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Kaffee aufgeilten. Oder aus diesem Bild die Erträglichkeit ihres eigenen Seins ableiteten. Sieh doch, die armen Menschen! Gott sei Dank geht’s uns gut. Und schon ertragen sie wieder ihren ungeliebten Job, den vergessenen Partner, dieses einmalige Leben.

      Assauer verschmolz beinahe mit dem Kind in seinen Armen. Der Fotograf kam immer näher. Der Professor beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und weinte, weinte hemmungslos und voller Schmerz. »Oh, mein Kevin.« Er küsste das stille Gesicht, das friedlich und mit fest geschlossenen Augen an seiner Brust lag. Assauer kannte die schreckliche Wirklichkeit und wollte sie nicht wahrhaben. Aber der Fotograf würde sie jeden Augenblick entdecken, es war an der Zeit, Abschied zu nehmen.

      14:52 Uhr, Wellendingen, Gasthaus Krone

      Bubi stieß die Beifahrertür des alten Passats auf, sprang aus dem Wagen und rannte in die Wirtschaft.

      »Aber die Leichen müssen bestattet werden!«, forderte Christoph Eisele soeben zum wiederholten Mal. »Oder wollt ihr, dass im Hardt was weiß ich wie viele Leichen in den nächsten Wochen …«

      »In den nächsten Wochen?! Bis spätestens morgen sind Rettungskräfte oder Militär oder auch beides hier!« Der Zwischenrufer schüttelte den Kopf. »Nächsten Wochen!«

      »Sollen wir warten«, fuhr Eisele unbeirrt fort, »bis die Toten langsam vor sich hin faulen? Könnt ihr euch den Gestank vorstellen? Und was ist mit den Krankheiten? Die Krähen, die an den Leichen picken …« Einer Frau wurde übel. Sie stürzte aus dem Saal und wäre fast mit Bubi zusammengestoßen. »Die Krähen kommen auch zu uns herunter, sind ja nur ein paar Meter.« Er schüttelte den Kopf und sagte bestimmt: »Wir brauchen eine Lösung, egal, ob heute Abend die Lichter wieder angehen oder nicht!«

      »Und wo sollen wir sie begraben?«

      »Am besten gleich an Ort und Stelle. Wir heben eine Grube aus und Schluss.«

      »Na, da wird sich der alte Frey aber freuen.« Friedbert Frey, Großbauer aus dem drei Kilometer entfernten Brunnadern, gehörte der größte Teil der Wiesen und Felder, auf denen der Airbus abgestürzt war.

      »Kann er auch!«, tönte es aus dem Saal. »Schließlich sind es seine Felder, die wir aufräumen.«

      »Aber was machen wir, wenn er sagt, dass wir dort niemanden beerdigen dürfen?«

      »Darüber können wir uns Gedanken machen, wenn es so weit ist!«, entschied Frieder Faust. »Zuerst mal steht unsere Sicherheit im Vordergrund und unsere Gesundheit.«

      »Wir sollten warten«, kam es zaghaft aus einer Ecke. »Wir können doch nicht ohne Genehmigung …«

      »Und wenn es dem Frey nicht gefällt, kann er sie ja irgendwann umbetten. Wenn er mag, meinetwegen auch auf unseren Friedhof.«

      »Bloß nicht, der wär’ ja ruckzuck voll!«

      Frieder Faust nickte und tat so, als ob er seinen Sohn, der an der Tür stand und ihm aufgeregt zuwinkte, nicht sähe. »Gibt es Freiwillige für den Beerdigungstrupp?« Es wurde plötzlich still im Saal und jeder der An wesenden versuchte sich so klein wie möglich zu machen. Selbst Chris toph Eisele, der eben noch enthusiastisch auf die Seuchen gefahr hingewiesen hatte, versuchte in der Anonymität zu versinken und schwieg.

      »Christoph?« Faust sah sich im Saal um.

      »Hier«, antwortete Hildegund Teufel und zeigte mit ihrem Stock auf Christoph Eisele, wofür sie von ihm einen nicht gerade freundlichen Blick erntete.

      »Wenn keiner hier was dagegen hat, solltest du das Beerdigungsteam organisieren.« Aus dem Saal kam beifälliges Murmeln. »Und da es sich um keinen Job handelt, für den es viele Freiwillige gibt, wird jeder Mann aus dem Dorf einmal dabei sein müssen. Du musst nur zusehen, dass du alles einigermaßen gerecht organisierst, Christoph.«

      »Von mir aus, wenn es sein muss.«

      »Und wen schicken wir jetzt nach Waldshut aufs Landratsamt?«

      »Wieso nach Waldshut? Bardo hat doch berichtet, wie es dort zugeht und dass die mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben. Viel leicht ist es in Stuttgart besser? Ich finde, jemand sollte nach Stuttgart fahren.«

      »Fahren?«

      »Natürlich. Autos haben wir ja!«

      »Und was ist mit den Straßen?« Jürgen Mettmüller erhob sich.

      »Wie Anne und Bardo berichteten, ist vor zwei Stunden bereits kaum noch ein Durchkommen möglich gewesen. Und die beiden waren auf relativ unbedeutenden Straßen zwischen relativ kleinen Ortschaften unterwegs. Was meinst du, wie es jetzt auf den Autobahnen und erst in Stuttgart aussieht.«

      »Jürgen hat recht.« Frieder wirkte selbstsicher und wurde von den Dorfbewohnern offenbar in seiner neuen Rolle akzeptiert. »Selbst wenn es einer von uns bis nach Stuttgart schaffen sollte, was soll er dort? Hilfe holen? Wenn die die gleichen Probleme haben wie wir, haben sie genug mit sich selbst zu tun. Und wenn in Stuttgart und weiter nördlich die Versorgung mit Strom und Wasser noch funktioniert und die Telefone gehen, werden sie in den nächsten Tagen ganz von allein hier bei uns auftauchen.«

      »Vater!« Bubi hielt es nicht mehr aus und versuchte, sich leise bemerkbar zu machen. »He, Vater!«, zischte er und winkte.

      »Was ist denn?«, fuhr der herum.

      »Ich habe einen Überlebenden gefunden!«

      Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Sofort drängten die Menschen aus dem engen Saal auf den Parkplatz vor dem Haus und umringten den rostigen Passat. Auf der Rücksitzbank saß ein alter Mann mit schneeweißem Haar, das ihm in leichten Wellen bis auf die Schultern fiel. Auch sein kurz gehaltener Vollbart war weiß. Der Mann sah traurig aus und unendlich müde.

      »Schnell! Holt ihn raus!« Martin Kiefer drängelte sich nach vorn und öffnete die Tür. »Kommen Sie, wir helfen Ihnen.« Und zu den Umstehenden: »Los, fasst mit an, wir müssen ihn reintragen.«

      Kiefer zog Professor Assauer aus dem Wagen und zu dritt trugen sie ihn ins Gasthaus. »Fehlt Ihnen etwas?«

      Assauer schwieg und starrte unbeteiligt ins Leere. Was ihm fehlte, würde ihm kein Mensch der Welt zurückgeben können. Sybilla. Und Kevin.

      »Macht Platz!«

      14

      15:00 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen

      Gestern war die Welt noch in Ordnung. Strom und Wasser und Computer funktionierten so, wie sie funktionieren sollten und für die Menschheit entsprach das Morgen vermutlich dem Heute und Ges tern und war nur mehr dessen logische Fortsetzung. Gestern hatten Punkt zwölf, wie jeden Mittag, die Kirchenglocken der Stadt geläutet. Heute war alles still. Blieb alles still.

      Joachim Beck kannte das am Stadtrand liegende Krankenhaus aus eigener Erfahrung. Ein bei einem Einsatz gebrochener Finger war hier gerichtet und eingegipst worden und mindestens zweimal im Monat musste er nach einer geschlichteten Schlägerei mit einem Opfer hierher oder einen betrunkenen Autofahrer einen Blutalkoholtest unterziehen lassen.

      Als er jetzt aber den Wartebereich betrat, erkannte er die sonst so beschauliche Einrichtung kaum wieder!

      Es herrschte heilloses Durcheinander. Menschen hetzten hinein, wesentlich mehr aber verließen die Klinik. Alles machte den Eindruck einer unkoordinierten, spontanen Evakuierung des Krankenhauses. Zeitgleich suchten immer mehr Verletzte nach Behandlung und schneller Hilfe. Beck drängelte sich an einer älteren Frau vorbei, die ihren Mann in einem Rollstuhl aus der Klinik schob. Ihr liefen Tränen übers Gesicht und er rief vergebens nach einem Taxi. Die Frau weinte, weil sie die Hilf- und Sinnlosigkeit seiner Rufe längst erkannt hatte. Aber die Angst vor der Enttäuschung in seinen Augen hielt sie zurück. Und ließ sie weinen.

      Becks zerschnittene Handfläche war mit einer Krawatte notdürftig verbunden. Vor einer Stunde hatte sie endlich aufgehört zu bluten. Salm hatte ihm das schmale Stück Stoff um die Verletzung geknotet und ihn ins Krankenhaus geschickt.

      Frederik

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