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die Papa mir erzähl …« Lea brach mitten im Satz ab. Sie schlug beide Hände vor den Mund und schluckte schuldbewusst. Ihre Ohren glühten. Papa hatte gesagt, dies sei ihr beider Geheimnis, denn Mama würde wahrscheinlich ein bisschen schimpfen, wegen der Kannibalen und so.

      »Was? Dein Papa erzählt dir Robinson Crusoe? Bist du dafür nicht noch ein bisschen zu klein?«

      »Nein. Außerdem hat er das mit den Menschenfressern weggelassen!« Oje, nächster Fehler!

      »Oh ihr zwei«, schimpfte Susanne mit gespielter Entrüstung. Es ging sie nichts an, was ihr Nachbar seinem Kind für Geschichten erzählte. Das war deren Sache. Trotzdem fand sie, dass man einer Siebenjährigen nicht unbedingt diese Geschichte erzählen musste. Sie kannte sie selbst nur aus dem Fernsehen, Bücher gab es in ihrem und Frieders Haus keine. »Dein Vater behandelt dich wie einen Jungen«, sagte Susanne und hatte damit nicht ganz unrecht. Hans Seger hatte sich immer einen Sohn gewünscht, einen Lausbuben mit Zahnlücke und wildem Haar, aufgeschlagenen Knien und jedem Tag einen anderen Streich im Kopf. Und so behandelte er Lea tatsächlich oft wie einen Jungen, erzählte ihr von Tom Sawyer und Huck Finn und ihren Abenteuern mit Indianer-Joe. Meist schlief Lea dabei ein oder spielte mit einer Puppe. Aber (Achtung: Wichtig!) Papa war da!

      »Freitag?«, fragte Lea noch einmal, nachdem Susanne und Bubi ihr versprochen hatten, nichts von ihrem Geheimnis am Abend an Leas Mutter weiterzusagen.

      »Heute ist Mittwoch, Zwerg. Wenn, dann müsstest du ihn Mittwoch nennen und das klingt blöd, oder?«

      »Onkel Mittwoch?«

      Susanne schüttelte den Kopf.

      »Herr Mittwoch! Bitte, Susanne!«, jubelte Lea und tanzte um den Küchentisch. »Wir nennen ihn Herr Mittwoch, nur bis er wieder sprechen kann! Bitte, bitte!«, flehte sie und klammerte sich an Susannes Bein.

      »Wir fragen Onkel Frieder, was er dazu meint. Und Bubi, der hat ihn schließlich gerettet.«

      »Is mir egal, wie ihr ihn nennt. Is mir ganz egal«, sagte Bubi ohne aufzusehen.

      Frieder Faust stand im Unterhemd und mit einer Flasche Bier in der Hand an seinem selbst gemauerten Grill. Auf dem Rost brutzelten Steaks und mehrere Scheiben Speck. Ein Bild, wie aus den besten Zeiten geordneter Kleinbürgerlichkeit. Wäre nicht das Flugzeugwrack am Horizont gewesen, hätte man durchaus auf den Gedanken kommen können, alles wäre in bester Ordnung. Bubi saß im Schatten an der Hauswand und betrachtete auf dem kleinen Monitor seiner Digitalkamera wieder und wieder seine Aufnahmen. Aufnahmen, die er keinem zeigen wollte und die ihn mit so viel Stolz und Zuversicht erfüllten. Susanne deckte den Tisch auf der kleinen Veranda hinter ihrem Haus. Lea half dabei.

      »Und er hatte nichts bei sich, keine Jacke, keine Tasche oder einen kleinen Koffer in der Nähe?«

      »Nein Vater, hab ich dir doch jetzt schon hundert Mal gesagt: da war nichts. Außerdem, so wie das da oben aussieht, könnte man keinem irgendein Gepäckstück zuordnen.«

      »Außer, man findet einen Reisepass oder Führerschein oder so. Irgendwas mit Bild und Namen eben.«

      Das Fleisch war durch und sie setzten sich zu Herrn Mittwoch an den Tisch. Frieder fand den Namen nicht schlecht.

      »Irgendwie tut er mir leid«, sagte Susanne. »Schaut ihn euch doch mal an. Er sieht gepflegt aus, wie ein feiner Herr und … schlau und irgendwie klug. Und wir nennen ihn Herr Mittwoch! Vielleicht war er Arzt oder ein Lehrer?«

      »Vielleicht, vielleicht, vielleicht.« Faust schüttelte den Kopf. »Ich finde, Herr Mittwoch passt. Und wenn alles gut geht, verrät er uns ja, bevor er morgen abgeholt wird, seinen wirklichen Namen. Und jetzt esst!«

      Sie stürzten sich auf das Essen und Faust merkte erst jetzt, wie viel Kraft ihn dieser Tag gekostet hatte. Dies war wirklich kein Tag für schwache Nerven und erst recht keiner für schwache Männer. Wie sie ihm alle zugehört hatten in der Krone. Und gestarrt und geklatscht, als ob das Verbuddeln der Leichen auf dem Hardt so wichtig wäre. Aber es beschäftigte die Menschen, gab ihnen etwas zu tun, dachte Faust. Es wird den Schwachen helfen, die Stunden bis zum Eintreffen der Rettungsmannschaften heil zu überstehen.

      »Will er nichts?«, fragte Bubi und streckte die Hand nach dem unberührten Steak aus, das vor Assauer langsam kalt wurde.

      »Finger weg!« Faust schlug seinem Sohn mit der Gabel auf den Handrücken. »Wenn er nicht essen kann, muss es ihm eben einer ge ben.«

      »Darf ich das machen, bitte!«, bettelte Lea und stand schon neben Assauer. Faust schnitt das Fleisch klein und gab Lea die Gabel.

      »Aber sei vorsichtig Lea!«, mahnte Faust. Susanne war nicht wohl bei dem Gedanken, dass Lea einen Kranken füttern sollte. Aber ihr Mann, dem der Zweifel in ihrem Blick auffiel, versuchte sie zu beruhigen.

      »Lea kann das, stimmts? Bist schließlich kein Baby mehr!«

      Lea nickte und hielt Assauer die Gabel mit einem ersten Fleischbrocken an die Lippen. Bereitwillig öffnete der den Mund und ließ sich von Lea füttern.

      »Seht ihr, ich kann es, ich kann es!«

      »Der ist doch bloß zu faul zum Essen, wollen wir wetten?« Bubi taxierte jeden Bissen den Assauer nahm und ärgerte sich, den Mann mitgebracht zu haben. Als ob die Bilder nicht gereicht hätten! »Wann kommt nur dieser blöde Strom wieder? Vater, ich muss die Bilder an die Sender mailen.«

      »Keine Ahnung, Bubi. Aber eines weiß ich: Wenn du noch lange deine Fotos anschaust und die Kamera alle paar Minuten an- und wieder abstellst, ist der Akku bald leer. Aber dann ist wenigstens Ruhe.«

      Erschrocken – an den Akku hatte er bisher keinen Gedanken verschwendet – legte Bubi die Canon zur Seite.

      »Nachher fahr ich noch nach Bonndorf. Willst du mitkommen oder«, Frieders Blick fiel auf Lea und Assauer, »soll ich uns vielleicht etwas mitbringen vom Aldi?«

      »Oh, ich weiß nicht. Vielleicht ein Brot und Butter. Den Rest müssten wir noch dahaben.«

      »Haben wir von allem genug? Wer weiß schon, wie lange das jetzt so weitergeht. Na, ich bringe mit, was ich kriegen kann. Ein paar Vorräte können nie schaden!«

      »Meinst du, wir werden Vorräte brauchen?« Susanne wirkte mit einem Mal noch besorgter. Bis jetzt war sie davon ausgegangen, dass sich bis morgen oder spätestens übermorgen alles wieder geregelt haben würde, der Strom zurückkäme und Wasser, Telefon und Fernsehen wieder funktionierten.

      »Was weiß denn ich«, erwiderte Faust und trank sein Bier leer.

      »Aber bestimmt werde ich nicht hier hinter meinem Haus sitzen bleiben und darauf warten, dass sich irgendwer um mich kümmert. So eine Einstellung würde dir übrigens auch ganz gut stehen, mein Sohn«, aber Bubi lächelte nur müde.

      Faust stand auf und zog sein Hemd über. »Komm Bubi, wir fahren.«

      »Nein Vater, ich bleib hier, vielleicht kommt gerade jetzt der Strom wieder!«

      Aber Faust blieb hart. »Nichts da, du kommst mit. Ist schließlich auch für dich oder lebst du ab sofort nur noch von Luft und deinem unerlebten Erfolg als Reporter?«

      17:58 Uhr, Bonndorf

      Faust und Bubi bogen auf den Aldi-Parkplatz in Bonndorf ein. Der weite Platz war leer und die großen Glastüren des Supermarktes, auf denen rote Stoppschilder und blaue Pfeilaufkleber den Einbeziehungsweise Ausgang klar definierten, hatte jemand eingeschlagen. Vorsichtig stiegen sie über die Scherben und gingen in die Halle, die in mystischem Halbdunkel lag. Die Wand an der schmalen Stirnseite, da, wo sich die Eingänge befanden, bestand komplett aus Glas. Die vier Kassen und die Flure, rechts und links von mannshohen Regalen gesäumt, sahen ungewohnt aus, so ganz ohne Neonbeleuchtung, nur auf das angewiesen, was das Tageslicht hergab. Aber hier, nur wenige Schritte vom Fenster, reichte die Helligkeit noch aus, um Details und Kleinigkeiten zu erkennen. Aber mit jedem Schritt, den Faust und sein Sohn langsam in die Halle vorstießen, wurde es schummriger. Die gegenüberliegende Stirnseite verschwand fast völlig im Dunkeln.

      Die

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