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einem Flucht weg. Seit dem Morgen hatte sich die Intensivstation völlig verändert. Inzwischen waren sämtliche Betten belegt und selbst auf dem Flur lagen zwei Patienten auf schmalen Liegen. Pflegepersonal und Ärzte − neben Stiller war ein junger Arzt im praktischen Jahr anwesend − gaben ihr Bestes, um die Patienten wenigstens mit dem Nötigsten zu versorgen. Aber es war ein fast aussichtsloses Unterfangen, denn während die Station aus allen Nähten platzte, wurden in vier Sälen Notfalloperationen durchgeführt und es war noch immer kein Ende absehbar. Zu allem Überfluss hatte sich eine der Schwestern am Vormittag aus dem Staub gemacht. »Tut mir leid«, hatte sie sich bei Eva Seger entschuldigt, »aber ich muss nach meinen Kindern sehen!« So blieb Eva mit Stefan und einer weiteren Schwester allein zurück.

      Eva beneidete ihre Kollegin um diesen Egoismus. Inzwischen war es kurz nach drei und ihre Schicht eigentlich seit zwanzig Minuten offiziell beendet. Zu Hause wartete Lea. Aber Lea, daran zweifelte Eva keinen Augenblick, war bei Susanne und Frieder in guten Händen. Hier allerdings wurde sie gebraucht.

      Gebraucht? Sie sah sich um. Brauchten die Verletzten sie wirklich? Hatten die Verletzten überhaupt eine reelle Chance? Sollte sie nicht lieber aus der Klinik rennen, in ihr Auto steigen und verschwinden? Dahin fahren, wo sie hingehörte?

      Als sie an Aleksandr Glücks Zimmer vorbeihetzte, lächelte er ihr kurz zu. Vielleicht gehörte sie in diesem Augenblick doch hierher. Beck sah durch das milchige Glas mehrere Schatten näher kommen. Er wusste, wer da kam, er wusste auch, wen sie suchten und noch besser wusste er, was sie mit ihm anstellen würden, sollten sie ihn entdecken.

      »Dr. Stiller, da sind Sie ja!« Beck hatte Stiller soeben entdeckt und rannte zu ihm.

      »Gehen Sie bitte in die Ambulanz«, wimmelte Stiller ihn ab. Ohne noch einen Blick an den hilflosen Beck zu verschwenden, drehte er sich um und versuchte sich an eine bestimmte Medikamentenkombination zu erinnern. Aber ohne seine geliebten Taschencomputer war er sichtlich hilflos.

      »Was wollen Sie?« Eva klang überarbeitet. »Sie sollten Ihre Verletzungen versorgen lassen!«, empfahl sie und kümmerte sich weiter um einen Mann, der vor wenigen Minuten verstorben war. »Sie sehen doch, hier geht es drunter und drüber! Bitte gehen Sie nach unten in die Ambulanz.« Eva entfernte alle Nadeln und Schläuche aus dem Körper des Verstorbenen. Bei der Notoperation war zwar die offene Bauchwunde und der zerfetzte Darm notdürftig geflickt worden, gegen den Kreislaufzusammenbruch, der dann vor vierzig Minuten eintrat, waren Stiller und die anderen allerdings hilflos. Zu viele andere Patienten brauchten Hilfe, zu wenige Ärzte waren abkömmlich. Ges tern hätte der Mann eventuell eine geringe Überlebenschance gehabt, heute nicht.

      »Bitte, Sie müssen mir helfen, Schwester!«, flehte Beck. Wie ein gehetztes Tier sah er abwechselnd die Krankenschwester an und zurück in den Flur. »Bitte, ich bin Polizist und in wenigen Augenblicken werden ein paar Männer hier aufkreuzen. Bitte, helfen Sie mir! Die haben versucht mich umzubringen, haben meine Kollegen getötet!«

      »Die haben was?!«

      »Heißt hier jemand Stiller?« Es war Ritters Stimme, die über die Station brüllte.

      Eva sah kurz nach draußen. »Wie sieht er aus?«, fragte sie Beck.

      »Wie aus einem Fitnessstudio entflohen. Dann war da noch so ein Kleiner, noch ganz junger, mit Pferdeschwanz und …«

      Eva nickte. Sie sah sich in dem Patientenzimmer um. Der Weg zum Notausgang am Ende des Flurs war durch Ritter und seine Kumpane unmöglich und ein Sprung aus dem Fenster zu gefährlich. Auch gab es in dem engen Patientenzimmer nur zwei kleine Schränke für Wäsche und Infusionen und zwei Patientenbetten. In dem einen Bett lag eine Frau, die am Morgen einen Herzinfarkt erlitten hatte, in dem anderen ein Toter.

      Eva zog plötzlich das Leinentuch von dem Toten. »Schnell«, befahl sie, »legen Sie sich dazu!«

      »Aber …« Beck starrte fassungslos zuerst auf die Leiche, dann auf die Schwester. Der Tote war schlank, mit einem dicken, völlig durchgebluteten Verband am Bauch. Sein Mund stand etwas offen und von seinen Händen, die ihm Eva über der Brust gefaltet hatte, stand der linke Zeigefinger etwas ab, war gekrümmt, als würde er Beck zu sich rufen. Dem lief ein Schauer über den Rücken. Übelkeit stieg in ihm auf.

      »Wo ist dieser Stiller?!«, donnerte es aus unmittelbarer Nähe.

      »Worauf warten Sie noch?«

      Beck atmete tief durch, dann kletterte er in das Bett.

      »Rutschen Sie weit runter, aber nicht zusammenrollen!«, befahl Eva. »Und ganz ruhig. Das Bettlaken darf sich nicht bewegen.« Damit deckte sie die noch warme Leiche und Beck, der sich eng an sie schmiegte, ab.

      15

      15:43 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Aufzug 2

      Thomas Bachmann war durch steinerne Wände und Stahl vom Rest der Welt getrennt. Er spürte in der Abgeschiedenheit seiner Kabine Angst und Unsicherheit, spürte, dass da draußen wilde Panik um sich griff. Hinter seinem schützenden Vorhang hörte er Stimmen vorüberhasten. Das Trampeln schneller Schritte. Die Wesen da draußen (waren es Menschen?), sie hatten Angst.

      Angst vor was?

      Sie hatten die unproduktive Angst, die Angst, die den Ängstlichen verharren lässt und einsam macht. Thomas spürte deutlich, dass es sich um eine egoistische Angst handelte, destruktiv, zerstörerisch und böse. Würde sie den Weg zu ihm finden? Sie war schon ganz nah gewesen, diese Angst, vorhin, nach den Schreien. Da hätte sie ihn beinahe gefunden. Aber etwas musste sie weggelockt haben, hin zu einem fetteren Opfer, fort von ihm.

      Thomas hatte einen Schluck Tee getrunken.

      Komm, hihi, trink aus! Mach’s leer, es reicht ja doch nicht für die Ewigkeit! Jaaa, trink, trink schneller, schneller, umso schneller ist unser Leiden vorbei.

      Er hatte Nummer drei gefolgt und getrunken, zuerst langsam Schluck für Schluck, abgesetzt und gewartet. Aber sein Durst war nicht geringer geworden, im Gegenteil! Und so hatte er den Inhalt der kleinen Thermoskanne hemmungslos runtergestürzt. Nun, mit dem Wissen nichts mehr zu haben, war der Durst nur noch schlimmer. Wie lange dauerte es, bis man verdurstete? Drei Tage oder fünf?

      Für Thomas roch der Aufzug nach Tod und Verwesung. Am Morgen, als Lastenaufzug 2 stecken geblieben war, hing dieser Geruch noch nicht in der Luft.

      Tod. Riecht der Tod? Riecht er so? Würde er selbst – Thomas Bachmann – einmal so riechen? Oder das, was von ihm später einmal übrig bliebe?

       Wenn jemand in zehn oder hundert Jahren diesen Aufzug öffnet, ist nichts weiter von dir übrig als ein Häufchen blanker Knochen! Ach, wäre es doch schon so weit, wären wir doch endlich tot!

      Thomas hatte seine schwarze Aktentasche ganz nah an sich herangezogen. Sie besaß einen silbernen Verschluss, so einen, den man mit dem Finger hineindrücken musste, damit sie sich öffnete. Er drückte und hörte unmittelbar darauf das willige Klicken, mit dem sie aufsprang. Aber ebenso leer wie seine Thermoskanne war auch Thomas’ Tasche. Er tastete nichts in ihr, keine Wurstbrote, kein Taschentuch, keine Taschenlampe, noch nicht einmal ein Feuerzeug.

      Wozu ein Feuerzeug? Nummer zwei war da. Willst du dir beim Sterben zusehen? Vielleicht noch alles in Brand setzen?

      Was soll hier schon brennen, knurrte Nummer eins.

      Thomas freute sich, ihn zu hören. Nummer eins beruhigte das kleine Kind in Thomas ein wenig, betrog die Wirklichkeit mit dem Gefühl der Sicherheit.

      Sicherheit? In seiner Situation?

      Aber es war genau so und wäre er jetzt mit den anderen beiden Stim men allein gewesen, ohne dass ab und zu mal jemand in seinem Kopf für Ordnung sorgte, hätten ihn Angst und Wahnsinn mit Bestimmtheit längst aufgefressen. So wie es damals beinahe geschehen wäre, als er zum ersten Mal Nummer zwei hörte. Das war der peinlichste Moment seines Lebens.

      Mit elf Jahren hatte seine Umgebung, vor allem seine Eltern und mehrere Lehrer, den Eindruck, dass

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