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erhalten bleiben“.17 Den – dann deutschen – Werken würde es „nicht schwer fallen“, weitere Absatzgebiete im Ausland „zu erobern“, denn die Selbstkosten der Eisen-Produzenten würden „die niedrigsten der ganzen Welt“ sein. Vor allem das geschlagene Frankreich fasste Reusch als Absatzgebiet ins Auge, da Frankreich „nach einem verlorenen Krieg einen wesentlich höheren Bedarf an Roheisen und Stahl haben wird, als seine eigene Produktion beträgt, welche nach Abtrennung Lothringens auf 1.600.000 Tonnen zurückgehen würde.“ 2 bis 3 Millionen Tonnen Roheisen und Stahl würde „Frankreich nach einem verlorenen Krieg“ brauchen, „um seine Bedürfnisse zu befriedigen“.18 Mit „Bedürfnissen“ war zweifellos auch der Wiederaufbau nach den immensen Zerstörungen durch die deutsche Armee gemeint. „Der Lieferant Frankreichs an Roheisen und Stahl [wird] zweifellos auch in Zukunft Lothringen bleiben, wobei allerdings Voraussetzung ist, dass im Friedensvertrage den Produkten der deutschen Eisen- und Stahlindustrie eine gewisse Bevorzugung gesichert ist.“ Mit der Meistbegünstigungsklausel dürfe sich dabei Deutschland nicht zufrieden geben. Man werde „vielmehr verlangen müssen, dass für Eisen und Eisenwaren eine tarifarische Bevorzugung gegenüber jedem anderen Land für alle Zeiten vertraglich festgelegt wird.“ Ganz konkret schlug Reusch für den Friedensvertrag eine Bestimmung vor, „dass der Zollsatz für deutsches Eisen und deutsche Eisenwaren keinesfalls mehr als die Hälfte das Zollsatzes betragen darf, der irgendeinem anderen Land eingeräumt wird.“19 Als umsichtiger Geschäftsmann kalkulierte Reusch auch das Risiko ein, dass Frankreich die Eisenzölle ganz aufheben könnte; dieses Risiko schätzte er aber als gering ein, da Frankreich bestimmt seine Eisenindustrie in der Normandie und an der Loire durch Zölle schützen würde und da selbst bei freier Einfuhr die Werke in Lothringen klare Wettbewerbsvorteile gegenüber allen anderen Ländern haben würden.

      Der Friedensvertrag musste nach Reuschs Dafürhalten nicht nur die Zölle, sondern auch alle anderen Rahmenbedingungen des internationalen Handels so festlegen, „dass irgendwelche Begünstigung ausländischer Eisenindustrie seitens Frankreichs zum Nachteile des Deutschen Reiches ausgeschlossen ist.“ Im Layout hob er dann den Schlusssatz ganz besonders hervor: „Im Falle, dass Französisch-Lothringen dem Deutschen Reiche einverleibt wird, geht die jährliche Eisenerzförderung Frankreichs von 21,6 Millionen Tonnen auf 2 Millionen Tonnen zurück, da nicht weniger als 19,5 Millionen Tonnen Eisenerz im Jahre in Französisch-Lothringen (Briey, Longwy, Nancy) gefördert werden.“20

      Der von Reusch handschriftlich korrigierte Entwurf der Denkschrift für Innenminister Delbrück gewährt weitere interessante Einblicke in die Denkweise Reuschs und seiner engsten Mitarbeiter. Demnach hatte Bismarck 1871 die Grenze des Deutschen Reiches nicht weit genug nach Westen verschoben: „Während man beim Abschluss des Frankfurter Friedens im Jahre 1871 der Ansicht war, das ganze Eisenerzvorkommen in Lothringen dem Deutschen Reiche einverleibt zu haben, stellte es sich später im Laufe der Jahre heraus, dass sich dieses Vorkommen, allerdings in größerer Teufe, aber auch in großer Mächtigkeit, nach Westen über die französische Grenze hinaus fortsetzt. Die durch die größere Teufe verursachte Erhöhung der Gestehungskosten wird jedoch mehr als ausgeglichen durch den höheren Eisengehalt des Erzes auf französischem Gebiet.“21 Mit der Erschließung dieser Eisenerzfelder habe Frankreich seine Erz-Förderung und seine Produktion von Roheisen bis 1913 gewaltig steigern können. Nach einem kurzen Hinweis auf die umfangreichen Investitionen deutscher Firmen in der Normandie, wobei das Eigeninteresse der GHH unerwähnt bleibt, gibt Reusch konkrete Empfehlungen für die Abwicklung der „territorialen Einverleibung des französischen Erzbezirkes von Französisch-Lothringen“. Die Erfahrung habe gelehrt, „dass alle nationalen Unternehmungen, welche im Jahre 1871 in französischen Händen geblieben sind, bis zum heutigen Tage, … ausnahmslos in französischem Sinne verwaltet werden und alle Angestellten und Arbeiter vom Besitzer oder Leiter bis zum letzten Mann französisch gesinnt bleiben. Eine Germanisierung des eroberten Gebietes ist m.E. nur möglich, wenn die gesamte Groß-Industrie und die Erz-Konzessionen, welche in dem einzuverleibenden Gebiet gelegen sind, enteignet werden, soweit sie sich nicht schon in deutschen Händen befinden.“22 Diese Enteignung sei durch das Reich gegen Entschädigung23 durchzuführen. Die Überführung in deutschen Privatbesitz könne „nach dem Friedensschluss ohne Schwierigkeiten allmählich durchgeführt werden. … Um der französischen Regierung beim Abschluss des Friedens diesen Eingriff in das private Eigentum etwas schmackhafter zu machen, könnte äußerstenfalls seitens der Reichsregierung zugestanden werden, dass auch die in deutschem Besitz befindlichen Erzfelder der Normandie vom französischen Staat unter voller Entschädigung der Besitzer enteignet werden.“24 Diese von der Enteignung in der Normandie betroffenen deutschen Firmen – u.a. also die nicht ausdrücklich erwähnte GHH – müssten dann aber „bei Abtretung von Erzkonzessionen aus dem Hochplateau von Briey in erster Linie berücksichtigt werden“.25

      Kurzfristig, noch im Kriege, müsste die Erzförderung in Französisch-Lothringen zugunsten der deutschen Schwerindustrie wieder in Gang gebracht werden: „Die Eisenindustrie hat … das allergrößte Interesse, dass ihr die in Französisch-Lothringen liegenden Erzgruben, sobald dies die Kriegslage irgendwie gestattet, nutzbar gemacht werden. … Zu diesem Zweck dürfte es sich empfehlen, möglichst schnell die sämtlichen Erzgruben von Französisch Lothringen unter staatliche Verwaltung zu stellen und durch den Staat für Rechnung der Besitzer betreiben zu lassen. Das geförderte Erz ist nach Maßgabe der Roheisenproduktion im abgelaufenen Jahr auf die deutschen Hüttenwerke zu verteilen bezw. an diese für Rechnung des Grubenbesitzers zu verkaufen.“26

      Reuschs Textentwurf endet mit einem pathetischen Appell an die Reichsregierung: „Der ganze Erdball wird von deutschen Industriellen abgesucht, ohne dass der vorhandene Erzhunger halbwegs befriedigt wird. Ich halte die Einverleibung des Erzbeckens von Französisch-Lothringen in das Deutsche Reich geradezu für eine Lebensfrage der deutschen Eisenindustrie.“27

      Welchen Einfluss Eingaben dieser Art auf die Reichsregierung hatten, ist schwer einzuschätzen, da der spätere Kriegsverlauf ihnen die Grundlage entzog. Auch wenn es zutreffen sollte, dass Reichskanzler Bethmann-Hollweg sich beim Entwurf seines berühmten September-Programms nicht direkt von Interessengruppen der Industrie beeinflussen ließ28, so ist doch zu vermuten, dass die Agitation der Schwerindustrie und der nationalistischen Verbände bei der gedanklichen Konzeption des Programms eine Rolle spielte. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass der für Wirtschaft zuständige Staatssekretär Delbrück, der als zweiter Mann im Kabinett keineswegs immer mit dem Kanzler einer Meinung war29, offenbar in diesen Tagen engen Kontakt zu den Industriellen, u. a. zu Reusch, hielt.

      Die Abtretung der Erzgruben in der Normandie war natürlich nur – in Reuschs Diktion – für den äußersten Fall vorgesehen, also für den Fall, dass Deutschland die Friedensbedingungen nicht vollständig diktieren konnte. Auch während des Krieges ließ der Generaldirektor der GHH sich deshalb über den Erzvorrat in der Normandie auf dem Laufenden halten. Sein Rohstoff-Fachmann Kipper legte ihm im November 1914 eine detaillierte Berechnung vor, wonach in den drei Minen Barbery, Urville und Estrées mehr als 305 Millionen Tonnen abbaufähigen Eisenerzes lagerten.30 Ein Jahr später ergänzte er diese Informationen durch genaue Zeichnungen.31 Kippers Gutachten dienten Reusch im folgenden Jahr als Grundlage für seine nächste Eingabe an die Reichsregierung.

      Die nationalistischen Verbände und die führenden Vertreter der Schwerindustrie ließen sich von den militärischen Rückschlägen im Spätsommer und Herbst 1914 nicht beirren. Sie kämpften hartnäckig gegen einen „voreiligen“ oder „faulen“ Frieden. Im Mai 1915 flossen ihre Maximalforderungen in eine gemeinsame Denkschrift der Unternehmerverbände und der Verbände der Landwirtschaft ein. Federführend waren wie eh und je Stinnes, Kirdorf, August Thyssen und Hugenberg.32 Es gibt keine Hinweise für eine aktive Beteiligung von Reusch, allerdings auch keinerlei Hinweis, dass er sich distanziert hätte. Im Gegenteil: Er war weiterhin bereit, gemeinsam mit anderen Schwerindustriellen die auf Annexionen ausgerichtete Kriegszielagitation der politischen Rechten mit erheblichen Geldmitteln zu unterstützen.33 Gleichzeitig stand

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