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Gustaf Gründgens. Thomas Blubacher
Читать онлайн.Название Gustaf Gründgens
Год выпуска 0
isbn 9783894877422
Автор произведения Thomas Blubacher
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Auch wenn Gründgens bereits zu dieser Zeit gerne Werktreue proklamiert (»Man soll die Dichtung sprechen lassen und seine Regie darauf beschränken, alle Mitwirkenden mit dem Geist dieser Dichtung zu durchtränken – was übrigens schon schwer genug ist«43, schreibt er zum Beispiel im Freihafen), scheut er keineswegs korrigierende oder modifizierende Eingriffe in den Text, verzichtet durchaus nicht darauf, Stücke durch Striche und Umstellungen seiner Auffassung anzupassen oder sogar radikale Neufassungen zu erstellen. So bearbeitet er mit Witz und Esprit die Offenbach-Operette DIE SCHÖNE HELENA: Achill tritt als Leichtgewichtsboxer auf, der Seher Calchas als Reklamechef, Gründgens selbst gibt den Paris als Filmstar, »im rosa Crep-Georgette-Anzug, im Silberfrack und kriegerischem Phantasiekostüm als halber Nackedei«44. Die Partitur zu inszenieren, wie er es gerne formuliert, schließt nicht, um im Bild zu bleiben, veränderte Tempi und eine völlig andere Orchestrierung aus. Und wer Gründgens’ Werktreue-Begriff als ahistorisch und als museales Konservieren tradierter szenischer Lösungen begreift, wird bis zuletzt immer wieder von seinem durchaus zeitbezogenen Zugriff überrascht werden, etwa wenn 1957 in Goethes FAUST grell ein Atompilz aufblitzt, nur neun Tage nach der Göttinger Erklärung gegen die Aufrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen.
»Prototyp dekadenter Jünglinge und Neurastheniker, hat er sich aus einer gewissen Einseitigkeit zu einem immer größeren Radius entwickelt – von Palme, dem Ewig-Gekränkten, bis gar zum Hamlet. Das Morbide, Brüchige des modernen Nervenmenschen bekam immer mehr Farbe in seiner technisch von Mal zu Mal reiferen Gestaltung«, rühmt man Gründgens in den Hamburger Nachrichten, als sich dieser Mitte Mai 1928 – natürlich in der Rolle des Hamlet – von der Hansestadt verabschiedet. Man sehe ihn nur »ungern ziehen«. Auch als Regisseur habe er »nicht bloß Sinn für parodistische Einfälle« gezeigt, vielmehr sei »Geist und Geschmackskultur«45 in seinen Inszenierungen zum Ausdruck gekommen. Vor allem von der »gegliederten Sprechkunst des nervösen, springenden Temperaments dieses Hirn- und Nervenmenschen« zeigt sich ein anderer Kritiker angetan. Der Rhythmus der Sprache habe »im Rhythmus des Körpers (in Bewegungen von stärkster Charakteristik) eine schlagkräftige Ergänzung« gehabt. »Alles Spleenige, Blasierte, Satirische, Ironische trifft dieser Skeptiker. […] Gründgens liebte nicht die farbige Breite, sondern den schneidend scharfen Strich: in all seinen Zeichnungen.«46
Insgesamt hatte Gründgens an den Kammerspielen seit 1923 über 70 Rollen übernommen und für mehr als 30 Inszenierungen verantwortlich gezeichnet, Klassiker ebenso auf die Bühne gebracht wie neueste Dramatik uraufgeführt. Daneben hatte er eine ganze Reihe leichter Unterhaltungsstücke inszeniert, für die er mit seinem ausgeprägten Sinn für Tempo und Rhythmus, seiner hohen Musikalität und seinem ironischen Witz ein besonderes Talent hat. Gründgens hat erreicht, was man in Hamburg als junger Schauspieler und Regisseur erreichen kann, und mehr noch: Er ist in Theaterkreisen weit über die Stadt hinaus bekannt und gefragt. Immer wieder waren in den letzten Jahren Angebote etwa der Salzburger Festspiele an ihn herangetragen worden47, hatte ihn sein Berliner Agent auf Vakanzen aufmerksam gemacht, in Dresden ebenso wie in Frankfurt. Otto Mertens, der Gründgens vertritt, gilt seit langem als einer der führenden Künstleragenten und Gastspielvermittler, die renommiertesten Theater wenden sich an den ehemaligen administrativen Leiter der Komischen Oper.
Otto Falckenberg, der Direktor der Münchener Kammerspiele, war bereits im Januar 1928 nach Hamburg gereist, um sich Gründgens anzusehen. Er hatte ihn »ausgezeichnet« gefunden, seine HELENA-Inszenierung allerdings »etwas überklamaukt«, und zeigt sich interessiert daran, den Schauspieler für das in der nächsten Saison vakante Fach des Bonvivants oder auch als Charakterliebhaber zu verpflichten, doch entsetzt angesichts seiner Forderung von 1500 Mark Monatsgage. Allenfalls ein Teilspielzeitvertrag für sechs Monate komme unter diesen Bedingungen in Frage. Da sein Agent ihm dringend zurät – München sei »ein herrliches Sprungbrett für Berlin«48, meint er – gastiert Gründgens für 1200 Mark pro Monat als Regisseur und in der Rolle des Fritz Schwigerling in Frank Wedekinds LIEBESTRANK, ein festes Engagement kommt nicht zustande. Auch Hofrat Franz Herterich, der Direktor des altehrwürdigen Wiener Burgtheaters, hatte eine Vorstellung der SCHÖNEN HELENA im Januar besucht und sogar versuchen wollen, beim »Ministerium einen Antrag [zu] stellen, damit er Ihre Gagenforderung durchdrückt«, so Mertens, der indes nicht verschweigt, daß diese auch in seinen Augen »ein wenig sehr gepfeffert ist«49. Rolf Jahn, der ambitionierte Leiter des Theaters Die Komödie in der Johannesgasse im 1. Wiener Bezirk zeigt ebenfalls Interesse, und natürlich versucht Erich Ziegel, dem Gründgens Anfang März 1928 mitgeteilt hatte, daß er zum Ende der Spielzeit ausscheiden wolle, ihn zu halten – vergebens. Gründgens sucht den Wechsel, den Aufstieg. Zudem verheißt die kommende Saison in Hamburg wenig Sensationelles, sondern bringt erst einmal den Umzug des Ensembles aus den baufälligen Kammerspielen in einen nur 331 Plätze großen Theatersaal im Erdgeschoß der »Kaisergalerie« an den Großen Bleichen mit sich.
Ein angesichts der Gage von 2000 Mark recht lukratives Angebot, das ihn im Juni während seines Münchner Engagements in der nicht sehr behaglichen Pension International an der Von-der-Tann-Straße erreicht, muß Gründgens aus Termingründen absagen: Er soll bei den Salzburger Festspielen im Sommer den Spiegelberg in Schillers RÄUBERN und den Teufel in Hofmannsthals JEDERMANN spielen. Doch im Sommer wird er längst in Berlin sein, bei Max Reinhardt. Bereits 1926 hatte Gründgens bei ihm am Theater in der Josefstadt in Wien gastiert, wenn auch nicht unter seiner Regie50, so aber doch als Partner seiner Geliebten und späteren Ehefrau Helene Thimig – und war als Florindo in Hugo von Hofmannsthals CRISTINAS HEIMREISE von der Kritik arg zerzaust worden: »Bald sieht er alt aus, bald jung; bald ist es um ihn kalt, bald warm; bald gibt er sich männlich, bald feminin; bald ist er anmutig, bald affektiert. Er hat irgendwo Linie und irgendwo Temperament, ist manchmal sehr schmeichelnd, das nächste Mal mehr lockend. Ein beflissener Redner, nicht immer ein Sprecher, dennoch interessant, aber nie packend«51, hatte es geheißen, allenfalls dürfte »seine abnorm feminine Art und seine etwas geckenhaft parfümierte Grazie in einer Posse sehr gut verwendbar sein«52. Und Alfred Polgar hatte knapp und vernichtend konstatiert: »Das Bezaubernde, auf das es ankommt, fehlt ihm.«53 Trotz dieses Mißerfolgs ist Reinhardts Interesse an Gründgens keineswegs erloschen. Seine Mitarbeiterin Gustl A. Mayer hatte bereits im Oktober 1926 in der Konditorei Rumpelmayer am Kurfürstendamm mit Gründgens über ein Engagement nach Berlin verhandelt – damals noch ohne konkretes Ergebnis. Doch Gründgens weiß, wie wichtig der große Sprung in das mondäne, pulsierende Berlin, die unangefochtene Theatermetropole, ist.
Dort kämpfen allabendlich rund 50 Bühnen, zu denen drei Opernhäuser mit zusammen über 6000 Plätzen sowie mehr als 30 Schauspielbühnen mit eigenem Ensemble gehören, um die Besucher, die meisten davon mit einer Zuschauerkapazität zwischen 700 und 1100 Sitzen, dazu große Varietés und über 70 Cabaret- und Kleinkunstbühnen. Im allabendlichen Wetteifer um die Gunst des Publikums, dessen soziale Struktur sich seit dem Krieg deutlich verändert hat, zeigt man nicht mehr so häufig Klassiker wie einst, die von vielen Zuschauern als überkommenes Bildungstheater abgelehnt werden, sondern befriedigt den Wunsch nach Konversations- und Gesellschaftsstücken, gibt moderne Komödien und Revuen. Zeitkritische Dramen und spektakuläre Nacktrevuen konkurrieren mit multimedial inszenierten Agitprop-Stücken und der wiederbelebten Operette. Wer als Schauspieler, Regisseur oder Autor in Berlin reüssiert, dem winkt wie nirgendwo anders die Chance, über Nacht Berühmtheit zu erlangen, dem steht eine glänzende Karriere bevor. Doch Berlin, »das immer noch die echten Begabungen wittert, ›macht‹ sie ebenso schnell, wie es sie