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vor Angst und versuchst einfach wegzukrabbeln, was? Statt, dass du kämpfst wie ein richtiger Mann!« Ritter verlagerte einen weiteren Teil seiner einhundertvierzehn Kilo in den rechten Fuß und drückte Becks Kehle weiter zu. Beck spürte den Knorpel seines Kehlkopfes knirschen. Er riss den Mund weit auf, aber das, was an Luft noch die zusammengepresste Luftröhre passieren konnte und seine Lungen erreichte, konnte bei Weitem nicht den Bedarf des Mannes decken. Mit seiner Atemnot steigerte sich seine Angst und die Angst wiederum ließ ihn noch schneller hecheln. Ritter fand Vergnügen an diesem Spiel und lockerte kurz den Druck in seinem Fuß. Wie ein altersschwacher Asthmatiker sog Beck die Luft tief in die Lungen ein, aber schon schnürte Ritters Schuh seinen Hals erneut zu. Voller Panik tasteten die Hände des Polizisten über den Boden. Einen Stein, dachte er, Gott, gib mir einen Stein! Stattdessen berührten seine Finger eine der vielen Glasscherben. Er lag halb mit dem Gesäß auf ihr, vor Ritters Blick verborgen.

      »So, kleiner Bullenpisser, langsam Zeit, Lebwohl zu sagen, he? Bin mal gespannt, ob du schreien kannst, wenn es zu Ende geht. Kannst du schreien Bulle, he, kannst du?« Ritter beugte sich eine Kleinigkeit zu seinem Opfer hinab und verstärkte dabei den Druck, den sein Schuh ausübte. Die grobe Sohle drückte tief in den Hals und hinterließ dunkle Blutergüsse.

      Beck packte die lange, schmale Scherbe, auf der er lag. Er griff sie, so fest er konnte, wobei das Glas tief in seine Handfläche und die Finger schnitt. Blutstropfen quollen hervor, Beck biss sich auf die Lippen, riss seinen Arm hoch und jagte die Waffe mit aller Gewalt in Ritters Oberschenkel. Mit der anderen Hand zerrte er sich den Fuß vom Hals und rollte unter dem in die Knie gehenden Gegner zur Seite. Ritter stieß einen überraschend hohen Schmerzensschrei aus – schrill, wie das Quieken eines zur Schlachtbank gezerrten Schweins. Bevor Ritters träger Geist die Situation erfassen konnte, war Beck schon auf den Füßen und trat ihm mit dem noch beschuhten Fuß ins Gesicht. Er legte all seine Wut, seine Todesangst, seine Scham in diesen Tritt und Ritter verlor einen seiner gepflegten Schneidezähne. Beck war für den Bruchteil einer Sekunde versucht, nach dem Schlüsselbund zu greifen und den Waffenschrank zu öffnen − ein Blick auf Ritter, der sich gerade wieder aufrappelte und dabei seinen blutigen Zahn ausspuckte, verriet ihm aber, dass dies keine gute Idee wäre. In Ritters Augen funkelte kalte Mordlust, schon stand er wieder auf beiden Beinen.

      Beck ließ die abgebrochene Scherbe fallen, die Spitze steckte noch im muskulösen Oberschenkel des Bodybuilders. Dann hetzte er im Slalom um die Schreibtische und Stühle zum Hinterausgang. Er erreichte den schmalen dunklen Flur, wäre fast über etwas am Boden Liegendes gestolpert (Storm?), als Ritter hinter ihm auftauchte und lautstark nach Unterstützung brüllte.

      »Kommt her, kommt hinters Haus! Der Bulle wollte mich umbringen!«

      Beck blieb keine Zeit, weiter über das Hindernis im Flur nachzudenken. Ritter war mittlerweile nur noch fünf Meter entfernt, humpelte aber stark.

      Ohne einen weiteren Blick zurück begann Joachim Beck, zu rennen. Er rannte mit nur einem Schuh, blutenden Händen und einer gebrochenen Nase, konnte nur mit einem Auge sehen und rannte um sein Leben. So schnell er konnte, versuchte er das Revier und die grölenden Menschen dort hinter sich zu lassen. Er rannte, bis die Lungen wie flüssiges Feuer in seinem Leib brannten, bis er endlich einen Hausflur fünf Straßen weiter erreichte und glaubte, in Sicherheit zu sein.

      Als Ritter einsah, dass Joachim Beck ein verlorenes Opfer war, schleppte er sich zurück in den Gang. Vor Kommissar Storm blieb er mit einem bösen Lächeln stehen. Storm lag noch immer bewusstlos am Boden, das dünne Blutrinnsal aus seinem Hinterkopf trocknete langsam. Ritter bückte sich, packte Storm am Kragen und zerrte ihn hinter sich her wie einen Sack Kartoffeln. Vor der verriegelten Eingangstür legte er ihn ab und humpelte zu Salms Schreibtisch. Er griff sich den Schlüsselbund und öffnete den Waffenschrank.

      »Geile Scheiße!«, stöhnte er, als er die blinkenden Maschinenpistolen sah. Er griff sich die nächstbeste und folgte dann den Bildern auf einem Plakat, welches innen an der Schranktür hing. Magazin einlegen und entsichern. Kinderleicht! Er fühlte sich so stark, stark wie nie zuvor. Aus der kalten Waffe strömten übermenschliche Kräfte in seine Hand und den kräftigen Körper. Sie ließ ihn fürs Erste den Schmerz im Oberschenkel vergessen. Er humpelte zurück zu Storm und stemmte ihn sich auf die Schulter. Dann schloss er den Haupteingang auf, trat gegen die Tür, die nun bereitwillig aufsprang, und ging nach draußen.

      »Ich hab euch was mitgebracht, Leute!«, lachte er und warf Storm vor sich auf den Gehweg. Dann richtete er die Maschinenpistole auf den Bewusstlosen und schoss in einer langen Salve das Magazin leer. Joachim Beck flüchtete in ein Treppenhaus. Dort brach er zusammen. Sein Atem rasselte, er war gerannt wie seit Jahren nicht mehr. Aber jetzt war er wenigstens sicher, wenigstens allein.

      Da wurde die alte Haustür, die sich gerade erst mit einem Quietschen hinter ihm geschlossen hatte, aufgestoßen.

      13

      13:03 Uhr, Wellendingen

      Bubi Faust hatte wundervolle Aufnahmen gemacht! Er war so nah an die Absturzstelle herangekrochen, wie dies Hitze und gelegentliche kleinere Explosionen, die dem Absturz des Airbusses folgten, nur zuließen. Und er hatte fotografiert: in den Himmel schießende Flammen, aufquellende Rauchpilze, verkohlte Leichenteile, ja selbst ein zur Unkenntlichkeit verbranntes Gesicht ohne Lippen, aber mit einem Goldzahnlächeln.

      Er hatte sich nach und nach vom eigentlichen Wrack wegfotografiert und war über das Feld den Spuren gefolgt, die der Rumpf in die Erde gegraben hatte. Und er nahm dabei die Kamera nur selten vom Auge.

      Gepäckstücke lagen, im weiten Umkreis verstreut und zum Teil vollkommen unversehrt, neben Körper- und Wrackteilen. Und, wenn er zurücksah, ragte dort der flügellose Airbusrumpf in den Himmel, schwarz verbrannt, mit leeren Augenhöhlen, aus denen Flammen züngelten. Über allem trieben Schönwetterwolken durch den Maitag und Lerchen übertönten in einiger Entfernung bereits wieder die Geräusche des Infernos. Das waren Fotos!

      Das Leben war so schön! Und manchmal auch gerecht. Eine Flugzeugkatastrophe hier, direkt vor seiner Haustür! Und er mitten dabei! Und diese Bilder! Wie viel würden sie wohl zahlen bei den Sendern? Er wollte die Bilder mehreren Sendern anbieten. Und abkassieren! Das war vielleicht die Chance seines Lebens! Nie wieder blöde Bewer bungsgespräche, nie wieder einen Wecker stellen und Schulbänke drücken! Denn diese Bildern, er streichelte die Canon wie einen Schatz, würden ihn mit einem Schlag berühmt machen! DIE VOLKER-FAUST-REPORTAGE! Nein, besser: BUBI-FAUST-REPORTAGE! ER FÄNGT AN, WO ANDERE AUFHÖREN! MIT BUBI FAUST SIND SIE NICHT NUR DABEI, SONDERN MITTENDRIN! So könnte es werden, nein, so würde es werden!

      Bubi hatte weiter fotografiert, die Gigabyte-Speicherkarte setzte keine Grenzen, kannte kein Ende. Er fotografierte auch noch, als Dorfbewohner und Leute aus Bonndorf, die zu der Absturzstelle geeilt waren, begannen, nach Überlebenden zu suchen. Zweihundert waren es vielleicht, die sich zwischen die Trümmer wagten, zweihundert Frauen und Männer, die helfen wollten.

      Bubi hatte keine Überlebenden gesehen. Na ja, fast keine. Eine Frau hatte gerufen. Geflüstert. »Hilfe.« Die Worte waren wie ein raschelndes Blatt gewesen. So leise, so unbedeutend. Bubi hatte kurz gestutzt und, das Wrack in seinem Sucher, eine atemberaubende Aufnahme geschossen.

      »Hilfe!«

      Etwas lauter. Eine Stimme!

      Bubi hatte sich umgesehen und, zwischen Koffern, Taschen und halb unter einer großen Metallplatte begraben, eine Frau entdeckt, die noch festgeschnallt in ihrem Sessel saß. Sie blutete aus beiden Ohren. Eine Augenhöhle war leer. Mit dem anderen Auge sah sie zu Bubi hinüber und in ihrem Blick lag ihr Flehen um Hilfe. Ihre rechte Schulter war von einer Metallplatte zertrümmert und im Bauch steckte eine Stange, die bis zu ihrer Wirbelsäule eingedrungen war. Ihre Beine würde die Frau nie wieder benutzen können.

      Bubi ging zu ihr. Aber nicht, um ihr zu helfen, um die Metallplatte anzuheben oder nach Hilfe zu schreien und zu winken, bis die anderen endlich kämen. Bubi kauerte sich neben sie und wartete, bis sie genau in die Linse seiner Kamera sah, dann drückte er ab und lächelte glücklich. Denn das Leben war schön.

      Frieder Faust, Jürgen Mettmüller

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