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Meckels Messerzüge. Wilhelm Bartsch
Читать онлайн.Название Meckels Messerzüge
Год выпуска 0
isbn 9788711448786
Автор произведения Wilhelm Bartsch
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Meckels Gast begann sich zu nähern. Wie würde er es hinnehmen, dass weder sein Gastgeber ihn freudig empfangen würde noch dass er eine weltberühmte Attraktion zu sehen bekäme? Vielleicht schoss er das Riesenhaus zusammen. Wenn nicht, konnte er die Sammlung auch einfach konfiszieren.
Dann prasselten von Westen und Süden die Gewehrschüsse heran mit seltsam sich verschlingenden und verirrenden Echos in den Straßen. Die Nord- und Ostseite der Stadt vergrollte ängstlich mit Rädern. Die Reste der stolzen preußischen Armeereserven setzten sich ab. Seltsamerweise war kein Menschenlaut zu vernehmen, kein Siegesgebrüll, kein Schrei eines Getroffenen. Es war nahezu totenstill geworden – unterstrichen von ganz vereinzelten Schüssen –, als die Reiter zu hören waren. Sie drangen in die Stadt.
Innerhalb der gewaltigen, wenn auch morschen Stadtmauern klang es, als sollte das uralte Halle unter Steinlawinen begraben werden. So jedenfalls vernahm es das sich ängstigende Ohr. Es vernahm jetzt auch vereinzeltes Geschrei und das Splittern von Glas und Holz. Das war die beutehungrige »Schwefelbande« des Marschalls Bernadotte mit ihren großen blanken Löffeln am Hut, die nur wenig Zeit zum Marodieren und Plündern mitgebracht hatte. Sie bildete im October 1806 die Avant-Garde der kaiserlichen Armee auf dem Weg nach Berlin.
Kurz darauf kamen sie, zunächst die Einquartierungsabteilung, dann die Mamelucken, die sich in der Toreinfahrt vor den Riesen und Adlern postierten. Dann erblickte man von unserem Haus über den Großen Berlin und durch die Große Märkerstraße bis auf den Marktplatz links und rechts und Mann an Mann die berühmte Alte Garde mit ihren abenteuerlichen Bärten und Bärenfellmützen. Sie bildete die Gasse, durch die ER kommen musste.
Man hörte ein einzelnes Pferd im scharfen Galopp herannahen, und schließlich sah man den schwarzen Zelter mit goldenem Hauptschmuck und lichtblauer Schabracke und auf ihm eine Gestalt wie aus einem maßlosen Märchen, mit Federbüschen, goldenem Schwert, in blutroten Pantalons und in gelben Stiefeln, mit dem wallenden lockigen Haar über dem Kragen eines azurfarbenen Pikeschenrockes und so weiter und so fort. Das war meine erste Begegnung mit dem genäschigen Sohn einer südfranzösischen Gastwirtin, die ihm schon seit dem Ägyptenfeldzug einen Topf Traubenmus nach dem andern bis direkt auf die Schlachtfelder nachzuschicken pflegte. Das war der sagenumwobene Reitergeneral Joachim Murat, der nachmalige Schwager Napoleons und König von Neapel. Merke hier auf, Heinrich, denn dieser teils liebenswerte, teils furchtbare Irrwisch zwischen Lächerlich und Erhaben sollte später noch das Schicksal von uns Meckeln vielleicht tiefer beeinflussen, als wir jemals herausfinden können. Das also war der Mann, der sich willenlos wie ein Kind im Schoße seiner hintergründigen Karoline auszuweinen pflegte und der zugleich, wie die Kaiserin Josephine dann einmal sagte, auf eine Meile nach Kanonenpulver rieche und imstande sei, den Herrn im Himmel niederzusäbeln.
Achim Murat hielt vorm Riesenhaus und beugte sich vom Pferd herab zu den Mamelucken. Da bemerkte ich, dass es Napoleons getreuer Mameluck Roustam war, dem Murat etwas ins Ohr flüsterte und sogleich scharf nach rechts wieder davonsprengte.
Napoleon aber ließ sich Zeit. Mir war, als hörte ich mitten im Hurra der Alten Garde am Markt zugleich ein mehrstimmiges, wütendes »Pereat!« gegen Napoleon. Der Rest ist bekannt und führte zur Schließung der bedeutendsten Arbeits-Universität der deutschen Lande. Es ging auch das Gerücht von einem missglückten studentischen Gewehranschlag auf den Kaiser. Sieben Jahre später dann, im wieder preußischen Halle, konnte man deinen Onkel diebisch grienen sehen, wenn die Sprache darauf kam. Aber wenn man die Vermutung äußerte, was er davon wisse, antwortete er eigenartig, dass er doch »kein Desperado« sei. Nun – der Desperado in dieser Familie bin ja wohl ich ...
Napoleon kam auf einem unscheinbaren braunen Pferd. Er war selber unscheinbar – für den ersten Moment. Und er war wütend. Er eilte seinem Roustam nach in unser Haus und beachtete uns zuerst gar nicht.
Dann sprach er nicht gerade leise und höflich mit unsrer Hofräthin Meckel, die nicht ein bisschen stolz darauf zu sein schien, einem Kaiser das Diner richten zu können. Aber immerhin hatte sie für die zweitägige Anwesenheit solcher Gäste das Tafelgeschirr aus Sankt Petersburg aufgesetzt, alles Zarensilber.
Napoleons fernere militärische Bedienstete allerdings brachten zwei Tage später bei seiner und ihrer Abreise feinlederne Säcke mit sich. Darin verschwanden die russischen Schätze, ganz schaamlos offen und unabgewaschen außerdem. So hat es einer der vielen sonstigen Gäste unseres Hauses, Ernst Moritz Arndt, in seiner Königsberger Schrift »Die Glocke der Stunde« von 1813 berichtet, deinem Lieblingsstück, mein lieber Heinrich, das ich dir schon so oft vorlesen musste, weil deine Großmutter so gut darin wegkommt. Wie endet jene Szene bei Arndt? »Ein solcher will Kaiser heißen.« Übrigens, was das Zarensilber betrifft: Die Geheimräthin Meckel klagte gegen Frankreich – und gewann, Monate später. Das Silber kehrte heim – allerdings ohne die sieben vielarmigen Leuchter ...
Stunden nach seiner Ankunft und einem Inspektionsritt durch Halle hatte mich Napoleon vorgelassen. Ich war auf alles vorbereitet. Ich war sogar bereit, für meinen Bruder zu sterben ... Napoleon stand am Erkerfenster und schaute auf den Großen Berlin hinüber. Er hatte sich beruhigt, ja er schien sogar guter Dinge zu sein, denn ein Papier nach dem andern mit anscheinend nur guten Nachrichten gelangte in seine Hände. Immer öfter lächelte der Kaiser.
Es war kein gewinnendes, sondern ein seltsam bedrückendes Lächeln. Ich sah, dass Napoleon im Grunde nur einen einzigen Lachzug benutzte, den Musculus risorius im linken Mundwinkel. Normale Menschen müssten lange üben, um dergleichen in einem ansonsten starren Gesicht auszulösen.
Ich hatte schließlich dem Kaiser noch einmal durch einen Dolmetsch zu bestätigen, dass Meckel dringlichst verreist und deshalb seine Sammlung geschlossen sei.
Napoleon sagte nichts und kniff nachdenklich sein Kinngrübchen. Er blickte mich starr an, oder vielmehr durch mich hindurch. Scheinbar war er in Gedanken wieder an ganz andrer Stelle, aber nur scheinbar.
Vielleicht in diesem Augenblick schon war in den zehntausend Seitenfalten und -taschen dieses Gedächtnis-Elephanten ein Entschluss gefasst worden, der das Leben von uns Meckels entscheidend zu prägen die Macht hatte. Dann wendete sich Napoleon wieder brüsk dem Erkerfenster zu und klopfte mit einer gerollten Depesche auf die Finger seiner Linken in seinem Rücken.
Ich überlegte schon, ob ich mich entfernen solle, als der Kaiser mich quasi mit seinem kleinen Finger heranwinkte, ohne sich mir auch nur halbwegs zuzuwenden dabei. Dann wies Bonaparte mit dem Mittelfinger hinaus auf den Großen Berlin, der von französischem Militär nur so wimmelte, darunter zum allgemeinen Spaß die alljährlich in Halle gastierenden englischen Bereiter.
Vor allem die Kinder liebten diese Seiltänzer- und Schabernacktruppe, die mindestens einmal im Jahr in die Stadt kam. Aber nicht auf diese wies der kaiserliche Mittelfinger, sondern hin zum Norzel’schen Haus. Ich setzte an zu einer Erklärung, doch der Imperator machte bloß »pschschsch«. Denn gerade rannte dort unten Norzels gigantischer Ziegenbock Martinus in den zugespitzten Eisenfuß des »Adlers«, der stolzen Fahne des ersten Regimentes zu Fuß von Napoleons Alter Garde. Und alle applaudierten dem Torero, dem bärtigen Adlerträger – Franzosen, Engländer, die meisten Deutschen.
Die besten Köpfe braucht das Land
Bereits am Silvestertag von 1812 erfuhren Halles preußische Patrioten von General Yorcks welthistorischer Tat, der Konvention mit den Russen gegen Napoleon tags zuvor. Es müssen also Chappes Balken-Telegraphen auf der ganzen Linie bis nach Tauroggen hinauf schon fest in patriotischer Hand gewesen sein. Der letzte Abschnitt des Nachrichtenweges bestand aus einem scharfen Ritt über die Grenze und in die östlichste Stadt des Königreiches Westphalen, Halle an der Saale. Jedenfalls konnte Preußens König jetzt nicht mehr lange zögern und erließ am 3. des Februars endlich seinen Aufruf an das Volk zum Widerstand gegen die französischen Besatzer und zur Bildung freiwilliger Jägerkorps. Höchstvermutlich ging das preußische Hauptquartier nun nach Breslau,