordwest“, des Arbeitgeberverbandes im Bereich der Nordwestlichen Gruppe des VdESI, am 14. Juli 1914 in Düsseldorf erhielten die Vertreter der Firmen Tipps, wie die Anträge für die Genehmigung von Nachtarbeit Jugendlicher mit Aussicht auf Erfolg zu stellen waren. „Unbedingt erforderlich … ist, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Arbeitsstellen der jugendlichen Arbeiter nur der Ausbildung dieser Arbeiter dienen und die Nachtarbeit keine erhöhte Gefahr für Leben und Gesundheit bringt.“74 Um den Anträgen bei der Gewerbeaufsicht mehr Durchschlagskraft zu verleihen, sollten die Väter vorgeschickt werden. „Das eine oder andere Werk kann auch einen Hinweis auf die immer mehr von Regierungsseite gewünschte und geförderte Jugendpflege in den Genehmigungsantrag aufnehmen und dabei ausführen, dass ein unbedingtes Erfordernis einer richtigen Jugendpflege die rechtzeitige Erziehung zur Arbeit ist. Schließlich empfiehlt es sich auch zu bemerken, dass durch die Beschränkung der Verdienstmöglichkeit der Jugendlichen die soziale Lage der Älteren verschlechtert wird, was zweifellos auch einen Einfluss auf die Geburtenzahl ausüben wird.“ 75 Also: Die schwere Nachtarbeit von Jugendlichen in den Walzwerken dient der Jugendpflege, wird von den Arbeiterfamilien gewünscht und erhöht die Geburtenzahl! Reusch zeichnete das Schriftstück ab. Er hatte gegen diese Sicht der Dinge nichts einzuwenden.

      Einen Monat später – die deutschen Truppen marschierten jetzt an beiden Fronten – konnte „Arbeitnordwest“ den Betrieben die Genehmigung aller Anträge betreffend die Nachtarbeit Jugendlicher und die Verkürzung der Pausenzeiten in Aussicht stellen. Mit dem Regierungspräsidenten Düsseldorf war die Sache schon geregelt; mit den anderen Regierungspräsidenten des Bezirks von „Arbeitnordwest“ standen die Gespräche vor dem erfolgreichen Abschluss. Lediglich für einzelne Arbeitsstellen legte die Gewerbeaufsicht später Einschränkungen fest. „Arbeitnordwest“ appellierte deshalb an die Werke, die sich daraus eventuell ergebenden Wettbewerbsverzerrungen nicht zum Nachteil einzelner Firmen auszunutzen. Reusch nahm alle diese Schreiben zur Kenntnis. Einwände machte er nicht geltend.76 Der Lohn der Jugendlichen wurde anscheinend in vielen Fällen an deren Väter ausgezahlt. Diese Praxis fand Reusch allerdings nicht gut. Als sich der Leiter einer Tochterfirma dagegen aussprach, weil die Väter das Geld nur für Tabak und Alkohol missbrauchen würden, stimmte Reusch ihm voll und ganz zu.77

      Seit

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