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Hand in Hand nahe beim Ausgang und ließen ihn nicht aus den Augen.

      Lydia Albicker unterbrach ihn. »Aber mal was anderes.« Sie erhob sich und klopfte dabei etwas Stroh aus ihrem Kittel. Sie und ihr Mann waren die Letzten im Ort, die noch eine Vollerwerbslandwirtschaft be trieben. Es war Lydia anzumerken, dass sie ihren Mann nur ungern mit den Tieren allein gelassen hatte und alle wussten, dass der seit einem kleinen Schlaganfall im vergangenen Jahr im Stall keine große Hilfe mehr war. Als ob sein linkes Bein keine Lust mehr hätte, seinem Besitzer in angemessenem Tempo zu folgen, hing es wie ein Bremsklotz an Andreas Albicker und brachte ihn regelmäßig zu Fall.

      »Ich könnte Hilfe im Stall gebrauchen, wenn wir nicht bald wieder Strom haben.« Wie unangenehm es ihr war, hier das Wort zu ergreifen, sah man der Frau deutlich an. Ihre sonst schon roten Wangen glühten und sie sah zu Boden, als sie weitersprach: »Die Melkanlage geht nicht mehr und Andreas und ich, wir schaffen es nicht, vierzig Kühe von Hand zu melken.«

      »Weiß hier noch jemand, wie man Kühe melkt?«, fragte Frieder in die Runde. Wenige, vor allem Ältere, hoben die Hand.

      »Und abgeholt hat heute auch keiner unsere Milch. Also wenn ihr was braucht, könnt ihr ja kommen. Müsst nur einen Eimer oder Flaschen oder so mitbringen.« Schnell setzte sie sich wieder.

      »Stimmt es, dass in Donaueschingen geplündert wird?«

      »Wie sieht es in der Schweiz aus? Haben die noch Strom?« Frieder bat Anne Gehringer und Bardo Schwab, zu berichten. Während Anne von einer ausgeraubten Bank und anderen Plünderungen erzählte, musterte Faust all die vielen Gesichter, von denen er die allermeisten seit seiner Kindheit kannte und in denen jetzt Angst und Sorge standen. Er sah Susanne, Lea hing an ihrer Hand. War Eva noch immer nicht aus Donaueschingen zurück?

      Was Anne und Bardo berichteten, war nicht dazu angetan, die Menschen zu beruhigen oder Hoffnung zu verbreiten. Woanders, so die Quintessenz, sah es bedeutend schlimmer aus. Aber warum sollte es nicht auch hier schlimmer werden?

      »Aber ich habe heute Nachmittag einen Arzttermin in Waldshut.« Georg Sattler, zweiundsiebzig, war seit seiner Jugend Diabetiker und musste sich vor jeder Mahlzeit spritzen. »Mein Insulin ist fast alle.«

      »Vielleicht bekommst du in Bonndorf was«, schlug Mettmüller vor.

      »Ich will nachher sowieso rüberfahren, wenn du willst, kannst du mitkommen.«

      Sattler nickte.

      »Mein Mann ist noch in Freiburg. Weiß jemand, wie die Lage in Freiburg ist und ob die B31 frei ist?«

      Lea hörte nur mit halbem Ohr zu. Kuhstall, Insulin, Freiburg …sie verstand nicht, worüber die Erwachsenen sprachen. Sie wollte nur wissen, wann ihre Mutter endlich wieder bei ihr wäre. Aber keiner konnte dem Kind darauf antworten.

      Wo mochte sie jetzt sein? Ging es ihr gut?

      Lea zog an Susannes Hand. »Ich hab Hunger!«

      »Gleich, Liebes. Wenn wir hier fertig sind, gehen wir heim und ich koche uns etwas. Versprochen!«

      Kochen? Womit? Aber das behielt Susanne für sich.

      14:32 Uhr, Wellendingen, Trümmerfeld Hardt

      Eckard Assauer, Professor für mittelalterliche Geschichte und Freizeitarchäologe, saß, mit dem Rücken an einen Felsblock gelehnt, inmitten blühender Orchideen. In seinen Armen hielt er ein vertrauensvoll lächelndes Kind. Seinen Enkelsohn.

      Assauer summte ein Schlaflied und bewegte sich vor und zurück, ganz vorsichtig, ganz leise. Er wollte Kevin nicht wecken, denn das hier, er warf einen flüchtigen Blick auf die Reste des Flugzeuges, in das sie vor Kurzem noch voller Vertrauen in diese Zivilisation eingestiegen waren, das hier war nichts für die Augen eines Kindes. Nein, Kinder sollten schöne Dinge sehen, vielleicht diese Orchideen, aber nicht all das Leid, das sich wie ein Albtraum ringsum ausbreitete. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war, aber irgendwann, während die Maschine über den Boden schlitterte, waren sie mitsamt ihrem Sessel aus dem Airbus geflogen. Er hatte Kevin auf seinem Schoß gehalten und ihn an sich gedrückt, ihn beschützt.

      Da hinten, auf der anderen Seite der Wiese, kletterte ein Mann zwischen den Trümmern umher. Ein Arzt? Wohl eher ein Reporter, schien es Assauer, denn der Mann fotografierte ununterbrochen. In den Abend nachrichten würden die Absturzbilder um die Welt gehen, morgen früh groß und in Farbe auf jede Frühstückstisch liegen.

      Er strich dem Kind eine Locke aus der Stirn und küsste es auf die Stirn. »Schlafe, mein Prinzchen, schlafe. Psst.« Hin und her, ganz vorsichtig, hin und her.

      Die warme Maisonne stand hoch. Sie schien dem alten Professor auf die mageren Schultern und das schlohweiße Haar. Hände und Unterarme schmerzten, aber sonst war er offensichtlich in Ordnung. Kurz nach dem Absturz hatten sich seine Hände warm und feucht angefühlt, aber das war vergangen. Jetzt spannten seine Hände, als ob er eine zweite, zu enge Haut wie einen Handschuh übergestreift hätte. Aber er wagte es nicht, seine Hände zu betrachten, dazu hätte er Kevin loslassen müssen und um nichts in der Welt wollte er dies. Und sie waren ihm egal, diese alten Hände. In einiger Entfernung, an einem Abhang vielleicht, ragte der Airbus, oder besser das, was von ihm übrig geblieben war, steil in die Luft. Aber genau war das aus dieser Entfernung für seine alten Augen nicht auszumachen. Er musste lächeln, denn der nackte, ausgebrannte Rumpf erhob sich aus dem Gras wie ein überdimensioniertes Phallussymbol. Wenn Sybilla das sehen könnte.

      Dem Siebzigjährigen war bewusst, dass seine Tochter den Absturz kaum überlebt haben konnte. Kurz nachdem die Tragfläche abgerissen und einen großen Teil der Außenwand genau an der Stelle, an der ihr Sessel stand, mit sich genommen hatte, war sie verschwunden. Und nichts deutete darauf hin, dass Überlebende gefunden wurden. Die vie len Menschen, woher immer sie auch kamen, waren, nachdem sie zwei Stunden zwischen den Trümmern herumgestochert hatten, wieder verschwunden. Nur vier oder fünf irrten noch zwischen den Wrackteilen und Leichen und Gepäckstücken umher, verloren, wie orientierungslose Ameisen über unbekanntem Waldboden. Nur der Fotograf schien so etwas wie ein Ziel zu besitzen.

      »Schlaf, Kevin. Schlaf, mein Kleiner. Auch wenn Mama weg ist − ich beschütze dich.« Vor und zurück, ganz leise. »Weißt du noch, wie wir letzten Sommer dein Fahrrad repariert haben?« Assauer drückte den Zehnjährigen an seine Brust. »Du warst so wild und hattest nichts anderes als Downhillbikes und Jumpen und irgendwelche Parcours aus schmalen Brettern im Kopf. Und wenn Mama dir erklärte, dass dein Fahrrad kein Downhillbike und auch kein Mountainbike ist und dass es kein Wunder sei, dass dein Fahrrad fast jeden Tag irgendwelche Blessuren habe, hast du brav zugehört und dabei richtig verständ nisvoll ausgesehen.« Assauer lächelte und eine Träne verfing sich in seinem Bart. »Aber Opa war ja da, nicht wahr? Opa kann das reparieren!, hast du immer gesagt und bist mit deinem quietschenden Drahtesel zu mir gekommen. Oh, wie hat Mama geschimpft, als wir von deinem neuen Fahrrad beide Schutzbleche und den Gepäckträger abmontiert haben! Uncool, war dein Ausdruck, stimmts? Gepäckträger sind uncool und was für Mädchen! Recht hattest du, an meinem Fahrrad besaß ich als Kind auch nie einen Gepäckträger.«

      Ein Taubenschwänzchen umkreiste die Pieta aus Großvater und Enkel. Hektisch tanzte das Insekt hin und her, um schließlich einen langen Rüssel in reife Blüten zu stecken und dabei wie ein Kolibri in der Luft stehen zu bleiben.

      »Sieh Kevin, ein Taubenschwänzchen!«

      Aber Kevin blieb still.

      »Pst. Schlaf. Entschuldige. Schlaf nur, ich bin bei dir.«

      Assauer beugte sich über das Kind und küsste es. Vom langen Sitzen und vom Gewicht des Enkels, der auf seinen angezogenen Knien lag, schmerzten seine alten Gelenke. Die Beine kribbelten und waren kaum noch zu spüren.

      »Die Sonne tut uns gut. Sie ist so warm und so rein als würde es uns gar nicht geben. Wenn du groß bist Kevin, und ich schon lang irgendwo dem Gras von unten beim Wachsen zusehe, kannst du zum Mond fliegen, so wie du es dir immer gewünscht hast. Oder vielleicht zum Mars, wer weiß das schon.«

      Der Fotograf kam näher. Assauer wollte nicht, dass ihn jemand so ablichtete und beugte sich noch weiter über den

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