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in der Lage gewesen, innerhalb weniger Stunden dieses Bild vollkommener Anarchie zu malen. Die vom Himmel stürzenden Maschinen aber, die hautnah erlebten Katastrophen, bei denen Hunderte Menschen in gleißenden Feuerbällen verbrannten, das Gefühl der Ohnmacht beim Versuch, Hilfe zu rufen oder selbst zu leisten, all das führte selbst unverbesserlichen Optimisten und obrigkeitstreuen Befehlsempfängern (im Normalfall die Letzten, die ein Desaster zugaben) vor Augen, um was es sich handelte: um eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes!

      Polizeihauptmeister Joachim Beck stolperte kurz nach halb elf mit gebrochener Nase ins Polizeirevier der Stadt. Sein Atem ging laut und rasselte wie eine zum Angriff bereite Klapperschlange. Er verriegelte die Tür, lehnte sich mit dem trügerischen Gefühl der Sicherheit gegen sie und schloss endlich die Augen. Becks Nase saß, im Gegenteil zu heute morgen, als alles noch seine anatomische Richtigkeit hatte, etwas schief im Gesicht des Achtundzwanzigjährigen. Und sie nahm langsam die Form einer blutigen Kartoffel an. Das rechte Auge war rot unterlaufen und halb zugeschwollen.

      Joachim Becks Motivation, in den Polizeidienst einzutreten, war profaner Art, familiärer Natur kann man sagen. Als jüngstes von drei Kindern war er für seinen älteren Bruder kaum existent. Elf Jahre lagen zwischen ihnen und das einzige gemeinsame Spiel, an das Beck sich noch erinnern konnte, war »Cowboy und Indianer«. Natürlich waren sein Bruder und dessen Freunde die siegreichen Eroberer. Ihm steckten sie ein paar Hühnerfedern ins Haar, malten mit Schlamm braune Streifen auf seine Wangen, banden ihm die Hände auf den Rücken und zerrten ihn nackt bis auf die Windeln, die er damals noch immer trug, zu einem Kirschbaum. Hier sollte der kleine Wilde hängen. Noch heute spürte er das derbe Seil, das sie ihm um den Hals legten und hätte ihn damals jemand gefragt, er hätte Stein und Bein geschworen, dass es das schon wieder war mit dem Leben. Aber sie hatten ihn nicht aufgeknüpft, nur gemeinsam über seine randvolle Windel gelacht.

      Ganz anders Manuela, seine Schwester. Vor ihr hatte er Angst und sie war der eigentliche Grund für Becks Polizistenkarriere. Manuela war bei seiner Geburt acht Jahre alt gewesen. Der kleine Bruder kam einem Mädchen, welchem die abgeliebten Babypuppen bereits zu kindisch und ein eigenes Baby noch versagt waren, wie gerufen. Manuela nahm ihn mit der Selbstverständlichkeit einer Frühreifen in Besitz. Er hatte ihre Mutterinstinkte geweckt und fortan kaum mehr Gelegenheit, diesen zu entkommen. Sie schob ihn spazieren und präsentierte ihn stolz ihren Freundinnen. Jede durfte ihn anfassen und später auch seine Windeln wechseln. Manuela degradierte ihren kleinen Bruder zu einem Spielzeug; einem besonderen Spielzeug, einem lebenden Spielzeug.

      Mit dreizehn, vierzehn begann sie sich langsam zu verformen. Sie bekam Brüste, groß wie Melonen, und ihre Hüften wurden breit und immer breiter. Es war, als habe sich der Körper des Mädchens den Vorgaben ihres Charakters entsprechend verändert und zu einer mütterlichen Glucke wie ihr gehörten die Rundungen einer reifen Matrone. Sie klemmte sich den kleinen Bruder zwischen die wogenden Brüste und liebkoste ihn ohne Rücksicht auf die drohende Erstickung. Mit sechzehn war er immer noch ihr Baby, ihr Kleiner, ihr Süßer. Tatsächlich war sie fast einen halben Kopf größer als er – keine Kunst, wenn man selbst nicht einmal einssiebzig misst.

      Joachim Beck bewarb sich gegen den Willen seiner großen Schwester zum Polizeidienst. In seinen Augen war dies der einzige Weg, sich von ihr zu lösen, sie von sich zu lösen. Weder Recht noch Ordnung, weder Demokratie oder Waffen oder, wie viele seiner Kameraden damals vermuteten, Autoritätsgier waren maßgebend. Der einzige Grund war Manuela, seine viel zu große Schwester.

      Heute hörte er nur noch selten von ihr. Sie hatte, nachdem er das Elternhaus endgültig verlassen hatte, geheiratet und schnell hintereinander drei Kinder in ihre Welt gesetzt. Diese durften jetzt ihre Mütterlichkeit genießen.

      Bei seinen Kollegen war er angesehen. Die anfänglichen Witze über den abgebrochenen Riesen mit dem dünnen Bärtchen, der wie ein halb fertiger Rahmen den Mund einschloss, waren verstummt. Alle akzeptierten ihn. Er hatte sich freigeschwommen.

      Von der Straße her drangen wütende Rufe in das Gebäude.

      »Mein Gott, was ist mit dir passiert? Wo sind di Sario, Wegmann und Meinhoff?« Kommissar Storm, durchtrainierter Endvierziger mit kahlgeschorenem Schädel, betrachtete entsetzt das Gesicht seines Untergebenen. Sein Blick wanderte über die zerrissene Uniform zu den Füßen Becks, an denen ein Schuh fehlte. Die Mütze des Polizisten konnte er ebenfalls nicht entdecken.

      »Wo ist deine Waffe?« Das dunkelbraune Lederhalfter unter Becks linker Achsel war leer. Beck schüttelte stumm den Kopf, was er aber sofort bereute. Er erstarrte mitten in der Bewegung, hoffte, so die durch seinen Schädel polternden Schmerzen zu beruhigen.

      »Haben wir noch irgendwo Eis?«, fragte er zurück und zeigte auf seinen Kopf.

      Storm, Kommissar und an diesem Vormittag Dienstgruppenleiter des Donaueschinger Reviers, brachte aus dem kleinen Kühlschrank im Aufenthaltsraum eine letzte Handvoll schmelzender Eiswürfel, eingewickelt in einen Plastikbeutel. In der Pfütze vor dem Kühlschrank rutschte er aus und konnte seinen Sturz nur dadurch verhindern, dass er sich an einem Regal festhielt, das daraufhin bedrohlich schwankte, sich neugierig nach vorn beugte, es sich letztendlich dann aber doch anders überlegte und in seine alte Position zurückkehrte. Dabei schüttelte es die alte Kaffeemaschine ab, deren Kanne zerplatzte wie ein überreifer Pickel.

      »Mist!«, fluchte der Kommissar.

      In diesem Moment, Beck lehnte weiter mit dem Rücken an der Tür und streckte gerade die Hand nach dem Eisbeutel aus, den ihm der Revierleiter entgegenhielt, zerbarst eine der vergitterten Fensterscheiben. Scherben tanzten über den Boden und reflektierten das Sonnenlicht. Ein faustgroßer quadratischer Pflasterstein rollte aus und blieb in der Mitte des Raumes liegen. Fast im selben Augenblick wurde ge gen die Tür des Reviers gehämmert und getreten. Die Tür zitterte und bebte und Beck sprang von ihr weg, als habe er sich den Rücken verbrannt.

      »Ist hinten alles zu?« Beck meinte den zweiten Eingang ins Gebäu de, eine Doppeltür, die vom Hinterhof, auf dem die meisten hier ihre Autos und Fahrräder abstellten, durch einen schmalen Flur mit dem Revier verbunden war.

      Storm drehte sich ohne eine Antwort zu geben um und rannte zum Hintereingang. Als er den kühlen Flur betrat, der zum Hintereingang führte, sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Durch die seltsamerweise weit offen stehende Tür zum Hinterhof fielen Sonnenstrahlen. Staub tanzte in dem aufgefächerten Lichtkegel und am Boden lag eine Eisenstange. Storms Hand ging automatisch zum Halfter. Er versuchte zu erkennen, was die Bewegung verursacht hatte und wich einen Schritt zurück, aber die kühle Hauswand hielt ihn auf. Aus dem Dunkeln traf ein Faustschlag den Kommissar präzise am Kinn. Storms Kopf knallte mit einem hohlen Geräusch gegen die Wand. Augenblicklich wurde es dunkel um ihn, seine Knie gaben nach und langsam rutschte er auf den kalten Boden. Sein Hinterkopf hinterließ eine dünne Blutspur.

      Drei Stunden vorher

      Nach dem konzertierten Strom-, Telefon- und Computerausfall hatte Revierleiter Frederik Salm, seines Zeichens Erster Polizeihauptkommissar, seine Mitarbeiter am Morgen zusammengerufen. Als Erstes hatte er seine Sekretärin angebrüllt, die wohl einen Tick zu lange gebraucht hatte, die Unterlagen herauszusuchen, welche Anweisungen für Stromausfallsituationen gaben. Den gewichtigen Aktenordner mit den Instruktionen hatte er ihr aus der Hand gerissen und vor sich auf den Tisch geknallt.

      Insgesamt arbeiteten achtundfünfzig Polizisten in fünf Schichten im Streifendienst. Von den zwölf Frauen und Männern, die an diesem Morgen Dienst taten, befanden sich noch acht im Revier, der Rest war bereits auf Streife, bei Verkehrskontrollen und einem Einsatz in Hüfingen, wo kurz vor sieben die Haushälterin des Pfarrers die Ordnungs hüter angerufen hatte, da die Kirche nun schon zum dritten Mal in diesem Frühjahr mit riesigen Graffiti verunstaltet worden war. Die acht Polizisten, fünf Schreibkräfte und vier weitere Innendienstmitarbeiter waren dem unüberhörbaren Ruf ihres cholerischen Chefs gefolgt und hatten sich im Besprechungsraum versammelt. Mit hochrotem Kopf hatte der übergewichtige und permanent schwitzende Salm in den Unterlagen gewühlt und schließlich eine seitenlange Anweisung hervorgekramt, die die Verkehrslenkung als oberste Priorität in solchen Fällen vorschrieb.

      »Storm«, hatte er den Dienstgruppenleiter angefahren und dabei, wie immer, wenn er unter

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