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dieses Wort wie Musik. Wie jene Töne, die im Winter überall aus den Häusern von Langenhain dringen. Wenn die Instrumentenbauer aus dem Schwarzwald kommen, um ihre Spieluhren und Drehorgeln vorzuführen und zu richten, was auf den Reisen im Sommer Schaden genommen hat. Das schrille Pfeifen, Quäken und Seufzen aus diesen Kästen verbindet sich dann in den engen Gassen zu einem seltsamen Lied, dessen Text aus einem einzigen Wort besteht: Amerika.

      Luise hat oft davon geträumt, selbst einmal in die Neue Welt zu gehen. Aber erst, wenn sie erwachsen ist und die Dora mitnehmen kann.

      Als sie am Abend endlich den Kurpark erreicht, bekommt sie es zum ersten Mal mit der Angst zu tun. Am Ufer der Usa hat sie sich nicht gefürchtet, wenn es in der Böschung raschelte, wenn etwas vor ihren Füßen fortsprang und laut ins Wasser platschte. Das waren ja nur kleine Tiere, ein Frosch vielleicht oder eine Kröte.

      Doch der große, stille Teich im Park ist ihr unheimlich. So viele Geschichten hat sie schon gehört von glücklosen Spielern, die ihr Leben in diesem Wasser ließen. Von in Schande geborenen Säuglingen, die ertränkt wurden, bevor ein Pastor sie taufen konnte. Und vom ruchlosen Treiben der Gestalten, die nachts unter den Bäumen im Park ihr Lager aufschlagen, weil sie in Nauheim kein Dach über dem Kopf haben.

      Der Kies knirscht so laut, dass sie auf die Wiese ausweichen muss. Ihr Atem geht schnell, die Hände sind schweißnass. Aus dem Gebüsch vernimmt sie ein stetes Wispern und Rascheln. Der Weg durch den Park kommt ihr endlos lang vor. Ganz in der Ferne sieht sie das gelbe Licht einer Gaslaterne glimmen. Dort muss es zum Bahnhof gehen.

      Plötzlich löst sich ein Schatten aus dem Gebüsch und tritt ihr in den Weg. Erschrocken fährt Luise zusammen. Dann erkennt sie die Stimme: Es ist Schneider.

      „Du kommst spät“, er klingt eher besorgt als streng, „ich habe dich schon erwartet. Bist du aufgehalten worden?“

      „Nein, nein, ich bin ohne Pause gelaufen.“ Luise ist weich in den Knien.

      „Hast du Hunger?“

      Sie brauche nichts, schwindelt sie, die Mutter habe ihr eine Brotzeit mitgegeben.

      „Dann bring ich dich jetzt zu deiner Schlafkammer. Die anderen sind schon dort.“

      Das schmale Gasthaus liegt nur wenige Schritte vom Bahnhof entfernt. Schneider führt Luise die Stiege hinauf, schließt eine Zimmertür auf und schiebt das Mädchen hinein: „Ruh dich aus! Morgen früh geht es weiter.“

      Dann sperrt er hinter ihr ab.

      Für einen kurzen Moment fällt Licht in den karg möblierten Raum. Auf einer Bettstelle sieht Luise zwei Mädchen liegen, die sich unter einer Decke eng aneinanderschmiegen. Nur ihre Haarschöpfe lugen heraus. Dann schiebt sich eine Wolke vor den Mond, und es wird stockdunkel.

      Beklommen lässt sie sich auf dem Rand des Bettkastens nieder, wagt kaum zu atmen. Nach einer Weile kriecht eine Hand unter der Decke hervor und tastet nach ihr.

      „Was ist? Kennst mich nicht mehr?“, fragt eine Mädchenstimme.

      „Ich muss mal“, raunt Luise unglücklich. Sie hat sich nicht getraut, den Schneider nach einem Abort zu fragen. Jetzt ist es dringend.

      „Am Fenster steht ein Nachtgeschirr.“

      Im Dunklen ertastet sie das kühle Porzellan und hockt sich darauf.

      „Du bist doch die Anna“, flüstert sie in die Schwärze, „die Möckel, Anna“. Sie erinnert sich noch genau an das kräftige, dunkelhaarige Mädchen mit dem offenen Gesicht, das in der Schulstube eine Reihe hinter ihr saß. Von Anna hieß es, sie sei schon bald nach der Konfirmation ins Land gegangen.

      Etwas regt sich auf dem Lager. Die beiden Gestalten richten sich auf und rücken beiseite, um der Dritten Platz zu machen. Vorsichtig setzt sich Luise zu ihnen, zieht ein Stück Decke zu sich herüber und legt es sich über die Beine.

      „Ich weiß noch, wie wir beide in der Schulstube saßen“, flüstert sie Anna zu, „ein Jahr vor mir warst du fertig.“

      „Stimmt. Ist lange her.“

      „Und wer bist du?“, fragt Luise die Andere, „im Dunkeln kann ich dich nicht erkennen.“

      „Sie heißt Therese. Aber alle nennen sie Tesi“, antwortet Anna an ihrer Stelle, „ihr Vater ist der Will, Lorenz.“

      Den Schafhirten, der mit seiner hageren Frau und einem Dutzend Söhnen und Töchtern in einer armseligen Kate am Feldrain haust, kennt Luise. Im Dorf hieß es, seine zerlumpten Kinder seien schon ein paar Mal von den Gendarmen in Nauheim aufgegriffen worden, als sie dort Kurgäste anbettelten. In der Schule ließen sie sich nur selten blicken.

      „Ist sie denn schon alt genug, um in Stellung zu gehen?“, fragt Luise erstaunt.

      „Vierzehn“, erklärt Anna wichtigtuerisch, „nach Amerika darf sie nur mit, weil ich versprochen habe, auf sie aufzupassen. Das hat der Will zur Bedingung gemacht.“

      Was will der denn schon für Bedingungen stellen, denkt Luise verächtlich. Jeder im Dorf weiß, dass der Schafhirt ein bettelarmer Mann ist. Niemand hat ihm auch nur einen einzigen Scheffel Getreide geliehen, nicht einmal im kältesten Winter. Der Will wird froh sein, dass ihm jemand eins seiner hungrigen Mäuler abnimmt und dafür sogar noch zahlt.

      Von draußen schlägt eine Faust hart an die Tür: „Ruhe da drinnen! Es wird geschlafen! Zum Schwatzen habt ihr morgen noch Zeit!“

      Brav strecken sich die drei Mädchen nebeneinander aus.

      Als die Atemzüge der Anderen ruhiger werden, kriecht Luise noch einmal unter der Decke hervor, kniet sich vor ihr Lager.

      Jetzt, wo sie von zu Hause weg und in Stellung geht, würde es ihrem Herrn bestimmt nicht gefallen, wenn sie nur das einfache Kindergebet herunterleierte, das sie so oft mit Dora gesprochen hat. Sie versucht, sich an die Zeilen zu erinnern, die sie im Konfirmandenunterricht gelernt haben: den Abendsegen von Martin Luther.

      „Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, dass du mich diesen Tag gnädig behütet hast, und bitte dich, du wollest mir vergeben alle meine Sünde, wo ich etwas Schlimmes gemacht … ehm, wo ich Unrecht getan habe“, murmelt sie leise und hofft, dass sie die Wörter richtig aneinanderreiht. Dann fallen ihr auch die letzten Sätze wieder ein: „Ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde. Amen.“

      Schnell schlüpft sie wieder zu den Anderen unter die Decke. Luise hat ihr Lager immer geteilt. Jeden Abend ist Dora bei ihr im Arm eingeschlafen.

      Doch diese Mädchen hier riechen anders als ihre Schwester. So eng liegen die beiden neben ihr, dass Annas Atem in ihrem Nacken kitzelt.

       Zweites Kapitel

      Kurz vor neun trifft der Schnellzug aus Gießen am Bahnhof von Nauheim ein. Fauchend kommt die Lokomotive mit den Personenwagen der ersten, zweiten und dritten Klasse vor dem Stationsgebäude zum Stehen. Auf dem Bahnhofsvorplatz haben sich bereits Händler mit Erfrischungen und Proviant, Gastwirte, Gepäckträger, Kutscher und Schaulustige versammelt.

      Nur wenige Passagiere steigen so früh am Morgen hier aus. Umso mehr aber reisen ab. Die Meisten haben es nicht weit. Kaum eine Stunde dauert die Fahrt von Nauheim nach Frankfurt am Main.

      Die elegant gekleideten Kurgäste und Spielbankbesucher, deren Droschken als Letzte vorgefahren sind, dürfen den Bahnsteig als Erste betreten. Zwielichtige Gestalten und arme Sünder kämen neuerdings zur Kur und zum Glücksspiel nach Nauheim, hat der Pastor in Langenhain in seiner Sonntagspredigt oft gewettert. Doch wie arme Sünder sehen diese feinen Herrschaften nicht aus. Elegant gekleidete Männer heben ihre Damen schwungvoll von den Trittbrettern der Kutschen, erteilen Dienstboten kurze Anweisungen auf Französisch oder in einer noch fremderen, weich klingenden Sprache. Kaum haben sie den Bahnsteig betreten, helfen sie ihren Begleiterinnen die steilen Eisentreppen zu den Fahrgastkabinen der ersten Klasse hinauf.

      Der Blick

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