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Meckels Messerzüge. Wilhelm Bartsch
Читать онлайн.Название Meckels Messerzüge
Год выпуска 0
isbn 9788711448786
Автор произведения Wilhelm Bartsch
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Es ist noch etwas zu dem Griechen zu sagen. Er hieß Apostopoulos Arsaky, ist ein weltweit geachteter Biologe vor allem auf dem Gebiet der Fische geworden und Meckels bester Schüler, er hat ihn einmal sogar auf einer längeren Forschungsreise begleitet.
Friederike und der immer noch sehr glänzende Fritz kehrten nach fast schon skandalös langer Zeit aus den Tiefen des Riesenhauses zurück. Ich weiß noch, was sie gerade zu Meckel sagte: »Angst vor Toten habe ich also gar nicht, nur mein feines Näschen mag ihren Geruch nicht besonders.« Und Meckel daraufhin: »Das Näsgen sieht auch hübsch aus mit Wattebäuschlein darin. Außerdem helfen drei Theile Kochsalz, anderthalb Theile Braunstein und darüber gegossen zwei Theile concentrierter Schwefelsäure.«
Ich, mein Sohn, war der Erste, der gewusst hat, was kommen wird. Ich war so eifersüchtig wie nie zuvor und nie wieder. Ich hätte meinen Bruder am liebsten in der von ihm zuletzt genannten Substanz aufgelöst!
Ich fühlte mich Fritz gegenüber nur all zu oft wie angesichts unseres Präparats des ungeheuren Schattenzwillings an der Uteruswand.
Was ist da zu sehen?
Ein scheinbares Zwillingskind, das seinen Widerpart an der Uteruswand erdrückt hat. Es scheint, als habe hier der Normalfall das abweichende Andere regelgerecht plattgemacht – platt wie ein Stück Papier. Dabei ist diese ungeheure Kraftanstrengung von genau diesem selber ausgegangen.
Der papierflache Zwilling mit seinem Schmiereffekt sämtlicher wichtiger Organe an der bereits prallvoll besetzten Uteruswand ist vielleicht nicht ein Zeugnis von der allgemeinen Freundlichkeit des Lebens – aber vor allen Dingen ist er ein Gegenbeweis davon, dass das Leben nichtig sei.
Und dieses Mal? Mitte des Octobers von 1806? Ich hatte gedacht, dass auch einer wie Meckel sich hochgeehrt fühlen und dabei ganz normal erröten müsste, wenn ein Kaiser, und kein österreichischer oder russischer, sondern der Cäsar einer ganzen Epoque derart bei ihm sich ankündigte. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es für Meckel längst nicht entschieden war, wer denn in diesem Falle der eigentliche Cäsar wäre – Gast oder Gastgeber.
Irgendwann zwischen 1804 und 1806, als er in Paris im Jardin des Plantes bei Georges Cuvier, Geoffroy Saint-Hilaire und Lamarck weilte, um sich diesen Größten ihres Faches als gleichrangig zu erweisen, muss dein Onkel Fritz eine Begegnung mit dem dort ein und aus gehenden Wissenschaftsfreund Napoleon gehabt haben. Bis weit nach dem Kriegs-October von 1806 hatte er mir davon nichts gesagt, später deutete er es allenfalls nur an. Irgendetwas war jedenfalls geschehen, sei es in der Wirklichkeit oder in Meckels wirklichkeitsträchtigem und -mächtigem Hirn, das ihn bestimmt hat, selber in einem hierarchischen System der Menschheit der berechtigte Mann dafür zu sein, auf einem Pergament zu schreiben, das von einer erhabenen goldenen Biene geziert wird, jedenfalls mehr als der gewalttätige Ägyptenforscher Bonaparte.
Du wirst gleich erfahren, mein Sohn, wie messerscharf dein Onkel noch am Tag nach der Entgegennahme des kaiserlichen Schreibens darauf reagiert hat, allerdings ganz heimlich. Ich glaube, meinen Bruder halbwegs zu kennen, bei all seinen Geheimnissen. Seine Selbstüberhebung ist einfach nur grandios – und irgendwie berechtigt. Das fängt bei unserem Adelstitel an, den wir alle, außer deinem Onkel, recht gern gebrauchen. Sowie jemand in der Anrede Meckel gegenüber auch nur zu einem »von Hemsbach« ansetzt, wird er verbal scharf geschnitten mit seinem »Ich bin nur Meckel!« Stolzer könnte sich der Kaiser von China nicht darbieten. Doch ist dies auch als ein Gemeinmachen, als Leutseligkeit gedeutet worden. Genau dann erlebt man aber Meckel meist in seiner eisigen Höhe und Abgewandtheit von jeglicher zwischenmenschlicher Stallwärme. Andererseits gibt es wohl niemanden auf dieser Welt, der wie Meckel aus heiterstem Himmel in platonische Dialoge geraten kann, die kein Außenstehender begreift. Es kann ein alter, kranker, nicht eben intelligibler Landstreicher sein wie der, der den vierfüßigen Hahn Dante im Riesenhaus abgegeben hat, der genau in Meckel denjenigen findet, dem etwas anzuvertrauen oder mit dem etwas durchzusprechen ist, das den Anschein hat, zu den wesentlichen Geheimnissen des Lebens zu rechnen. Meckel muss auf eine solche Weise auch dem grandios weltweiten Landstreicher Bonaparte in Paris begegnet sein. Wenn aber dem so gewesen sein könnte, wie hätte der Korse Meckel zu einer Schachfigur auf seinem Machtbrett auch nur denken können, ohne dass dieser nicht schon an einen ganz realen Gegenzug gedacht hätte?
Wer weiß, vielleicht gehörten ja schon die beiden Meckel’schen Steinadler von 1806 dazu. Dein Onkel hatte sie für viel Geld – allein ihre Transportation kostete ein halbes Vermögen – aus dem Berner Oberland kommen lassen. Dort war der Laborbiologe und bei Gelegenheit leidenschaftliche Feldbiologe Meckel im Winter selbigen Jahres auch dem Geheimnis des Winterschlafes der Alpenmurmeltiere um einiges nähergekommen. Zwei Kutschen jedenfalls fuhren im Spätsommer-Frühherbst 1806 in das Riesenhaus ein. In einer kreischte es markerschütternd, in der anderen randalierte der Teufel. Die beiden Kutschen blieben noch drei Tage kreischend und randalierend stehen in unserem düsteren Hof. Dann waren die Käfige links und rechts des Riesenhauses am Fuße der Meckel’schen Riesen fertig.
Am meisten an seinem Hause liebte Meckel Atlas und Hercules, die beiden Steinriesen an seinem Eingang. Ihretwegen heißt unser Riesenhaus Riesenhaus. Von Atlas, der seinen Fuß auf eine Seeschlange setzt, ist in der Odyssee gesagt, dass er »sämtliche Tiefen des Meeres kennt« – ein Motiv, das den Sehnsuchts-Neapolitaner Meckel vielleicht am tiefsten bewegt. Beide Riesen lehnen an jeweils einer ionischen Kolossal-Halbsäule und sollen alle wahren Seefahrer des Geistes zur Einfahrt ins Meckel’sche Reich einladen. Was aber wollte Meckel mit diesen gewaltigen und derart gefangen gesetzten Tieren?
Adler – und zwar preußische – gibt es schon im Metopenfries unseres großartigen Hauses. Sie weisen dort mit jeweils einer Flügelspitze – genauso wie ja gleich nebenan der Hohe Giebel der riesigen Franckeschen Stiftungen vor den dreifachen, verkommenen Stadtmauern Halles – hin zu einem zentralen Lichtmotiv, zur aufstrahlen sollenden Sonne Preußens. Aber Meckel liest es vor allem als ein apollinisches Emblem, als einen Leitgedanken seiner Messerzüge zur Erforschung des Lebens: Jupiter habe das Centro der Welt kennenlernen wollen. Er ließ zwei Adler auffliegen im Osten wie im Westen – und beide Adler treffen sich in Delphi! Delphi: Das waren hier in Halle in Meckels Augen nicht Franckens Stiftungen, sondern es war sein Riesenhaus.
Nun hatte er auch noch ein lebendiges Adlerpaar namens Friedrich und Luise da. Sollte das etwa ein Zeichen setzen gegen den Pariser Pflanzgartenkollegen, den Physiker und Ballistiker Bonaparte? Wie dem auch sei, zwei Steinadler hausten jetzt zu Füßen der Riesen, voller hungriger Wut, wenn unser Anatomiediener Starke einmal am Tag mit seinem Korbe unaussprechlicher Fleischesportionen hervortrat. Dann sprangen sie heiser kreischend hervor und krallten sich mit klatschenden Schwingen in die Gitterstäbe. Meist aber hockten sie als die kaum merklichen und unsauberen Schatten bittersten Heimwehs in ihren Winkeln. Friedrich weißte schon nach mehreren Wochen die Seeschlange des Riesen Atlas vollständig, Luise halbwegs die Keule des Hercules. Meckel, so sagte man bald in den besseren Häusern von Halle, wolle wohl das Drama »Prometheus« mit vertauschten Rollen geben, indem dieser seltsame Zootom nämlich die Thierheit an den Kaukasus seiner Wissenschaft angekettet habe.
Vielleicht muss man es gerade so machen, wenn man gegen London und den weltberühmten Pariser Pflanzgarten antreten will. Immerhin geschieht dies in einer immer schon weltweit wirkenden Stadt, die aber stets auch ihr Licht unter den Scheffel stellt, vermutlich aus Versehen.
Halle ist keltisch und heißt Salz. Saale übrigens auch. Salz war mehr wert als Gold. Auf den grandiosen Schlachtfeldern der Geschichte ringsum liegen außerdem versunken und über Jahrhunderte auch gehoben – und nicht zuletzt als potentielle Kriegsgründe – Kupfer, Kohle, Kali und so weiter. Salziger Grund nun ist geistiger Grund, auch geistlicher: Halle ist – darin seinen berühmten Medizinmännern wie Hoffmann und Stahl und den ersten großen deutschen Aufklärern Wolf und Thomasius ähnlich – ziemlich aufbrausend, ja zuweilen ätzend und sogar hinwegfegend veranlagt und zuweilen heroisch wie eine Tirade von Luther oder ein Chor des Londoner Hallensers Händel. Halle ist, zumindest für Deutsche, spürbar ein Freiheitsort, es lebt alle Kantischen Aporien ohne Aufgeregtheit, es ist zutiefst gläubig und zugleich atheistisch. Wo gibt es schon eine Stadt in den deutschen Landen, in der zuerst das Licht der Aufklärung auf