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Meckels Messerzüge. Wilhelm Bartsch
Читать онлайн.Название Meckels Messerzüge
Год выпуска 0
isbn 9788711448786
Автор произведения Wilhelm Bartsch
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Meckels Tote sind die lebendigsten«, höre ich nun heute noch wie damals meinen imponierend groß und gerade gewachsenen Freund Ludwig Wucherer scherzen. »Preußen aber braucht jetzt so scharfäugige Büchsenschützen wie unsern Albrecht, der den Feind auch richtig totschießen kann!«
Ludwig Wucherer war, wie immer, noch gar nicht ganz zur Tür herein gewesen und hatte bereits jenen Raum, dem sonst ein Meckel befahl, mit seiner Vorgabe für das anstehende Gesprächsthema beherrscht. Mein Ludwig konnte sich dergleichen Respektlosigkeiten gegenüber Meckel erlauben und ohne vorherige Anmeldung und ohne anzuklopfen sogar den Präpariersaal des Riesenhauses betreten.
»Da hast du aber was falsch verstanden, Ludwig!«, widersprach Meckel, »meine schönsten Monstren faszinieren den Kenner gerade durch ihre Art von ewigem Leben, also dadurch, dass sie nicht tot sind! Sie haben gar nicht erst gelebt. Albrecht hingegen lebt sehr – und wird einmal dementsprechend tot sein. Das Vaterland braucht den da auf seiner besseren, der lebendigen Seite, Ludwig!«
Meckel liebte Halles neben den Salinenbetreibern wichtigsten Fabrikanten seit jenem Tag im Jahre 1803, als wir unseren Vater matzerierten und sein berühmtes Skelett herauspräparierten. Wer konnte schon wissen, dass Ludwig, der damals gerade auch bei Justine Forster, der Tochter unseres polternden Professors Reinhold Forster, des Weltumseglers mit James Cook, sein perfektes Englisch lernte, 1815 bei der Schlacht von Waterloo der wichtigste und tollkühnste Meldereiter zwischen Wellington und Friederikes Patenonkel Blücher sein sollte. Dann hatte er noch die selbst gewählte Aufgabe, die sogenannte Retourkutsche zu befehligen, welche die Quadriga von den Pariser Tuilerien zurückbrachte auf das Brandenburger Tor.
»Ich habe von unserm Reil gehört«, sagte Meckel, »dass man euch Partisans schön weit weg vom Feind rekrutieren will, in Breslau. Gefällt mir nicht. Kennt ihr nicht jemanden, der unserem Reil mal so eben den Kopf von Napoleon bringt? Stellt euch mal vor, jetzt hat Reil sogar darüber was geschrieben! Traut sich damit zurück von Berlin in sein Haus nach Halle, wenn auch nur seine üblichen zwei, drei Wochen, und kommt so vielleicht doch noch vors westphälische oder französische Standgericht! Und dann dürfen Gall und Spurzheim in Paris, oder dort vielleicht sogar mein verehrter Freund Cuvier?, seinen sturen Friesenschädel mit ihren Messern durchsuchen!« Meckels Auge hatte da auf einmal geblitzt wie noch nie und er rieb sich die Hände.
Ich kannte mein Bruderherz ein bisschen und wusste, dass manch einer seiner Witze in reinsten Ernst umschlagen konnte. Ludwig Wucherer bat ihn auch gleich, sich und Reils gut patriotische Idee doch näher zu erklären. Du wirst es nicht glauben, mein Sohn, Meckel zog ein bereits zerlesen wirkendes Papier unter seiner wie alle seine Arbeitskleidungsstücke schwarzen Weste hervor. Dabei weißt auch du, mein Heinrich, wie penibel getrennt er sein schreibendes von seinem schneidenden Arbeitsfeld zu halten pflegt.
Er ging gleich lesend zur Sache, übrigens mit grimmigem, wenn nicht auf Meckel’sche Weise sogar patriotischem Vergnügen: »Schon um die Zeit des Jahres 1795, als ich die Organisation der Nerven untersuchte, habe ich mich auch mit dem Bau des Gehirns beschäftigt und einige Resultate meiner Untersuchungen im ersten Bande von Gren’s neuem Journal für die Physik abdrucken lassen«, las, nein deklamierte Meckel den Brief von Reil. »Allein, ich musste damals eine Arbeit aus Mangel an Muße liegen lassen, die ich jetzt aus Mangel an Geschäften wieder hervorsuche, den ein unseeliger Krieg, welcher mich aus dem Kreise meiner Zuhörer riss, über mich verhängt hat. Doch auch Disteln haben ihre Honigkelche. Eben dieser Krieg hat mich an seine Quellen geführt und mich zur Untersuchung des Organs hingedrängt, in welchem er und fast alles Missgeschick des Menschengeschlechts, alles Große und Edle, wie alles Kleine und Schlechte, was unter dem Monde geschieht, seine Wurzeln hat ... Denn wenn auch den Toren, an deren Schädel ganz andere Fächer angeschrieben sind, als in welche sie der Zufall geworfen hat, die Gall’sche Schädellehre ein Ärgerniß sein mag; so muss sie doch die Masse in ihr Interesse ziehen, die täglich die Erfahrung macht, wie viel darauf ankomme, die Köpfe zu kennen, deren einer zureicht, eine Generation des halben Erdballs glücklich oder unglücklich zu machen. Möchte es mir gelungen sein, zur Ergründung dieses geheimnißvollen Organs, das die Bedingung, aber zugleich auch die Schranke aller empirischen Idealität und das einzige Problem der Philosophie ist, auch nur etwas beigetragen zu haben; so wäre nie ein Krieg in seinen Folgen heilsamer als dieser gewesen.«
Meckel sah Ludwig und mich wechselweise triumphierend an. »So muss ein Freischärler handeln, wenn er zugleich Anatom ist! Bringe Reil und mir doch einer von euch mit dem Säbel anatomierenden Partisans oder Brigands mal den Kopf von Napoleon!«, rief er grimmig vergnügt in die imaginäre Richtung des deutschen Vaterlandes.
In diesem Augenblick kam Meckels Filipo, das gelehrige Saju-Äffchen, das wir vor zwei Jahren in Neapel von einer Drehorgel weg gekauft hatten, herbeigesprungen und reichte Meckel das Fläschchen mit Kloschwitzer Kirschgeist, mit dem Meckel sein werdendes Präparat schon einmal ringsherum bekannt gemacht hatte. Filipo war eine Person für Meckel, wie du weißt, und er pflegte immer auf den Saju des Brasilienforschers und Prinzen Wied zu Wied hinzuweisen, der schon Eingang in die Personenverzeichnisse mehrerer Bücher gefunden hatte. »Danke, Don Filipo«, sagte Meckel also mit allem ihm gebotenen Ernst, behielt das Fläschchen in der Hand und ließ das Äffchen auf seine Schulter. Dann durchdrangen mich beide mit ihren Blicken, und ich bemerkte erstmals, dass Meckel inzwischen ebenso häufig mit seinen Augendeckeln plinkerte wie sein kleiner neapolitanischer Assistent.
»Aber mach’s, wenn du der erfolgreiche Jäger des Kopfes von Napoleon sein solltest, mit einem Blattschuss!«, sagte Meckel. »Reil breche dann das Hirn nach seiner Methode. Und ich als sein Freund und sein Hirnanatomieassistent darf wohl dabei sein!«
»Unser lieber Onkel Reil!«, wunderte sich Ludwig. »Bei dir hingegen, Onkel Fritz, verblüfft mich dergleichen gar nicht. Wer von euch kam bloß auf die Idee mit dem Napoleons-Kopf?«
»Das geht bei uns doch Hand in Hand«, hatte Meckel da gesagt. »Es ging ein Wort von Napoleon um, das ich meinem Reil weitersagte. Es lautet: ›Meine eiserne Hand befindet sich nicht am Ende meines Armes, sie ist unmittelbar mit dem Kopf verbunden.‹ So. Mich interessieren nun vorrangig solche beeindruckenden Missgeburten, unsern Reil eher deren Hirn. Aber Scherz beiseite. Bringe mir ein Objekt dieser Art, Bruderherz, und ich gebe dir Urlaub für so viele Schlägereien und Raubzüge, wie du möchtest!«
Es gibt ernste Wahrheiten, mein Sohn, die zunächst als launige Scherze auftreten. Daran, dass wir 1814 nach Neapel mussten, mag vor allem das Skelett deines Großvaters schuld sein. Aber daran, dass wir dann dort im Königspalast ein und aus gehen konnten und deinem Onkel deshalb zum Beispiel überhaupt erst richtig bewusst werden sollte, wie sehr er deine Tante doch liebte – das hat auf jeden Fall mit diesem Meckel’schen Scherz begonnen, den ich doch tiefer mir ins Herz eingelassen hatte, als ich damals ahnte und als es mir dann lieb sein sollte ...
»Aber du, Ludwig«, versuchte Meckel weiter, uns vom Partisanenleben abzuhalten, »bist du nicht für an die zweihundert Leute hier in der Stadt und für an die tausend Weber oben auf dem Harzgebirge verantwortlich? Schicke an deiner Stelle doch zehn deiner Männer, die du sowieso gern entlassen würdest, zu dieser ganzen patriotischen Strauchdieberei nach Breslau!«
»Ich muss sowieso nach Breslau, zungenscharfer Meckel«, lachte Ludwig. »Dort bei Froböß und Companie habe ich ja, falls du dich erinnerst, sowohl Kaufmann als auch das Bankenwesen erlernt. Es gibt dort außerdem die sogenannten Russenmärkte. Nun das Folgende: Meine Gorgas-, Serge- und Kasimirproduktion hier in Halle ist jetzt sowieso fast am Ende, schon weil für mich durch die Kontinentalsperre England und Übersee verloren sind. Ich kann also keine neuengländischen Farmer und keine mexikanischen Mestizenbräute mehr bekleiden. Und jetzt auch noch die westdeutsche Konkurrenz – von der durch den sächsischen Zeugdruck gleich nebenan ganz zu schweigen! Dazu kommt, dass ich zwar vor zwei Jahren meinen aus der Fabrik requirierten Farbhölzervorrat zurückbekommen habe, aber das nur durch die Erlegung