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ein Bauer, der daheim schon ein halbes Dutzend hungrige Mäuler zu stopfen hat, aus freien Stücken zu einer fremden Frau ging, verstand sie nicht.

      „Bist halt noch zu jung für solche Sachen. Frag deine Mutter“, erklärte ihr Rosa herablassend, „solange sie ihren Alten noch ranlässt, braucht er keine Huren.“

      „Was geht es dich an, was ich geschäftlich zu tun habe?“, hört sie Schneider jetzt nebenan seine Frau anherrschen.

      „Geschäftlich nennst du das also!“, giftet Margarethe zurück, „geschäftlich! Vor unserer Hochzeit hast du versprochen, dass du nicht mehr hingehst. Nie mehr in deinem ganzen Leben!“

      „Und wenn schon?“, erwidert Schneider ruhig, „willst du mir etwa vorschreiben, wie ich mein Geld zu verdienen habe?“

      „Mit Saufen und Herumhuren? Bringt dir das etwas ein?“

      „Du willst es also wirklich wissen“, seine Stimme klingt kalt, „also gut: Ich habe heute früh den Handel besiegelt und der Hecht ein Mädchen abgenommen. Viel habe ich nicht zahlen müssen. Die Elisa ist schon zwanzig und hier nicht mehr viel wert. Aber in Amerika kann ich ein hübsches Sümmchen mit ihr machen.“

      „Elisa? Elisa aus Nieder-Weisel meinst du? Wegen der warst du im Bordell?“

      „Musste sie halt erst ausprobieren.“

      „Du hast dein Lebtag genug ausprobiert, vor allem mit der Elisa! Und dieses Dreckstück kommt jetzt mit uns nach Amerika?“

      „Es ist meine verdammte Pflicht“, Schneider spricht langsam und mit kaltem Zorn, „für mein Weib und meine Familie zu sorgen. Und du als meine Ehefrau hast mir beizustehen. So hast du es vor unserem Herrn versprochen. Also hör auf zu zänken und kümmere dich um die Mädchen. In ein paar Tagen sind unsere Reisepapiere fertig.“

      Margarethe antwortet nicht. Nach ein paar Augenblicken fragt Schneider schmeichelnd und sanft: „Was hast du eigentlich in dem Paket da mitgebracht? Zeigst du mir, was du den Mädchen gekauft hast?“

      Das sei Frauensache und ginge ihn überhaupt nichts an, gibt sie mürrisch zurück.

      Er müsse das Paket nicht einmal auspacken, fährt Schneider voll falscher Freundlichkeit fort. Es sei ihm ohnehin klar, was seine verehrte Gattin ausgesucht habe: schon wieder ein neues Kleid für sich selbst. Und vielleicht noch ein buntes Tuch. „Während die Mädchen so zerlumpt herumlaufen, dass sie jedermann auffallen. Wer soll mir denn glauben, dass sie in Amerika in Stellung gehen? Jede Bettlerin hat besseres Zeug am Leib.“

      „Dann gibst du mir eben noch einmal zehn Gulden“, erwidert Margarethe eingeschnappt, „du hast ja scheinbar genug.“

      Schneider spricht jetzt so leise, dass Luise ihr Ohr dicht an die Wand pressen muss, um ihn zu verstehen.

      „Wenn ich Geld zu verschenken habe, dann sage mir doch bitte, wo es versteckt ist. Die Auslösung für Elisa, die Reisekosten für alle … ich bin froh, wenn meine Ersparnisse dafür reichen.“

      „Und wer hat sich in Langenhain aufgeführt wie ein reicher Mann?“, fragt Margarethe, „wer hat ein halbes Vermögen am Kartentisch verspielt?“

      Als Luise von nebenan ein Klatschen und Rumpeln hört, fährt sie erschrocken von der Wand zurück. Dann beginnt die Frau leise zu schluchzen, und Schneider flüstert etwas, das sie nicht versteht.

      Später verändern sich die Geräusche. Ein Murmeln, ein blödes Stöhnen und Ruckeln beginnt. Man könnte glauben, dass der Mann in der Nachbarkammer seine Frau verprügelt.

      Endlich erwacht der kleine Christopher und beginnt zu greinen. Auch Anna schlägt jetzt die Augen auf. Tesi hat die ganze Zeit regungslos vor sich hin gestarrt, als sei sie blind und taub.

      Bis zum Abend bleiben sie in der Kammer eingeschlossen. Die Luft ist zum Schneiden, als Margarethe ihnen endlich einen Teller Suppe hineinreicht. Ihre Augen sind blutunterlaufen.

      Bald nach dem Essen strecken sich Anna und Tesi wieder gähnend aus. Auch Luise fühlt sich träge. Sie tritt noch einmal ans Fenster und starrt in den Abend hinaus. Von der Elbe steigt jetzt jene Kühle auf, nach der sie sich den ganzen Tag gesehnt hat. Immer wieder beschlagen die Glasscheiben, muss sie sich ein neues Guckloch freiwischen. Als es dunkel wird, tastet sie nach ihrem Bündel, kramt das große Wolltuch hervor und legt es sich um die Schultern.

      Ihre Reise hat erst begonnen. Aber schon jetzt ist sie weiter weg von der Heimat als Vater und Mutter es in ihrem ganzen Leben waren.

      Andere im Dorf haben schon früher versucht, ihr Glück in der Fremde zu machen. Nicht wenige sind mit viel Geld in den Taschen zurückgekommen. Ihre Eltern aber sind immer in ihrem Dorf geblieben. Die Großmutter hat einmal erzählt, wie schrecklich das Leben dort früher war. Die ganze Wetterau litt unter einer Hungersnot, als ihr Sohn noch ganz klein war. In einem fernen Land war ein Vulkan ausgebrochen, und danach verdunkelten schwarze Wolken den Himmel. Der Sommer fiel aus, Kälte und Nässe verdarben die Ernte.

      Wie ein dunkler Schatten hat sich dieses Elend über das Leben von Balthasar und Margarethe Ludwig gelegt, hat sie zu harten und missmutigen Menschen heranwachsen lassen. Er war schon fünfundzwanzig und sie noch zwei Jahre älter, als sie miteinander vor dem Traualtar standen. Seither hatten sie kein anderes Ziel, als sich selbst und ihre Kinder satt zu bekommen und es im Winter warm zu haben. Doch nicht einmal das war möglich, ohne sich beim Oheim zu verschulden.

      Luises Schultern straffen sich: Damit ist es jetzt vorbei. Die fünfhundert Gulden, die der Vater vom Schneider bekommen hat, werden die schlimmsten Lasten vom Hof nehmen. Und sie, die stets nur ein nutzloses Mädchen war, hat dem Vater diese schwindelerregende Summe eingebracht.

      Bald wird sie ein Dampfschiff nach England besteigen. Von dort aus geht es weiter nach Amerika. In der Gartenlaube hat sie gelesen, dass viele Mädchen dort höhere Schulen besuchen und neuerdings sogar studieren können.

      Vielleicht wäre das etwas für Dora, denkt sie. Die kleine Schwester soll es mal besser haben. In drei Jahren wird sie konfirmiert und kommt aus der Schule. Vielleicht erlauben die Eltern dann, dass Dora mit ihr nach Amerika kommt.

      Die Wasserfläche kräuselt sich leicht. Am Anleger schwanken hunderte Mastbäume im Wind. Luise ruckelt so lange an einem Fensterflügel, bis dieser sich quietschend öffnen lässt und kühle Luft in die Kammer strömt. Es stinkt nach Kloake, Ruß und Teer.

      Hat sich der Lehrer vorgestellt, dass sie darüber etwas aufschreibt, ihre Reiseeindrücke notiert? Aber ist das nicht alles längst geschehen? Was könnte ein einfaches Bauernmädchen wie sie erleben, was nicht schon von bedeutenden Schriftstellern zu Papier gebracht wurde?

      Später wehen andere Düfte herüber. Für einen Moment ist ihr, als ginge sie daheim an einer Backstube vorbei. Es riecht nach geröstetem Korn, gedörrten Früchten, frisch gemähtem Heu und anderen, fremden Aromen. Ob das Gewürze aus fernen Ländern sind: Zimt, Muskatnuss, Anis? Oder Kaffee?

      Von dem dunkelbraun schimmernden Getränk hat sie erst ein einziges Mal gekostet. Als der Vater mit ihr in der Stube des Bürgermeisters saß, um den Kontrakt mit Schneider abzuschließen, trug dessen Gattin eine Kanne davon auf. Luise kam sich plötzlich sehr erwachsen vor. Kaffeebohnen, so belehrte sie der Bürgermeister, seien heutzutage so kostbar wie Gold: Sie würden in fernen Ländern geerntet, auf Schiffen um die halbe Welt gebracht und erst in Deutschland sorgfältig geröstet.

      „Bei euch Mädchen läuft es ja umgekehrt“, fügte er hinzu, zwinkerte Schneider zu und begann schallend zu lachen. Luise ließ sich nicht anmerken, dass sie den Witz nicht verstand.

      Anna und Tesi wälzen sich unruhig. Eine Gestalt schält sich aus der Decke und tritt neben Luise ans Fenster.

      „Kannst du auch nicht schlafen?“, fragt Anna.

      „Mir ist immer noch schwindelig“, lügt Luise.

      „Ach das“, raunt Anna verständig, „das kommt von der Eisenbahn. Du gewöhnst dich dran. Wenn du erst seekrank bist …“

      „Ist es schlimm?“, fragt

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