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Hurdy Gurdy Girl. Irene Stratenwerth
Читать онлайн.Название Hurdy Gurdy Girl
Год выпуска 0
isbn 9783962580704
Автор произведения Irene Stratenwerth
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Doch jetzt, in der Eisenbahn, wirkt er bäurisch und stumpf wie ein Tagelöhner, der zum ersten Mal auf Reisen ist. Wer ihn nach den drei Mädchen in seiner Gesellschaft fragt, dem bescheidet er knapp: „Aus der Heimat. Sind drüben als Dienstmägde verpflichtet. Soll auf sie aufpassen.“
Seine Frau wirkt viel eleganter als er. Etwas fremd sitzt sie in der kleinen Reisegruppe wie eine Gouvernante.
Den kleinen Christopher hält sie nie lange auf ihrem Schoß. Anna und Tesi wetteifern darum, das Kind zu herzen, zum Lachen zu bringen und dann wieder zu beruhigen.
Luise schaut lieber nicht hin.
Sie muss sonst schon wieder an Dora denken.
Drittes Kapitel
Wie Schafe trotten Margarethe und die Mädchen hinter Schneider her, nachdem sie in Harburg aus der Eisenbahn gestiegen sind.
Luise ist flau. Sie weiß nicht, ob ihr übel ist oder ob sie Hunger hat. Das ewige Schütteln und Schaukeln der Eisenbahn hat alles in ihrem Kopf durcheinandergewirbelt: Gedanken, Bilder und Wörter. Ihr Haar klebt unter der Haube, ihr Rock steht vor Dreck und ihre Fingernägel sind schwarz. Sie sehnt sich danach, sich zu waschen, sich auszustrecken und einfach die Augen zu schließen.
Aber noch sind sie nicht im Gasthaus. Noch stehen sie im Nieselregen am Schiffsanleger und warten auf den Dampfer, der sie über den Strom bringen wird. Das dunkle Wasser stinkt und gluckert bedrohlich, während sich der Abendhimmel bleiern auf sie herabsenkt.
Stunden später kommen sie in der Herberge an. Schneider schlägt dem Gastwirt vertraut auf die Schulter als wären sie alte Freunde. Dröhnend kündigt er sich auf ein Bier in der Gaststube an, während die drei Mädchen sofort nach oben müssen. Wieder sollen sie sich das einzige Lager in einer schmalen Kammer teilen.
„Morgen früh bekommt ihr Frühstück“, verspricht Margarethe und fügt mit einem langen Blick auf die drei erschöpften und verdreckten Gestalten hinzu: „Ich lasse euch Waschwasser bringen, bevor wir in die Stadt gehen. Am Jungfernstieg werdet ihr Geschäfte und Waren sehen, von denen ihr bisher nur träumen konntet. Wir kaufen dort alles, was wir für die Schiffspassage benötigen.“ Dann schließt sie die Mädchen in der Kammer ein.
Wieder mag sich Luise erst neben Anna legen, nachdem sie ihr Nachtgebet gesprochen hat. Diesmal fällt es ihr schon leichter, die Lutherworte herzusagen.
Die beiden Mädchen lassen ihr nur wenig Platz auf dem Lager. Steif und ganz gerade klammert sie sich an die Kante des Bettkastens. Das Rattern, Schütteln und Schaukeln in ihrem Kopf will einfach nicht aufhören.
Am Morgen warten sie vergeblich darauf, dass sich der Schlüssel in ihrer Tür dreht. Anfangs ist Luise froh, dass sie ihre Glieder noch ein wenig ausstrecken kann und stellt sich schlafend. Doch dann machen sich Hunger und Durst bemerkbar.
Aus der Nachbarkammer dringt kein Laut. Auch nicht, als Anna kräftig gegen die Wand klopft, später sogar mit ihrem Schuh dagegenschlägt.
Gegen Mittag poltert endlich etwas im Flur. Dann steht Schneider in der Tür und starrt die Mädchen verwirrt an: „Seid ihr nicht mit der Margarethe ausgegangen?“ Er trägt noch immer seine Reisekleidung. Sein Gesicht ist rot und er riecht nach Bier. Die Haare stehen ihm wirr vom Kopf.
„Sieht nicht danach aus“, gibt Anna pampig zurück, „und übrigens hatten wir noch kein Frühstück!“
„Dann geht eben eine von euch Milch und ein paar Wecken holen!“ Missmutig kramt Schneider eine Münze aus seiner Hosentasche. Er betrachtet die Mädchen nachdenklich und grummelt: „Aber wirklich nur eine!“
Die Anna halte er für viel zu durchtrieben, die lasse er nicht alleine gehen, entscheidet er. Und die Tesi wäre mit ihren vierzehn Jahren dort draußen verloren. Schließlich drückt er Luise das Geld in die Hand und erklärt ihr, wie sie zum Schaarmarkt kommt: „Aber du bummelst mir nicht draußen herum! Das lass ich deine Freundinnen büßen!“
Luise wird es angesichts des Gewimmels vor der Wirtshaustür ohnehin angst und bange. Sie versteht die Sprache dieser Leute nicht, traut sich nicht, jemanden anzusprechen, wird von der Menschenmenge einfach von einem Marktstand zum nächsten geschoben. Ängstlich blickt sie sich mehrmals um: Ob sie den Weg zurück noch finden würde?
An einer Wegkreuzung entdeckt sie einen Stand, an dem ein kräftiges Weib Milch aus einem großen Behälter schöpft. Scheu reicht sie ihr die Kanne, die Schneider ihr gegeben hat, und das Geld. Die Münzen, die sie zurückbekommt, tauscht sie in einem Bäckereiladen gegen ein dunkles Brot ein. Sie ist erleichtert, als sie in die Herberge zurückgefunden hat.
Schweigend teilen sich die Mädchen ihre karge Mahlzeit. Den Schneider um Wasser für ihren Waschtisch zu bitten, wagt keine. Er hat sie schnell wieder eingeschlossen.
Bald hören sie sein Schnarchen von nebenan.
Auch Anna streckt sich gähnend auf dem Lager aus. Wenig später fallen ihr die Augen zu. Tesi liegt neben ihr und starrt an die Decke.
Luise nimmt am Fußende Platz. Sie ist nicht müde, mag sich am helllichten Tag auch nicht hinlegen. Aber was könnte sie sonst tun? Zu Hause hat sie nie untätig herumgesessen. Immer hatte die Mutter eine Arbeit für sie.
Die Stunden ziehen sich zäh dahin.
Ob Tesi gern mit auf diese Reise gekommen ist? Ob sie, die so selten in der Schule war, überhaupt etwas über Amerika weiß? Oder ob der Schafhirt seiner Tochter befohlen hat, mit Schneider in die Fremde zu ziehen? Vielleicht hat Schneider für Tesi weniger zahlen müssen, weil sie zwei Jahre jünger ist als Luise.
Fünfhundert oder gar tausend Gulden: Dass ein einfaches Bauernmädchen wie sie so viel Geld wert ist, hat sie nicht gewusst. Warum sperrt der Dienstherr sie trotzdem in diese elende Kammer, spendiert ihnen nicht einmal ein paar neue Kleider? Wie gerne würde sie mit den anderen Mädchen darüber reden! Aber das Schweigen wird im Laufe des Nachmittags immer drückender.
Ein kleines Fenster mit einem Sprossenkreuz weist auf die Elbe hinaus. Luise wischt mit einem Rockzipfel ein Guckloch in eine der beschlagenen Scheiben. Dutzende von Dampfschiffen, Großseglern, Lastkähnen und Fischewern liegen vor ihren Augen im Hafen, kreuzen den Strom oder wühlen das Wasser auf. Durch die Schlieren und Blasen im Fensterglas wirkt alles verzerrt wie in einem seltsamen Traum. Möwen kreischen in der Luft, finden sich in Schwärmen zusammen und stoßen gemeinsam auf ihre Beute herab, sobald sie etwas Essbares auf einem Kahn entdecken. Mit ihren gierig aufgerissenen Schnäbeln wirken die riesigen Vögel so bedrohlich wie die Rabenkrähen, die im Frühjahr über Langenhain kreisen.
Endlich geht nebenan eine Tür. Im selben Moment hört das Schnarchen auf. Schneider scheint sofort hellwach zu sein.
„Wo kommst du denn her?“, schnauzt er seine Frau an, „hab ich dir nicht befohlen, mit den Mädchen in die Stadt zu gehen?“
„Wo kommst du denn her?“, äfft Margarethe ihn wütend nach, „sollte ich das nicht fragen?“
Schneider antwortet nicht.
„Du brauchst mir gar nichts zu erzählen. Ich weiß es sowieso: Bei der Hecht im Bordell hast du dich herumgetrieben!“, keift seine Frau ihn an. Luise würde sich am liebsten die Ohren zuhalten. Sie will nichts von diesem Streit wissen und versteht durch die dünne Wand doch jedes einzelne Wort.
Und auch wieder nicht. Denn was ein Bordell ist, weiß sie nicht so genau. Sie hat erst ein einziges Mal etwas darüber gehört. Im Waschhaus hat eine Magd erzählt, dass ihr Dienstherr aus so einem Haus in Butzbach abgeholt werden musste, als der Jahrmarkt vorbei war. Weil er seine Rechnung nicht mehr bezahlen konnte.
„Was tun die Männer dort?“, hatte Luise die Rosa leise gefragt, „ist es sehr teuer?“
„Ja weißt du denn nicht, wo die kleinen Kinder herkommen?“, kreischte diese laut los.
Sie wäre am liebsten im Boden versunken. Dabei konnte sie sich einiges zusammenreimen.