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ist mit den Leuten, die schon draußen sind? Funktionieren die Handys inzwischen wieder?«

      Die Sekretärin, Fräulein Meyer, hatte den Kopf geschüttelt.

      »Sie bleiben hier im Revier, Storm, und teilen die, die zurückkommen, neu ein. Außerdem will ich«, er hatte sich den Innendienstmitarbeitern zugewandt, »dass Sie sich zum Rathaus, zur Feuerwehr, ins Krankenhaus und zum Bahnhof aufmachen. Wenn jemand etwas über dieses Chaos heute Morgen rausbekommt oder irgendwo Hilfe benötigt wird: herkommen! Fräulein Meyer, Sie setzen sich in Ihren Wagen und klappern alle Kollegen ab, die heute frei haben. Auch die, die erst zur Spät- oder Nachtschicht erscheinen müssten. Jeder, der nicht gerade tot im Bett liegt, soll sofort hier aufkreuzen. Verstanden?«

      Die Sekretärin hatte genickt und wollte sich schon auf den Weg machen.

      »Vergessen Sie Ihre Adressliste nicht oder wissen Sie aus dem Kopf, wo jeder wohnt?«

      »Was ist mit Streife?« Kommissar Storm hatte die Anweisungen seines Chefs auf einem Zettel notiert und sah ihn dann fragend an.

      »Sollten wir nicht wenigstens eine Streife rausschicken, die die Geschäfte der Innenstadt und die Banken kontrolliert?«

      »Sehr gut, Storm. Aber ihr fahrt heute zu viert. Zwei Leute sind zu wenig, wenn man nicht in der Lage ist, Unterstützung zu rufen.«

      So hatte jeder eine Aufgabe erhalten und machte sich mit dem Gefühl auf den Weg, noch immer Herr der Lage zu sein oder wenigstens bald wieder werden zu können.

      Hauptmeister Joachim Beck wurde zusammen mit Sarah di Sario, Werner Meinhoff und Christian Wegmann zur Streife eingeteilt. Als sie den Hof des Reviers verlassen hatten, war es bereits kurz vor neun gewesen und die meisten Hauptausfallstraßen der Stadt schon heillos verstopft. Richtung Innenstadt ging es ebenfalls nur langsam voran. Menschen standen in kleineren und größeren Gruppen zusammen. In haber größerer Geschäfte oder solcher mit besonders wertvollen Auslagen hatte die Sorge um ihren Besitz schon früh in die nun ungesicherten Läden getrieben. Nach und nach waren Mitarbeiter und Passanten eingetroffen, aber keiner wusste das Warum der Katastrophe, keiner, wie es weitergehen sollte.

      Der Streifenwagen wurde schon von der ersten Menschengruppe angehalten, auf die er traf. Es waren Anwohner und zwei, drei Ladenbesitzer. Beim Anblick der Uniformierten schöpften sie Hoffnung. Als ihnen aber klar wurde, dass die Gesetzeshüter genauso unwissend waren wie sie selbst, schlug die erwartungsvolle Freundlichkeit schnell in Zorn um, der sich in Beschimpfungen entlud: »Was fahrt ihr denn hier spazieren, wenn ihr von nichts Ahnung habt? Kümmert euch lieber um die Stromversorgung und die Telefone! Oder seht zu, dass die Straßen wieder frei werden, man kommt ja kaum noch irgendwohin!«

      Beck und seine Kollegen fuhren weiter. Aber schon nach der nächsten Straßenbiegung wiederholte sich das Spiel. Sie wurden angehalten, zuckten bedauernd die Schultern und mussten erneut als Blitzableiter für die Angst und Wut der Menschen herhalten.

      In Sichtweite wartete bereits die nächste Gruppe und aus einem der drei- und vierstöckigen Häuser, die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts errichtet worden waren und die Straßen der Innenstadt nahtlos säumten, hatte ihnen eine alte Frau zugewunken. »Hilfe!«, schrie sie. »Ich bin überfallen worden!« und dabei wedelte sie mit beiden Armen aus einem Fenster unterm Dach und lehnte sich weit vor.

      »Wenn die so weitermacht, flattert sie gleich los«, hatte Meinhoff leise gespottet. Dann, lauter und gut hörbar, hatte er der verständnislos blickenden Frau erklärt, dass sie einen anderen Auftrag hätten, dass aber, sobald alles wieder funktionieren würde, jemand vom Revier vorbeikäme.

      Verfolgt von den Hilferufen und den Verwünschungen der alten Frau waren sie weitergefahren und vor der Filiale der Deutschen Bank ausgestiegen. Vor dem Haupteingang hatten sich gut zwei Dutzend Männer und Frauen versammelt, die vergebens versuchten, eingelassen zu werden. Hinter einer abgeschlossenen Glastür standen zwei Män ner im Anzug und hatten nur mit dem Kopf geschüttelt.

      »Die lassen uns nicht rein!«, schimpfte ein älterer Herr und drohte mit seiner knorrigen Faust Richtung Eingang. »Nicht mal an den Geld automaten lassen die uns ran.«

      Obermeister Werner Meinhoff, Leiter der Streife, hatte an die Glastür geklopft, während Beck, di Sario und Wegmann die Leute vorsichtig von der Tür abgedrängt und dabei beruhigend auf sie eingeredet hatten. So hatten sie es im Deeskalationsseminar gelernt. Mein hoff war inzwischen von den beiden Bankern eingelassen worden.

      »Wir können die Bank nicht öffnen«, erklärten die Männer. »Abgesehen davon, dass wir ganz allein hier sind, können wir keinerlei Buchungen vornehmen. Die Computer streiken und wir haben keine Möglichkeit, den Saldo irgendeines Kontos abzufragen. Woher sollen wir wissen, ob die Leute überhaupt was abzuheben haben?«

      »Davon ganz abgesehen kommen wir an keinen einzigen Euro ran. Im Kellertresorn liegt zwar reichlich Bargeld, aber die elektronischen Schlösser blockieren die Verriegelung. Ohne Strom und funktionierenden Computer können wir hier gar nichts unternehmen, selbst wenn wir wollten.«

      Den Polizisten leuchteten die Argumente der Banker ein, nicht aber den Passanten auf der Straße. Den vielen Älteren unter ihnen, die während des Zweiten Weltkrieges und in den Hungerjahren danach aufgewachsen waren, steckte diese Kindheitserfahrung zu tief in den Knochen. Sie konnten nicht einfach nur dastehen und ruhig und im Vertrauen auf das Funktionieren der gewohnten Ordnung die weitere Entwicklung abwarten. Ihre erste Intuition war, das Eigentum zu sichern und die Vorräte zu kontrollieren. In einem Land, in dem alles zu jeder Zeit käuflich erwerbbar war, beschränkten sich die Vorräte zu Hause im Allgemeinen auf den Bedarf der kommenden zwei, drei Tage.

      »Ich habe fünfunddreißigtausend Euro auf dieser Bank liegen und jetzt«, eine Frau kramte ihren Geldbeutel aus der Handtasche und hielt den Polizisten die fast leeren Fächer unter die Nasen, »jetzt habe ich nicht mal Geld, um ein Brot und Butter zu kaufen, so lange es noch etwas gibt.«

      Vor der Volksbank war das Problem das gleiche, ebenso bei der kleinen Innenstadtfiliale der Sparkasse. Hier allerdings war die Lage beim Eintreffen der vier Beamten ein klein wenig anders. Eine Menschentraube von vielleicht vierzig Personen drängte gegen den Eingang, der im Gegensatz zu den anderen Banken weit offen stand. Als am Morgen der Strom ausgefallen war, hatten sich zwei Angestellte der Filiale im Tresorraum befunden. Eine der Frauen wollte, als das Licht ausging und ein leises Zischen der offen stehenden Tür das automatische Schließen ankündigte, schnell noch den Tresor verlassen. Sie war im Dunkeln Richtung Tür gerannt und hätte es fast geschafft, als sie über die Geldkassette stolperte, die sie selbst vor wenigen Minuten, zum Abtransport bereit, vor die Tür gestellt hatte. Sie rutschte über den glatten Steinboden wie eine gefallene Eiskunstläuferin und blieb genau im Türrahmen liegen. Ein leises Zischen der sich schließenden Tür, dann wurde ihr Brustkorb eingeklemmt. Das Knacken der brechenden Rippen ging in den gellenden Schreien der Frau unter, die von den eisernen kalten Wänden des Tresorraumes zurückgeworfen wurden. Sie schrie hoch und unvorstellbar laut, schrie in Todesangst und von niemals erwarteten Schmerzen gepeinigt. Rippen durch spießten die Lungen, die Tür drückte weiter. Die Schreie wurden schwächer, dann löste sie verzweifeltes Japsen ab.

      Ihre Kollegin hatte noch versucht, die Frau zu retten. Sie stemmte sich gegen die Stahltür, aber umsonst – die am Boden Liegende wurde langsam zerquetscht, so aber auch das völlige Schließen des schweren stählernen Monstrums verhindert. Die Blutungen in ihrem Brustkorb und die unvorstellbaren Schmerzen ließen sie nach wenigen Minuten bewusstlos werden. Zwanzig nach sieben, in dem Moment, als der Leiter dieser kleinen Filiale das Gebäude betrat, war sie tot.

      Der Filialleiter, vom verzweifelten Rufen der eingeschlossenen Mitarbeiterin in den Keller gelockt, mühte sich einige Minuten vergeblich, die Tür zu öffnen. Außer Atem und mit Schweißperlen auf der Stirn versuchte er telefonisch, Hilfe zu rufen. Schließlich wusste er sich nicht anders zu helfen, als die Kunden, die bereits vor der Bank warteten und an die Glastüren klopften, um Hilfe zu bitten. Er erwartete zwar noch einen weiteren Mitarbeiter, war sich aber sicher, dass sie ge meinsam immer noch zu schwach wären, die schwere Tür zu öffnen und die Frauen zu befreien. Was der Filialleiter nicht wusste war, dass sein verspäteter Mitarbeiter

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