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Hurdy Gurdy Girl. Irene Stratenwerth
Читать онлайн.Название Hurdy Gurdy Girl
Год выпуска 0
isbn 9783962580704
Автор произведения Irene Stratenwerth
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Bis es so weit ist, hätte Luise als nutzlose Esserin zu Hause herumsitzen und sich langweilen müssen. Zwischen der Konfirmation und der Hochzeit können zehn Jahre vergehen.
So lange halten es viele nicht aus. Sie gehen stattdessen mit einem Landgänger fort: einem wie Schneider, der Mädchen zum Tanzen in der Fremde dingt. Was sie dort zu tun haben, weiß Luise nicht so genau. Sie hat nur die sorgenvollen Mienen der alten Weiber gesehen und das anzügliche Grinsen der Männer, wenn auf dem Kirchplatz von den Tanzmädchen die Rede war.
In Amerika störe es keinen, dass sie noch so jung sei und außerdem ein bisschen lang geraten, hat Schneider gesagt. Im Gegenteil. Dort suchten die Männer regelrecht nach stattlichen Frauen, die ordentlich zupacken können. Wie ein Stück Vieh hat er Luise von Kopf bis Fuß gemustert. Mit dem Ergebnis seiner Begutachtung war er zufrieden: „Für dich braucht man jedenfalls kein Podest.“
Johann Georg Schneider ist ein Neffe von Balthasar Ludwig und somit Luises Vetter. Sie könnte ihn einfach „Georg“ nennen, denn schließlich ist sie mit ihm verwandt. Aber das käme ihr nicht richtig vor: Schneider ist ein verheirateter Mann und zehn Jahre älter als sie. Außerdem war er fast immer in der Fremde.
„Ich fahre nach Amerika.“ Der Satz fährt in ihrem Kopf Karussell. Wie das bunt geschmückte Pferd, das sie auf dem Jahrmarkt in Nauheim gesehen hat, immer im Kreis herum, schleppt er einen Reigen bunter Bilder hinter sich her: Von Bauern, die sich ein Stück Land einfach mit Holzpflöcken abstecken. Von Goldklumpen, die man in Kalifornien findet wie Hans im Glück. Von Tanzvergnügen, bei denen es am Sonntag lustig und unbeschwert zugeht.
Luise hat jeden Bericht, den sie in der Gartenlaube über Amerika finden konnte, genau gelesen und viele davon mehrmals. Freiwillig ist sie jeden Sonntagnachmittag ins Schulhaus gegangen.
Um Punkt zwei Uhr, nach dem Gottesdienst und dem Mittagsmahl, öffnete der Schulmeister Faber regelmäßig seine Klassenstube und legte Zeitschriften und Bücher aus: für alle, die sich bilden wollten. Manche Hefte waren schon ziemlich zerlesen, aber das machte ihr nichts aus. Denn sie weiß: Wer heutzutage in der Welt zurechtkommen will, muss sich informieren.
Der Vater verzog zwar ärgerlich das Gesicht, wenn seine Tochter am heiligen Sonntagnachmittag in die Schule lief. Wozu musste sich ein Bauernmädchen im Lesen üben? Wozu brauchte sie das moderne Zeug, das in einem so genannten Familienblatt stand? Aber was konnte ein einfacher Landwirt schon gegen den Schulmeister ausrichten, dessen Wort im Dorf fast so viel galt wie das des Pfarrers?
Einmal ist Faber in einer Lesestunde zu Luise ans Pult getreten und hat ihr ein dickes, in braunes Leder gebundenes Buch gezeigt.
„Du interessierst dich doch für Amerika?“
Luise senkte verlegen den Kopf.
„Dies ist der Reisebericht einer berühmten Schriftstellerin. Ganz allein hat sie sich die weite Welt angesehen. Auch Amerika. Vielleicht magst du einmal darin lesen?“
Meine zweite Weltreise, Dritter Theil stand auf dem Titelblatt und ein Name: Ida Pfeiffer. Vorsichtig nahm Luise das Buch in die Hände und blätterte die ersten Seiten auf: Gleich am Anfang ging es um die Ankunft der Schriftstellerin in Kalifornien. Stadt der Wunder stand über dem ersten Kapitel. Ein anderes handelte von den Spielhäusern in San Francisco.
Wie gerne hätte sie sich sofort in die Lektüre vertieft! Doch solange Faber sie so unverwandt anstarrte, verschwammen die Zeilen vor ihren Augen.
„Ist vielleicht noch zu schwierig für dich“, hörte sie ihn sagen, während er das Buch wieder an sich nahm.
Ob der Lehrer da bereits wusste, dass der Vater einen Kontrakt über sie abgeschlossen und im Haus des Bürgermeisters unterzeichnet hatte?
Für drei Jahre vermietet der Landwirt Balthasar Ludwig seine Tochter Dorothea Luise, geboren am 6. November 1845 in Langenhain, Großherzogtum Hessen, als Tanzmädchen an den Landgänger Johann Georg Schneider.
Der Kontrakt wurde am 31. März 1863 besiegelt. Kaum zwei Wochen später hat die Mutter sie auf diese Reise geschickt.
Viel Gestrüpp überwuchert den Uferpfad, durchnässt ihre Schuhe und Strümpfe und zwingt sie, allen Windungen des Flüsschens zu folgen. Der Saum ihres abgewetzten Wollrockes hängt, schwer von der Feuchtigkeit, weit herunter und scheuert zwischen den Beinen. Einmal versucht sie, eine Abkürzung zu nehmen, doch dabei gerät sie ins Himbeergesträuch und zerreißt sich beinahe die Schürze.
Zweifelnd und verwirrt blickt sie sich um, streicht sich eine Locke aus der verschwitzten Stirn. Sie hat ihr Haar vor dem Aufbruch zwar sorgfältig unter der Haube festgesteckt, doch einige Strähnen lassen sich einfach nicht bändigen.
Ob sie besser wieder zum Fahrweg nach Nauheim hinaufsteigen soll? Oder ist das viel zu weit?
Die Mutter hat ihr außerdem streng verboten, diese Landstraße zu benutzen. Wo sich fahrendes Volk oder gar Räuber herumtreiben, sei es viel zu gefährlich.
Und was, wenn ihr dort oben eine Kutsche aus dem Schloss begegnet und jemand nach ihrem Ziel fragt?
Besser sie setzt ihren Weg am Ufer der Usa fort.
Schon nach wenigen Schritten gelangt sie zu einem schmalen Steg über das Flüsschen. Vorsichtig tritt sie auf die glitschigen Planken. Wenn sie in der Mitte kurz stehenbleibt und sich umwendet, kann sie vielleicht einen letzten Blick auf die Dächer von Langenhain erhaschen. Oder auf Schloss Ziegenberg, das auf einem Felssporn über dem Flüsschen thront. Doch die Bretter beginnen schon nach ihrem ersten Schritt bedenklich zu schwanken. Sie rettet sich mit einem großen Satz ans andere Ufer.
Nach einem wehmütigen Blick zurück wäre ihr ohnehin nicht zu Mute gewesen. Der Dreck in den schmalen Gassen des Dorfes, der Gestank nach Kuhmist, die Kälte, die täglich gleiche Grütze, der Hunger im Winter und die Enge in ihrer winzigen Stube – sie mag nie wieder daran denken. Und auch nicht an die vielsagenden Blicke der Mutter und ihre ständigen Ermahnungen, sich ihre Sittlichkeit zu bewahren.
Der Vater hat ohnehin so getan, als wisse er von ihrer baldigen Abreise nichts. Dabei hat er selbst den Kontrakt geschlossen und vom Schneider die Hälfte des Mietpreises im Voraus bekommen.
Ganze fünfhundert Gulden.
Dora. Die Gedanken an die Kleine umschwirren Luise wie ein lästiger Fliegenschwarm. Vor zehn Jahren kam die Schwester zur Welt, nur wenige Tage vor Weihnachten. Die Mutter hatte längst nicht mehr mit Nachwuchs gerechnet. Krank und entkräftet lag sie danach eine halbe Ewigkeit im Bett. Man wusste nicht, ob sie überhaupt wieder aufstehen würde. Drei der vier Kinder, die sie geboren hatte, waren noch am Leben. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie dieses Fünfte nicht gewollt hatte und sich auch nicht darauf freute, noch ein weiteres Mädchen durchzufüttern.
So war es von Anfang an Luises Aufgabe, sich um das winzige, rosige Bündel zu kümmern, dem Neugeborenen die Windeln zu wechseln, es in den Schlaf zu wiegen und es in einem Tuch durchs Dorf zu schleppen. Auch als die Kleine laufen und sprechen lernte, blieben die Mädchen unzertrennlich.
Dora wird weinen und zetern, wenn sie begreift, dass sie mit den Brüdern allein zurückgeblieben ist, denkt Luise. Jetzt hat sie keine große Schwester mehr, die sie in Schutz nimmt, wenn die Jungs sie piesacken und necken.
Ein Fahrweg kreuzt das Flüsschen. Nur eine Furt führt auf die andere Seite, in Richtung Ober-Mörlen. In der Ferne kann sie schon die ersten Gebäude der Ortschaft sehen, in der sich die schmalen Behausungen der Tagelöhner und Handwerker eng aneinanderreihen.
Viele Leute werden am Nachmittag im Dorf unterwegs sein: Mägde und Frauen auf dem Weg zum Brunnen. Und Kinder, die Botengänge erledigen oder einander jagen. Bald werden auch die Männer von der Forstarbeit heimkommen. Eine Siebzehnjährige, die allein in Richtung Nauheim wandert, würde bestimmt neugierig beäugt. Wenn jemand sie nach ihrem Weg fragen würde, müsste sie schon wieder lügen.
Da