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geschehen.

      »Das Blut muss von dem Jungen sein«, erklärte jetzt Bubi. »Er hielt ein totes Kind in den Armen, dem irgendwas den ganzen Nacken aufgerissen hat.«

      Fantastische Bilder!

      Als die Maschine über das Feld schlitterte, saß Assauer angeschnallt und mit seinem Enkel in den Armen in seinem Sessel. Die Verankerung des Sessels brach und katapultierte sie aus dem Loch im Rumpf der Maschine. Sie überschlugen sich sieben oder acht Mal. Schon beim ersten Aufprall schlug Kevins Nacken gegen einen Felsbrocken, den die sich in das Feld fressende Maschine ausgegraben hatte. Kevin war sofort tot. Sein Genick fing die ganze Gewalt des Zusammenstoßes ab und brach. So rettete er seinem Großvater das Leben.

      »Was soll jetzt aus ihm werden?« Hildegund Teufel kam mit ihren klappernden Stöcken heran und betrachtete den Mann. Er tat ihr leid. »Er muss irgendwo hin. Vielleicht ins Krankenhaus nach Stühlingen?«

      Faust schüttelte den Kopf. »Selbst wenn wir die paar Kilometer schaffen, bezweifle ich, dass sich dort jemand um ihn kümmern will. Schließlich fehlt ihm nichts.«

      »Von dem Schock mal abgesehen«, ergänzte Susanne. Provisorisch verband sie die Unterarme des Fremden.

      »Aber hier kann er nicht bleiben.« Berthold Winterhalder kam dazu und blieb mit verschränkten Armen neben Faust stehen.

      »Wieso eigentlich nicht?«, fragte der. »Ihr vermietet doch Fremdenzimmer.«

      Der Wirt nickte. »Das schon. Aber der sieht nicht aus, als ob er ein Zimmer bezahlen kann. Außerdem wird er auch essen und trinken wol len und wer weiß schon, wann alles wieder normal funktioniert. Nein, nein«, er schüttelte den Kopf, »wenn er oder irgendwer sonst für ihn bezahlen kann, von mir aus, aber so?«

      »Lasst nur«, Susanne war mit dem Verband fertig und richtete sich auf, »wir nehmen ihn mit zu uns, nicht war, Lea?« Die Siebenjährige nickte.

      »Oh ja. Er kann in meinem Bett schlafen!«

      »Langsam, langsam!«, fuhr Faust dazwischen. Susanne zuckte zusammen. »Ich habe da sicher auch noch ein Wörtchen mitzureden!«

      »Lass sie doch, Vater«, Bubi hoffte auf noch mehr Fotos, vielleicht ein Interview. »Bis wir jemanden anrufen können, der den Alten abholt, kann er doch bei uns bleiben. Die zwei Tage.«

      Faust sah sich um. War denn keiner hier, der den Abgestürzten mitnehmen wollte? Aber nach der ersten Begeisterung über den Geretteten hatte sich die Menschentraube vor dem Gasthaus zügig aufgelöst. Die wenigen, die noch herumstanden, zerstreuten sich jetzt.

      »Bitte, Onkel Frieder!«, bettelte Lea. »Er hat bestimmt Hunger. Und er ist doch ganz allein.«

      So wie du, dachte Faust und sah sich um. Von Leas Mutter keine Spur.

      Faust musterte Assauer. Fausts Haus war groß genug, der Fremde könnte diese eine Nacht im Gästezimmer schlafen. Spätestens der kommende Tag, wusste Faust, würde Klarheit bringen. Klarheit über das, was hier eigentlich geschah, über die Verantwortlichen und wer für alles geradezustehen hatte. Und den Fremden würde man dann den Rettungskräften übergeben.

      »Also gut.« Lea hüpfte ausgelassen um Assauer herum.

      »Wenn Mama kommt, nehmen wir ihn mit zu uns! Dann darf er in meinem Bett schlafen!«

      »Und wo willst du dich verkriechen, du Zwerg?«, fragte Bubi.

      »Ich schlaf in Papas Bett. Papa kommt erst morgen zurück. Er bringt mir Muscheln mit.«

      »Wo ist dein Papa?«, fragte Martin Kiefer, Evas erster Mann. Er hatte bisher etwas abseits gestanden und sich aufs Zuhören beschränkt.

      »Papa ist in Schweden. Er kauft gaaanz viele Fische. Und für mich Muscheln.«

      Faust nahm Assauers Arm. Ohne Widerstand, ohne eine Regung, ließ der sich zu Fausts Pick-up führen und stieg ein.

      »Was kochst du, Susanne? Ich hab solchen Hunger!«

      Bubi und sein Vater brachten Assauer in die Küche und drückten ihn auf einen Stuhl. Susanne folgte den Männern und sah sich um. War dies hier wirklich ihre Küche?! So wie jetzt hatte die Küche noch nie ausgesehen! Sie hatte gemeinsam mit Lea das Haus kurz nach dem ersten Flugzeugabsturz verlassen und war seitdem nicht wieder hier gewesen. Im Spülbecken stapelte sich noch das Frühstücksgeschirr und vor dem riesigen Kühlschrank hatte sich eine große Wasserlache gebildet. Faust und Bubi hatten den Fremden mitten durch diese Lache geführt und nur zu gern, so schien es, löste das Wasser den Schmutz aus dessen Schuhsohlen.

      Ohne sich weiter um die Menschen in ihrem Haus zu kümmern, packte Susanne einen Lappen, ging auf die Knie und rutschte über den Küchenboden. Die braunen Schuhabdrücke verschwanden und langsam ging es ihr wieder besser. Peinlich, einen Fremden in eine solche Küche zu führen! So etwas war ihr noch nie passiert!

      Am Küchentisch angekommen, zog sie Eckard Assauer die Schuhe aus und trug sie vor das Haus in die Sonne.

      »Machst du mir ein Brot, Onkel Frieder?«, fragte Lea. Sie hatte wie die anderen seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.

      »Ich mach dir gleich etwas«, sagte Susanne als sie zurückkam.

      »Wollt ihr auch etwas?«

      »Lass das mit den Broten«, entgegnete Faust. »Wir haben noch Fleisch im Gefrierschrank im Keller. Das muss jetzt weg, bevor es verdirbt.«

      Susanne ging zum Herd und probierte die einzelnen Schalter aus. An und aus, an und aus, als erinnere sie dieses Ritual an eine bessere Zeit.

      »Ich werf’ den Grill schon mal an«, sagte Faust. Seine Frau nickte und ließ den Herd in Ruhe.

      »Wie heißt der Mann, Susanne? Darf ich Opa zu ihm sagen? Oder Onkel?«

      »Wir wissen nicht, wie er heißt«, antwortete stattdessen Bubi. Er hat te eine Flasche Wasser vor sich und betrachtete stolz die Bilder im klei nen Display seiner Kamera. Er war zum ersten Mal in seinem Leben wirklich stolz auf sich! Heute hatte er etwas vollbracht, etwas wirk lich Einmaliges und Großes! »Er hat weder Papiere noch einen Reisepass bei sich. Wahrscheinlich kann er nicht einmal unsere Sprache.«

      »Ist doch egal, wie der Mann heißt«, sagte Susanne. »Es gibt nun wirklich Wichtigeres.« Sie leerte zwei Flaschen Mineralwasser in das Spülbecken und begann das Geschirr vom Morgen zu reinigen.

      »Wirklich Wichtigeres.«

      »Dann sag ich eben Opa zu ihm«, entschied Lea. Sie setzte sich ihm gegenüber, stützte das Gesicht in beide Hände und betrachtete Assauer.

      »Aber du hast doch schon zwei Opas«, murmelte Bubi. »Wie heißen sie?«

      »Opa Willi und Opa Gerhard. Aber die sind nie da. Und sie erzählen mir auch nie eine Geschichte.«

      Evas Eltern waren vor vier Jahren an den Bodensee gezogen. Altersruhesitz, mein Kindchen. Da ist das Klima um so vieles angenehmer als hier oben in den Bergen. Eva hatte es nicht bedauert.

      »Der sieht aber auch nicht gerade so aus, als ob er dir viele Geschichten erzählen will«, sagte Bubi. Das Bild des weinenden Assauers, mit seinem Enkel im Arm und den Flugzeugtrümmern im Hintergrund, war das Beste. Reif für ein Titelbild.

      Susanne hatte den Abwasch bewältigt und ging auf die Toilette. Während sie dort saß, fiel ihr Blick auf die heutige Zeitung, die ihr Mann nach dem Frühstück immer mit hierher nahm und dann liegen ließ. 23. Mai, las sie. Dieses Datum wird also jetzt für immer mit den Flugzeugkatastrophen in Verbindung stehen. Und mit dem Tag, an dem der Strom ausfiel. »Und das Wasser!«, murmelte sie, als sie spülen wollte.

      »Oder wie wäre es mit Samson?« Lea hielt den Kopf schräg und betrachtete ihr Gegenüber. Dessen Blick ging ins Leere. Lea sprang vom Stuhl und stellte sich vor Assauer, hoffte, dass er sie doch noch wahrnahm und seine Pupillen bewegte. Aber umsonst, er sah durch das Mädchen hindurch als wäre sie ein Geist, ein Schatten am Abend.

      »Ich bitte dich, Lea! Samson!«, rief Susanne aus dem Bad,

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