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Stunden aus?

      Heute, am 23. Mai zum Beispiel.

      Albicker saß auf einem kleinen Schemel und versuchte, ein widerstrebendes Tier von Hand zu melken. Sie hatten Mühlviertler-Rinder, große und kräftige Tiere, robust, braun-weiß, wobei die massigen Köp fe fast immer weiß waren. Auch Lydia Albicker saß neben einem angebundenen Tier. Der Eimer unter dem Euter war zur Hälfte gefüllt, aber noch immer schrie das Tier und trat nach der Bäuerin, denn der Schmerz, den es ertragen musste, verbunden mit dem ungewohnten Melkvorgang von Hand, verwirrten das Tier und machten ihm Angst.

      Lydia war wütend. Wütend auf all die Technik, die nicht funktionierte, wütend auf die widerspenstigen Tiere, vor allem aber wütend auf ihren Mann. Denn er hatte das Aggregat abgelehnt und er war jetzt, nach seinem Schlaganfall im vergangenen Jahr, keine große Hilfe. Sie sah zu ihm hinüber. Da saß er auf seinem Schemel, eine Hand im Schoß, und versuchte mit der gesunden Rechten zu melken. Er sah wie ein gelangweilter Großstädter aus, der, nach dem Motto »Was-machen-wir-heute-Lustiges?«, aufs Land gefahren war um da den Dorftrotteln zu zeigen, wie cool melken sein kann. Und für den, der nichts von seiner geschwächten linken Körperhälfte wusste, sah er wirklich cool und lässig aus.

      Nach der Reha, die sich seinem zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt angeschlossen hatte, war es ihm schwergefallen, auf dem Hof wieder zurechtzukommen. Die Traktoren waren tabu, der Mähdrescher auch, die Mistgabel konnte er nicht mehr halten und als er im April die Koppel der Kälberweide reparieren wollte, musste er einen Bengel aus der Nachbarschaft mitnehmen, der vor Angst zitternd die Pfosten hielt, die Albicker einhändig mit einem Vorschlaghammer in den Boden schlug. Er durfte und konnte nicht mehr Auto fahren, benötigte Lydias Hilfe beim An- und Ausziehen und brauchte eine halbe Ewigkeit, um die schmale Holzstiege, die vom Stall auf den Heuboden führte, zu erklimmen. Lydia hatte ihn am Ärmel gepackt und wieder hinuntergeführt. Sie machte ihm Vorwürfe und appellierte an sein Verantwortungsbewusstsein. So unsicher wie er noch auf den Beinen umherhinkte war ein Sturz, nicht nur die Stiege, sondern auch das große, quadratische Loch hinab, durch welches sie Heu zu den Tieren im Stall warfen, recht naheliegend! Aber Andreas Albicker ließ sich nicht entmutigen. Und so, wie er jeden Tag immer einfach weitergemacht hatte, ein bisschen langsamer und ein wenig unordentlicher vielleicht als Lydia, so hatte er sich vorhin auch einen Eimer geschnappt, war zu den Kühen gehumpelt und hatte ohne viele Worte zu verlieren mit dem Melken begonnen.

      Sie hatten ihren Rinderbestand im Laufe des Winters um ein Drittel reduzieren müssen, denn die Arbeit wurde, nachdem ihre Versicherung die Kosten für einen Helfer nicht mehr weiter übernahm, für Lydia allein zu viel. Eigentlich, überlegte Andreas manchmal, während er seine Frau verstohlen beobachtete, eigentlich war es ein Wunder, dass sie dies alles schaffte, ohne sich aufzulehnen, ohne mit ihrem Schicksal zu hadern oder ihm die Schuld zu geben. Sie machte einfach weiter. Sie erledigte ihre Arbeit, immer eins nach dem andern, jetzt nur etwas hastiger als noch vor einem Jahr und abends etwas länger.

      Im Laufe des Nachmittags waren Helfer aus dem Dorf eingetroffen, mit Eimern und Hockern bewaffnet. Bardo Schwab kam, hauptsächlich, um sich vor dem Bestattungsunternehmen zu drücken, welches Christoph Eisele mittlerweile fast einsatzbereit hatte. Die Krone-Wirtin, Edeltraud Winterhalder, hoffte auf einen Eimer kostenlose Milch. Selbst Hildegund Teufel wagte sich in den Stall, lehnte ihre beiden Stöcke an die Wand und befahl einem der erschrockenen Kinder, die es zu dem ungewohnten Treiben zog, ihr beim Hinsetzen zu helfen.

      Als Frieder Faust und Susanne aufkreuzten, waren elf Menschen beim Melken und das Brüllen der Tiere wurde weniger.

      »Schön, dass du kommst, Frieder«, begrüße ihn Albicker und nahm mit einem Lächeln Fausts angebotenen Arm. Faust zog ihn auf die Beine. »Du hast ja sicher noch bei deinerMutter das Melken gelernt.« Faust nickte. »Wo hast du Bubi gelassen?« Als Kind hatte man Bubi beinahe jeden Tag in Albickers Stall finden können. Mit dem ersten Hahnenschrei stand er damals auf und im Sommer kam es vor, dass er Steinchen an das Schlafzimmerfenster der Bauern warf, weil diese, kurz nach fünf, noch schliefen.

      »Bubi kann nicht (Nein, ich bleib hier! Der Strom kommt bestimmt bald wieder!), aber sollte es morgen früh noch genauso aussehen«, er wies mit dem Kinn auf die tonlose Melkanlage, »dann trag ich ihn dir persönlich in den Stall!« Albicker freute sich. Es tat gut mit Faust zu reden.

      »Willst du ein Bier?«, fragte Albicker, zog zwei Flaschen aus einem Regal und lächelte dazu wie ein Spitzbube. Eine Werkzeugkiste hatte die Flaschen vor Lydias Blick verborgen. Sie hasste es, wenn er etwas trank.

      »Äh, ich bin eigentlich zum Melken gekommen.«

      »Lass nur, es sind genug Helfer hier. Und manchmal«, er ging voran in den Raum in dem die Melkanlage und die beiden Tanks für die Milch standen, »manchmal muss auch Zeit sein für ein paar Worte und ein Bierchen!« Sie prosteten sich zu und tranken.

      »Hast dich gut geschlagen unten in der Krone«, begann Albicker und wischte sich das Kinn ab. Seit seinem Schlaganfall hatte er Probleme, aus einer Flasche zu trinken. Ein paar Tropfen gingen immer da neben. Aber wenigstens funktionierte das Schlucken wieder tadellos.

      Faust nickte. »Blieb mir kaum etwas anderes übrig.«

      »Du warst in Bonndorf? Hat Lea vorhin erzählt, als sie etwas Milch holte. Du weißt ja, wie kleine Mädchen sind, sie plappern und plappern und vergessen die Welt dabei. Wie sieht’s aus in der Stadt?«

      Faust erzählte ihm von den Plünderungen und von der verlassenen Polizeistation.

      »Geht alles ganz schön schnell den Bach runter«, murmelte der Einundsechzigjährige und zog seine speckige Kappe auf dem Kopf zurecht. »Hast du schon mal daran gedacht, Frieder, dass dieser Zustand anhält?«

      Faust zog die Brauen zusammen. »Du meinst, dass Strom und Wasser nicht zurückkommen?«

      Albicker nickte und trank.

      »Jetzt komm, Andreas! Sicher, vielleicht wird es länger dauern als wir glauben, vielleicht vier, fünf Tage. Aber in höchstens einer Woche wird irgendjemand alles schon wieder hingebogen haben!«

      »Und wer soll dieser Irgendjemand sein?«

      »Was weiß denn ich!« Faust wirkte plötzlich gereizt. »Wir haben eine Regierung in Berlin sitzen und in Brüssel hockt auch noch ein Berg Beamter. Die sollen jetzt mal zeigen, was in ihnen steckt. Sollten die Probleme deutschland- oder europaweit bestehen, wird es ja wohl irgendwelche Notfallpläne geben! Und dann die ganzen Energiekonzerne!« Er trank sein Bier leer und gab Albicker die Flasche zurück. »Die wissen bestimmt, wie sie die Kraftwerke wieder zum Laufen bringen!«

      Andreas Albicker wollte etwas erwidern, als Jürgen Mettmüller in den kleinen Raum trat. Die roten Haare und sein käsiger Teint, von unzähligen Sommersprossen belagert, gaben ihm, egal wie ernst die Dinge waren, über die er gerade redete, immer etwas Lausbubenhaftes.

      »Hier versteckt ihr euch!« Er zwinkerte den beiden zu und warf einen vielsagenden Blick auf die leeren Flaschen. »Du entwickelst dich noch zu einem richtigen Kapitalisten, Andreas«, scherzte er. »Im Stall schuftet ein Dutzend Leibeigener für dich und du trinkst in aller Ruhe erst mal ein Bier. So lass ich mir das gefallen.«

      »Die Zeiten haben sich geändert, Jürgen«, ging Albicker auf den Spaß ein. »Hast du nicht gehört, dass ab sofort jeder Dorfbewohner eine Stunde am Tag für mich arbeiten muss?«

      »Das ist nur fair, schließlich hast du als Einziger im Ort noch Kühe und damit Milch und Fleisch.« Mettmüller schien über etwas nachzudenken und wurde ernst. »Habt ihr gehört, was in Bonndorf los ist?«

      Die Männer nickten.

      »Ich war vorhin selbst drüben«, erklärte Faust.

      »Dann hast du ja das Feuer gesehen.«

      »Feuer? Welches Feuer?« Faust schien wie elektrisiert. Seit seinem vierzehnten Geburtstag war er Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und an einem separaten Haken neben der Garderobe bei sich im Flur hingen Tag und Nacht Uniform und Helm.

      »Das Schloss brennt.«

      Das Bonndorfer Schloss, Ende des sechzehnten Jahrhunderts

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