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Der große [Reichstags-]Wahlerfolg der Nationalsozialisten, der kurz vor Beginn der Hauptverhandlung errungen war, beeinflusste die Beurteilung der Angeklagten durch Prozessbeteiligte und Publikum in einem den Angeklagten günstigen Sinne.«63

      So war es nicht weiter verwunderlich, dass die drei nationalsozialistischen Hochverräter zu milden 18 Monaten Festungshaft verurteilt wurden, nicht ohne vom Reichsgericht »gute Absichten«, »tadellose Vergangenheit«, »gute Eigenschaften« und »edle Motive« bescheinigt zu bekommen.64

      Wie die von Hitler beschworene und vom Reichsgericht so gern geglaubte »Legalität« aussah, belegte eine im Herbst 1931 erschienene sozialdemokratische Denkschrift, die den Legalitätseid des Nazi-Führers als glatten Meineid entlarvte. Sie dokumentierte allein für die Jahre 1930/31 exakt 1184 von Nationalsozialisten begangene Gewalttaten mit 62 Todesopfern und 3209 Verletzten, außerdem 42 Versammlungssprengungen, 26 Überfälle auf Gewerkschaftshäuser sowie eine große Anzahl von Friedhofsschändungen.65 Doch die Justiz weigerte sich weiterhin, den gewalttätigen Charakter der NS-Bewegung zur Kenntnis zu nehmen. Im November 1931, nach den hessischen Landtagswahlen, fiel der Polizei sogar eine komplette Sammlung detaillierter Pläne für einen neuerlichen nationalsozialistischen Umsturzversuch in die Hände. Diese sogenannten Boxheimer Dokumente zeigten, dass die Nazis aus den Fehlschlägen früherer Putschversuche gelernt hatten. Die Papiere sahen die Übernahme der gesamten Staatsgewalt durch die SA, die Todesstrafe für Streikende und Personen, die sich SA-Wei­sun­gen widersetzten, die Verfügung der SA über alle Privatvermögen, die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht vom 16. Lebensjahr an und zahlreiche andere Verfassungsverstöße vor. Als Autor der Staatsstreichpläne bekannte sich der hessische Gerichtsassessor Dr. Werner Best. Hitler gab vor, die Dokumente nicht zu kennen. Noch vor Einleitung eines Verfahrens erklärte der oberste Ankläger der Republik, Oberreichs­anwalt Karl Werner, es sei überhaupt zweifelhaft, ob der Tatbestand des Hochverrats gegeben sei, weil die Pläne die nationalsozialistische Machtergreifung nur nach einem kommunistischen Aufstand vorsähen.66 Das Untersuchungsverfahren wurde hingezogen, und mit Beschluss vom 12. Oktober 1932 setzte der 4. Strafsenat des Reichsgerichts Dr. Best »aus Gründen mangelnden Beweises hinsichtlich der Anschuldigung des Hochverrats außer Verfolgung«.67 Der nur vorübergehend vom Dienst suspendierte Gerichtsassessor wurde nicht einmal aus dem Richterdienst entlassen. (Im Dritten Reich rückte er zum Justitiar der Gestapo und später zum Reichsbevollmächtigten im besetzten Dänemark auf.)

       Der Niedergang des Rechts

      Die Forderung und Begünstigung »national« gesonnener Straf­täter war politisch verhängnisvoll, sie ermutigte rechtsradikale Umstürzler und verunsicherte republikanische Kreise. Noch folgenreicher war jedoch die damit verbundene Erosion des Rechts.

      Nach dem Versailler Friedensvertrag, der als sogenanntes Gesetz über den Friedensschluss deutsches Reichsgesetz war und im Rang sogar noch über der Verfassung stand, war Deutschland rigorosen Rüstungsbeschränkungen unterworfen. Das Gesetz enthielt genaue Vorschriften über Stärke, Ausrüstung und Ausbildung der auf 100.000 Mann limitierten Reichswehr.68 Die »neue alte Armee« (Seeckt) nutzte aber jede Möglichkeit, sich zu verstärken, um das »Versailler Schanddiktat« eventuell militärisch zu revidieren. Sie stellte illegale Verbände auf (die bereits erwähnte Schwarze Reichswehr), zog sogenannte Zeitfreiwillige zu Manövern und Wehrübungen ein, unterhielt geheime Waffenlager und baute sogar illegal eine Luftwaffe auf. Bei all diesen Aktivitäten ging die Reichswehr ausgesprochen konspirativ vor. Um sich gegen den »Verrat« des verbotenen Treibens an die Interalliierte Militärkommission, das Kontrollorgan der Siegermächte, zu schützen, wurden mutmaßliche Informanten ermordet. Die deutschen Behörden, die über die gesetzwidrige Aufrüstung wohlinformiert waren, deckten soweit irgend möglich diese Fememorde. Dennoch ließ es sich nicht verhindern, dass einige der Morde bekannt wurden und Gerichtsverfahren eingeleitet werden mussten. Die Verteidigung der Mörder – von denen etliche später im Dritten Reich große Karrieren machten – plädierte regelmäßig auf Freispruch, da die Täter »in Notwehr« gehandelt hatten, stellvertretend für den Staat, dem durch das Gesetz die Hände gebunden seien.

      Diese Konstruktion der rechtfertigenden »Staatsnotwehr« oder des »Staatsnotstandes« – nach dem Urteil des renommierten republikanischen Staatsrechtslehrers Georg Jellinek »nur ein anderer Ausdruck für den Satz, dass Macht vor Recht geht«69 – übernahmen die Gerichte bis hinauf zum Reichsgericht, das jedenfalls prinzipiell anerkannte, dass vermeintliche Staatsnot Gesetzesbrüche rechtfertigen könne. Dabei hatte die Justiz schon selbst dafür gesorgt, dass die Grundlage solcher Rechtfertigung gar nicht bestand und dem Staat bei Bekanntwerden der illegalen Reichswehrmachenschaften keineswegs die Hände gebunden waren. Die Gerichte jener Zeit führten Tausende von Landesverratsverfahren gegen Pazifisten und Republikaner durch, die die Rechtsbrüche bekannt gemacht hatten. In jedem Jahr der Republik wurden doppelt so viele Personen wegen Landesverrats verurteilt wie in den 32 Vorkriegsjahren zusammen.70 Die ebenso simple wie arrogante Argumentation, die diesen Verurteilungen zugrunde lag, charakterisierte treffend der Justizkritiker Emil Julius Gumbel: »1. Eine Schwarze Reichswehr hat nie existiert. 2. Sie ist längst aufgelöst. 3. Wer von ihr redet, begeht Landesverrat.«71 Opfer dieser Justiz wurden nahezu alle prominenten deutschen Pazifisten, darunter die beiden Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde und Carl von Ossietzky.

      Auf die politischen Folgen solcher Rechtsprechung hatte die SPD schon 1924 hingewiesen. Ihre Reichstagsfraktion beschwor in einer Interpellation die Regierung, »dass diese Recht­sprechung eine Gefahr für die Republik bedeutet, insofern sie Organisationen, die staatsfeindlich und monarchistisch sind, die Möglichkeit der Waffenrüstung gewährt, ohne der republikanischen Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, sich dagegen zu wehren oder auf Einhaltung von Recht und Gesetz zu bestehen«.72 Noch verderblichere Wirkung hatte aber die damit betriebene Zerstörung der Rechtsgrundlagen des Staates. Der Frankfurter Rechtsprofessor Hugo Sinzheimer hatte sich anlässlich der reichsgerichtlichen Anerkennung der Staatsnotwehr als Rechtfertigung für einen Mord zu Recht über die »prin­zipielle Ungeheuerlichkeit, die dieses Urteil gewagt hat«, erregt: »Ein solcher Richterspruch erschüttert nicht die Rechtsordnung, zu deren Schutz er berufen ist. Er löst sie auf.«73

      Das ganze Ausmaß der vom Reichsgericht betriebenen Auflösung der Rechtsordnung wird erst klar, wenn man die Fememordurteile im Zusammenhang mit den Landesverratsurteilen gegen pazifistische Journalisten sieht. Mit dem ihm eigenen Sinn für Zusammenhänge hat das Reichsgericht im 62. Band seiner amtlichen Entscheidungssammlung unmittelbar hinter einem Urteil, in dem die Staatsnotwehr erneut als Rechtfertigungsgrund für ein Verbrechen anerkannt wird,74 das »Ponton-Urteil« gegen die Journalisten Berthold Jacob und Fritz Küster veröffentlicht. Das Gericht hatte die beiden wegen des in dem pazifistischen Journal Das andere Deutschland erschienenen Artikels »Das Zeitfreiwilligengrab in der Weser« als Landesverräter verurteilt: Am 31. März 1925 waren anlässlich eines Reichswehrmanövers 81 Soldaten nahe Veltheim an der Porta Westfalica beim Übersetzen über die Weser ertrunken. Aus der Tatsache, dass für verschiedene Opfer dieses Unglücks in den Zeitschriften Der Jungdeutsche und Wiking Todesanzeigen erschienen waren, die jedoch keine militärischen Dienstränge, sondern nur zivile Berufe nannten, hatte Jacob geschlossen, dass unter den Ertrunkenen mindestens 11 Zeitfreiwillige gewesen seien. Diese Tatsache stand im Widerspruch zu den öffentlichen Beteuerungen von Reichswehrminister Geßler und Reichskanzler Luther, es gebe keine Zeitfreiwilligen. Aufgrund dreier Gutachten des Reichswehrministeriums über die Geheimhaltungsbedürftigkeit der recherchierten Tatsachen wurden Küster als Autor und Jacob als verantwortlicher Redakteur am 14. März 1928 zu je 9 Monaten Festungshaft verurteilt. Die entscheidenden, später so oft zitierten Sätze des Urteils lauteten: »Dem eigenen Staate hat jeder Staatsbürger die Treue zu halten. Das Wohl des eigenen Staates wahrzunehmen, ist für ihn höchstes Gebot, Interessen eines fremden Landes kommen für ihn demgegenüber nicht in Betracht. Auf die Beobachtung und Durchführung der bestehenden Gesetze hinzuwirken, kann nur durch Inanspruchnahme der hierzu berufenen innerstaatlichen Organe geschehen.«75

      Wie weit das Reichsgericht mit der fatalen Botschaft, das (vermeintliche) Interesse des Staates stehe über dem Recht, und

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