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Wogen des Schwarzwaldes dahinter. Frieder Faust erkannte sein Haus. Es lag an einer kleinen Seitenstraße, nur wenig oberhalb des Ortskerns. Hier war er aufgewachsen, dort, wo früher die Ärmeren und Zugezogenen lebten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kamen selbst hierher, in den äußersten Südwesten Deutschlands, Flüchtlinge aus dem Osten und ein paar von ihnen waren in dieser Straße hängen geblieben. Eine Frau mit vier Kindern kam aus Ostpreußen, ihr Mann folgte erst acht Jahre später aus russischer Kriegsgefangenschaft und einer schier endlosen Odyssee quer durch ganz Deutschland. Er hatte seine Familie wiedergefunden, aber sie fanden nie wieder zueinander. Für die Kinder blieb er ein Fremder und für seine Frau nur noch der Schatten einer längst vergangenen glücklicheren Zeit. Er nahm sich zwei Jahre später das Leben. Der Mann war Frieder Fausts Großvater.

      Drei der vier Kinder verließen Wellendingen, nur Frieder Fausts Vater, der Älteste, blieb. Eine kleine Witwenrente und acht Kühe ernährten ihn und seine Mutter. Als Fausts Eltern heirateten und seine Mutter rasch nacheinander drei Kinder gebar, reichte, was die kleine Landwirtschaft abwarf, vorn und hinten nicht mehr. Frieder, jüngster Spross, musste die abgetragenen Kleider seiner Schwestern tragen, nach der Schule mit im Stall helfen und während der Erntezeit blieb er dem Unterricht ganz fern. Für Freundschaften blieb wenig Zeit und an den spärlich gesäten Tagen, die er zur freien Verfügung hatte, war er der Prügelknabe der anderen. Selbst heute, mit Ende vierzig, hört er noch das hämische Lachen.

      »Frieder heißt er und in die Hosen scheißt er!«

      »Aber ich mach doch gar nicht in die Hosen!«

      »Die sehen aber so aus.« Und lachend und grölend waren sie durchs Dorf gezogen und hatten sich über ihn lustig gemacht. So hatte er gelernt, dass er allein war. Und er hatte gelernt, dass er den anderen nur dann etwas bedeuten konnte, wenn er mehr hatte als sie, wenn er es zu etwas brachte. Er schaffte mit Mühe die Hauptschule und ging im nahen Bonndorf in die Zimmermannslehre. Hier lernte er Hände und, welch überraschende Erfahrung, seinen Kopf zu gebrauchen. Er liebte es bald, seinen Händen bei der Arbeit zuzusehen und er liebte den Anblick eines fertigen Hauses, von einem Dachstuhl aus seinen Händen gekrönt.

      Nach seiner Gesellenzeit wollte er den Ort verlassen, der für ihn zum Synonym für Armut, Demütigungen und sadistische Kinderstreiche geworden war. Aber irgendwie hatten ihn die Angst vor der Welt da draußen und der Wunsch, seinen Feinden aus Kindertagen zu beweisen, wozu er fähig sein könnte, in Wellendingen gehalten. Und so riss er nach dem Tod seiner Eltern den alten heruntergekommenen Hof ab und ersetzte ihn durch einen protzigen Neubau. Seitdem haben die Spötteleien aufgehört und so etwas wie Achtung meinte er in den Stimmen der anderen zu hören, wenn sie mit ihm über das Wetter oder die letzte Feuerwehrübung sprachen. So, wie er es sich jahrelang erträumte, hatte das Dorf den kleinen Verlierer in hastig abgenähten Mädchenkleidern vergessen. Ebenso den begriffsstutzigen Jungen, der er einmal war und der stets nach Kuhstall roch. Vergessen.

      Aber er hatte nichts vergessen.

      Frieder war jetzt geachtet. Die Menschen blieben vor seinem Haus stehen und mehr und mehr wurde er bei neuen Bauvorhaben im Ort und der Umgebung zu Rate gezogen oder auch gleich mit dem Projekt beauftragt. Frieder Faust war jetzt ein angesehener Mann.

      Hände und Gesichter der Männer waren schwarz und glänzten von Ruß und Schweiß. Sie hatten jetzt über drei Stunden nach Überlebenden gesucht, aber bis auf eine grässlich verstümmelte Frau, in der bereits kaum noch Leben war, als Bubi sie fand und um Hilfe rief, nichts gefunden. Es war ein Wunder, dass die Frau überhaupt noch atmete.

      »Meinst du, wir hätten ihr helfen können, wenn Bubi sie ein, zwei Stunden früher entdeckt hätte?« Mettmüller, dem der steile Sinkflug des Airbusses am Morgen als Erstem aufgefallen war, blinzelte in die Sonne. Er wirkte müde und die kurzen, roten Haare des Dreißigjährigen klebten nassgeschwitzt am Kopf.

      Faust hob unwissend die Hände. »Keine Ahnung. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Jetzt ist es eh zu spät. Und wer hätte ihr helfen sollen?« Gewohnheitsmäßig kramte er den Flachmann hervor und setzte an. Aber die Flasche war leer.

      »Habt ihr eine Idee, was hier eigentlich los ist?« Mettmüller sah zu Faust und zu Nussberger, der an seiner Zigarre zog. »Sollten wir nicht jemanden nach Bonndorf schicken? Vielleicht wissen die im Rathaus etwas oder haben wenigstens noch ein funktionierendes Telefon?«

      Faust schüttelte den Kopf und zeigte auf eine kleine Menschengruppe, die in zwanzig Metern Entfernung miteinander diskutierte.

      »Da ist einer vom Rathaus dabei. Der dort«, er streckte den Arm aus, »der gerade so wild mit den Armen rumfuchtelt. Hab vorhin mit ihm gesprochen. Alles wie bei uns.«

      »Und was jetzt?«

      »Das ist die Frage: was jetzt? Wenn das einer weiß, ist ihm wahrscheinlich ein Nobelpreis sicher! Oder zwei.«

      »Genau«, meldete sich Nussberger, aber nur, um sofort wieder in rauchendes Schweigen zu verfallen.

      »Vielleicht, wenn wir wüssten, wie es anderswo aussieht, ob nur wir hier betroffen sind oder das ganze Land oder Europa …«

      »… oder die ganze Welt …« Faust zog die Augenbrauen in die Höhe. »Daran möchte ich lieber nicht denken! Stellt euch vor, das Ganze hier ist keine lokale Geschichte, sondern geschieht weltweit, malt euch mal aus, was dann auf uns wartet!« Er schüttelte den Kopf und erhob sich.

      »Was sollen wir dann deiner Meinung nach jetzt tun?« Mettmüller sah zu Faust auf. War das die entscheidende Frage? Faust wusste es nicht, wusste keine Antwort. Keiner wusste eine Antwort, egal auf welche Frage. Abwarten? Auf Hilfe hoffen? Die Ursache finden? Und dann?

      »Ich denke, ob wir nun vom Schlimmsten ausgehen oder ob wir das Beste herbeiwünschen ist egal. Wichtig wäre, dass wir uns zusammensetzen, wir hier im Dorf. Außerdem könnte ich was zu trinken vertragen, ich bin völlig ausgetrocknet. Treffen wir uns in der Krone.«

      Nussberger nickte, denn in der Krone, dem alten Gasthaus in der Ortsmitte, würde er eine Schachtel Zigarren bekommen.

      »Meint ihr nicht, dass es dafür noch ein bisschen zu früh ist?« Bardo Schwab war, von den dreien unbemerkt, dazu gekommen.

      »Bardo? Was machst du hier? Solltest du nicht an deiner Werkbank stehen?«

      Bardo nickte.

      »Hab es ja versucht, aber in Koblenz sieht es genau so aus wie hier.«

      Er betrachtet das Trümmerfeld und schüttelte den Kopf.

      Bardo, Enddreißiger und eigentlich Tischler, hatte vor Jahren den kleinen Betrieb, den ihm sein Vater hinterlassen hatte, gründlich ruiniert. Die Tischlerei wird dich immer ernähren, hatte ihm sein Vater oft genug gepredigt und damit nicht recht behalten. Zwar konnte Bardo arbeiten wie kaum ein Zweiter, sobald aber Papiere, Rechnungen und Termine mit ins Spiel kamen, setzte es bei ihm aus. Und so fand der Gerichtsvollzieher, als er eines Tages den Betrieb pfändete, neben einer wunderschönen Eckbank, an der Bardo gerade arbeitete, auch einen Abstellraum, in dem sich Rechnungen und Mahnungen in buntem Durcheinander mit Werbeprospekten und alten Tageszeitungen türmten. Seitdem hatte er einen Job in der Schweiz, in Koblenz, wo er in einer Industrietischlerei im Akkord bestimmte Einzelteile eines unbekannten Großen anfertigte. Er verdiente gut dabei und sein Schuldenberg wurde jeden Monat ein wenig kleiner.

      »Punkt sieben standen plötzlich alle Maschinen still und die Lichter gingen aus. Als dann noch ein Flugzeug Richtung Zürich herunterkam, habe ich gemacht, dass ich wegkomme!«

      »Also ist es überall das Gleiche.«

      Bardo nickte. »Ich hatte Mühe, überhaupt noch zurückzukommen. Das mit den Flugzeugen scheint die Leute völlig aus der Bahn geworfen zu haben.«

      »Na«, unterbrach ihn Faust, »unser Stromausfall, die toten Telefone und, nicht zu vergessen, die trockenen Wasserhähne, sind ja auch nicht schlecht, oder?« Faust versuchte zu lächeln, aber es wurde eher ein hilfloses Grinsen. Trotzdem verstanden die anderen.

      »Wie sieht es auf den Straßen aus?«, wollte Mettmüller wissen. »Anne«, er zeigte zu einer Frau in der Gruppe der Diskutierenden

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