Скачать книгу

Antriebslosigkeit, Übelkeit und diese unendliche Müdigkeit meinten, die ihn jeden Tag so gegen zehn überfiel, dann hatten sie ihre Vorstel lungen wunderbar umsetzen können. Aber das, so erklärte ein Arzt seiner Mutter, waren nur Nebenwirkungen der Medikamente, die Thomas irgendwann in einen ganz normalen Menschen verwandeln sollten. Irgendwann!

      Wohl wieder eine Nebenwirkung, setzte die Pubertät bei ihm erst mit siebzehn ein und dies auch erst, nachdem eines der Mittelchen, die er täglich viermal schlucken durfte, kurzzeitig abgesetzt war. Plötzlich veränderten sich seine Stimme und sein Körperbau, begannen Haare an den unmöglichsten Stellen zu wachsen und, wie er vollkommen irritiert entdeckte, wuchs auch etwas anderes an ihm. Wenn er ihn anfasste, zum Wasserlassen oder im Bad, fühlte es sich mit einem Mal vollkommen anders an. Es kitzelte, aber es war nicht das quälende Kitzeln der Mädchen aus seiner Nachbarschaft, die ihn, den kleinen und schmächtigen mit der hohen Stimme, packten und hinter einen Busch zerrten. Zu zweit oder dritt hielten sie ihn, während eine ihn kitzeln durfte, bis er weinte.

      Nein, dieses neu entdeckte Kitzeln war anders, angenehm. Und warm war es. Und es zog sich von dieser einen Stelle bis in die Haarspitzen und − andere Richtung − zu den Zehen. Es war schön. Es war so schön, dass er sich manchmal abends im Bett, in den wenigen Minuten, die ihm blieben, bevor die Medikamente ihn mit bleiernem Schlaf ausgossen, leise berührte.

      Und eines Abends war es so weit: Etwas Unbekanntes ergoss sich aus ihm, es schoss heraus und hinterließ einen großen, klebrigen Fleck auf dem Laken.

      Wenn das Mutter sieht!, zeterte da zum ersten Mal Nummer zwei. Lass ihn doch.

       Ja, riechst du das! Na, wie riecht das? Wie Käse oder vielleicht wie Salami? Und es hinterlässt große, hässliche Flecke, die können das ganze Bett ruinieren, ja vielleicht sogar Löcher hineinätzen?

      Hör auf!, grummelte Nummer eins, eher amüsiert denn böse.

      Aber für Thomas verband sich seither, wenn er Nummer zwei schimpfen und abwägen hörte, ihre Stimme mit dem unangenehmen Gefühl dieses Abends. Sie hatte ihn erwischt, auf frischer Tat ertappt. Und es hatte Jahre gedauert, bis er keine Angst mehr vorm Erblinden hatte. Davon kann man blind werden, blind wie ein Maulwurf! Warum waren Maulwürfe blind?

      Es war nie wieder passiert. Aus Angst vorm Erblinden und weil er seine alten Medikamente irgendwann wieder nehmen musste. Und diese Medikamente vertrieben zielgerichtet jedes angenehme Kitzeln aus seinem Körper. Vielleicht waren sie auch nur deshalb da.

      16

      15:44 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Intensivstation

      Was ihm zu schaffen machte, war weniger, wie der Tote sich anfühlte als das Wissen, dass es ein Toter war. Obwohl – als er darüber nachzudenken begann …

      Unter dem Bettlaken, mit dem Eva die Leiche und Beck abgedeckt hatte, verschwammen die Geräusche der Station. Das Zischen der Beatmungsmaschinen, die Sauerstoff in kranke Lungen pressten, piepsen de Geräte und Pumpen, dazwischen das Stöhnen von Verletzten sowie Stillers Anordnungen, die er Augenblicke später revidierte, waberten durcheinander. Einzig Ritters Stimme war laut und deutlich zu vernehmen.

      »Wo ist dieser Stiller, verdammt noch mal!«

      Beck, etwa einen Kopf kleiner als der hochgewachsene, hagere Tote neben ihm, lag mit dem Kopf halb unter dessen Schulter. Seinen Rücken drückte er gegen ihn, die Beine hielt er leicht angewinkelt und unter den verstorbenen Beinen versteckt. Für einen Unwissenden war von außen nichts Auffälliges zu entdecken; da lag nur ein stattlicher Herr, soeben verschieden, und wartete auf seinen Abtransport, wohin auch immer.

      Der Beckenkamm der Leiche drückte in Becks Rücken. Genau gegen die Wirbelsäule. Und unter seinem Arm roch es nach bitterem, kaltem Schweiß, den er im Sterben noch versprüht haben musste. Der Mann, der den herrlichen Maimorgen hatte nutzen wollen und mit seiner Frau zu einer Fahrt nach Schaffhausen an den Rheinfall aufgebrochen war, wurde zufällig fast unmittelbar vor den Toren der Klinik Opfer eines Handynutzers, der, einen Moment abgelenkt, die bestehenden Vorfahrtsregeln missachtete und in den ältlichen Ford des Rentnerehepaares krachte. Die Frau war sofort tot (»Der Gurt schnürt mich immer so ein. Ich bekomme da drin keine Luft, Liebling. Ich lass ihn heute mal weg.«). Er wurde vom Unfallverursacher in die Klinik getragen und einem Arzt übergeben. Der Unfallverursacher hatte dem Unfallopfer seine eigene Jacke um den Bauch gewickelt und so die hervorquellenden Därme bis zur Notaufnahme zurückhalten können. Und sich erbrochen.

      »Stiller!«

      »Ja, was ist denn los?« Der Stress ließ Dr. Stiller blass und kränklich aussehen. Seine Augen standen weit hervor. Mit wedelnden Armen stand er auf dem Flur. Gollum! Er strich sich mit seiner in einem Gummihandschuh steckenden Rechten die dünnen Haare aus der Stirn.

      »Brüllen Sie hier so rum?« Wie ein wütender Terrier kläffte er Ritter und seine Kumpane an. »Was wollen Sie?«

      »Wo ist der Polizist?« Ritter kam ohne Umschweife zur Sache. Er sah Stiller an, kalte Herausforderung blitzte in seinen Augen. Er wartete auf Stillers Antwort, aber er würde bestimmt nicht lange warten.

      »Was für ein Polizist? Hier war keiner, hier ist keiner und«, er machte auf den Absätzen kehrt, »es wird sicher auch keiner kommen Leider.«

      »Halt!«, brüllte Ritter. Mario und Mehmet schnitten Stiller den Weg ab und bauten sich vor ihm auf. Mehmet hielt seine P7 deutlich sichtbar. »Entweder, du sagst mir jetzt, was ich wissen will, oder ich mach Kleinholz aus dir! Wäre dir das recht, he?«

      Stiller starrte in die Waffe. Er hatte noch niemals zuvor eine Pistole gesehen, außer im Fernsehen. War die echt? Waren die Männer echt? Einen kurzen Moment dachte er an einen Streich und eine versteckte Kamera, aber dann überzeugten ihn die Augen der Männer von der Wahrheit. Er war kein Mann, der für Ideale, geschweige denn für andere Menschen, seine Gesundheit riskieren wollte. Der Gedanke an Widerstand kam ihm nicht einmal. Er überlegte nur, wo der Gesuchte hin sein konnte. Er wollte alles sagen.

      Angesichts der drohenden Übermacht stand Stiller mit hängenden Schultern und unterwürfigem Blick zwischen den Männern. Der kläffende Terrier zog den Schwanz ein und winselte: »Aber Sie können mir glauben, hier war kein Polizist. Und wenn, würde ich es Ihnen sagen. Sie haben sicher wichtige Gründe, ihn zu suchen.«

      »Das haben wir«, lachte Ritter.

      »Vielleicht hat er ihn auch nicht erkannt?« Hermann Fuchs, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, kam an Ritters Seite. »Wie du erzählt hast, sah er ja nach deiner Unterhaltung mit ihm nicht mehr so gesund aus.«

      »Stimmt.« Ritter klopfte dem ehemaligen Sozialhilfeempfänger anerkennend auf die Schulter und humpelte einen weiteren Schritt auf Stiller zu. Jetzt standen sie alle genau vor der weit offenen Schiebetür zu Becks doppelt belegtem Bett.

      »Der Bulle ist klein und mickrig, so wie du ungefähr, Doktorchen. Mit so ’nem Möchtegernbärtchen um den Mund. Nase und ein Auge waren Matsch.«

      Stiller schluckte, er war es gewohnt zu schlucken. Und, irgendwann einmal, sich dann an alles zu erinnern und zurückzugeben. Man sieht sich immer zweimal im Leben.

      »Ja, der war hier.«

      Ritter packte den Arzt und schüttelte ihn. »Und wo ist er jetzt, he? Wo hast du ihn versteckt?«

      Stiller versuchte sich dem Schraubstockgriff zu entwinden. »Nein, ich habe ihn nicht versteckt! Ihr müsst ihm doch begegnet sein!«, quiekte er. »Ich hab ihn in die Ambulanz runtergeschickt, weil hier alles voll ist und weil …«

      »Wir kommen aus der Ambulanz, kleiner Mann!« Ritters Gesicht kam näher. »Wo könnte er hin? Uns ist er jedenfalls nicht begegnet. Habt ihr einen Notausgang?«

      Stiller nickte und zeigte ans andere Ende des Flurs, wo hinter einer wuchtigen Glastür eine Stahltreppe lag. Der offizielle Fluchtweg, wenn auch keiner wusste, wie schwerstkranke Patienten, beatmet und im Koma, über diese Treppe gerettet werden sollten.

      »Aber

Скачать книгу