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bei Louis van Gaal weit und breit keine Spur: Gerade einmal 1.500 Fans waren zum Marienplatz gepilgert, um den Meister hochleben zu lassen. Beobachter berichteten, Sepp Maier hätte die Meisterschale unter den Arm geklemmt, »als sei sie ein neuer Haushaltsgegenstand für seine Frau«.

      Schon in der Kabine nach dem Spiel gegen Köln hatte Paul Breitner gemosert: »Kann denn in diesem Scheißverein keiner feiern…«, und meinte damit vor allem die Führungsetage. Ein Großteil der Spieler ließ sich von Breitner breitschlagen und sprang mit Sektflaschen bewaffnet ins Entmüdungsbecken. Dumm nur, dass die Presse an diesem Tag ausnahmsweise in der Umkleidekabine zugelassen war und die Fotos der splitterfasernackten Fußballer am nächsten Tag die Titelseiten der Boulevardpresse zierten. Das hatte es im deutschen Fußball noch nie gegeben. Und so folgte ein Sturm der Entrüstung. Bundestrainer Schön sprach gar von »Pornografie«, und Bayern-Präsident Neudecker wollte den »Revoluzzer« Breitner umgehend verkaufen. Seine Aussage: »Sonst habe ich in Kürze Verhältnisse, wie sie an den Hochschulen herrschen«, macht dann doch ziemlich deutlich, wie konservativ es in der Führungsriege des FC Bayern zuging. Die Nähe zur CSU jedenfalls hat in all den Jahren kein Bayern-Boss geleugnet. Die Mannschaft stellte sich jedoch hinter Breitner. Zum Glück, denn dieser laufende Afrolook verkörperte nicht nur durch seine Haare, sondern auch durch die furchtlosen Äußerungen gegen die Bosse und Gegner den Kampf gegen das Establishment, den wir als Jugendliche selbstverständlich unterstützten. Außerdem spielte er Fußball mit einem verdammt hohen taktischen Verständnis, so dass Gerd Müller feststellte: »So einen Verteidiger kriegen wir nie wieder« – und Breitner eben doch blieb.

      Vom »Gewichtheber« zum »Bomber der Nation«

      Und so einen Torjäger wie Gerd Müller bekommt die Welt wahrscheinlich auch nicht wieder. Sogar Franz Beckenbauer sagte einmal: »Alles, was der FC Bayern geworden ist, all die Erfolge, verdankt er Gerd Müller.« Der war schon als junger Bursche ein erfolgreicher Vollstrecker, der in einer Saison unglaubliche 180 von 204 Toren seiner Mannschaft erzielt hatte. Als er im Alter von 18 Jahren zu den Bayern wechselte, fragte Trainer Čajkovski: »Was soll ich mit einem Gewichtheber?«

      Doch Müller strafte alle seine Kritiker Lügen: Mit 365 Bundesligatoren in 427 Spielen stellte er einen Rekord für die Ewigkeit auf, er schoss das entscheidende 2:1 im WM-Finale 1974, er wurde Torschützenkönig bei der WM 1970 mit zehn Treffern und war an allen Erfolgen der Bayern in den siebziger Jahren maßgeblich beteiligt. Er machte seine Tore im Fallen, er machte sie mit dem Fuß, dem Kopf oder, wenn es sein musste, auch mit dem Hinterteil. Liebend gern auch nach Doppelpässen mit Franz Beckenbauer. Nur von außerhalb des Strafraums »müllerte« es ganz selten.

      Sinnigerweise wollte bei unseren Spielen auf der Straße kaum einer Gerd Müller sein. Denn so richtig war bei ihm kein besonderer Stil zu erkennen, den man hätte imitieren können. Der Mann war einfach immer nur genau da, wo Torgefahr in der Luft lag, und machte meistens intuitiv die richtige Bewegung, die dann zum Erfolg führte. Typisch für ihn der Treffer im WM Finale 1974 gegen die Niederländer, als er nicht die halbwegs freie Schussbahn auf das kurze Eck suchte, sondern sich blitzschnell noch ein wenig mehr herumdrehte und den Ball seinem Gegenspieler durch die Beine schob, um nahezu unmöglich in der langen Ecke zum Erfolg zu kommen. Gerd Müller war einfach unverwechselbar und nicht zu kopieren. Und auch wenn Miroslav Klose die 68 Länderspieltore des »Bombers der Nation« noch einholen sollte, darf man dabei nicht vergessen, dass Müller dies in nur 62 Spielen schaffte.

      Man kann das Zitat von Franz Beckenbauer allerdings auch umdrehen. Alles, was Gerd Müller geworden ist, verdankt er auch dem FC Bayern. Nach der Karriere war der einstige Superstar gestrauchelt, wusste nichts mit sich und seinem Leben anzufangen und begann zu trinken. Aber auch in solchen Situationen zeigt sich der FC Bayern nicht nur als großer Klub, sondern fast schon als Familie. Vor allem Beckenbauer und Hoeneß kümmerten sich nun um ihren Freund und Ex-Kollegen, organisierten eine Entziehungskur und boten Müller danach einen Posten in der Jugendabteilung des Klubs an. Müller kam wieder auf die Beine und sagte später dankbar: »Wenn ich damals keinen Job bekommen hätte, wäre die ganze Scheiße wieder von vorne losgegangen. Allein hätte ich das nicht geschafft.«

      Dass der FC Bayern Gerd Müller in dessen schwerster Lebenskrise auffing, ist nur ein Beispiel von vielen, die deutlich machen, dass das Unternehmen Bayern trotz seiner Millionenumsätze auch ein Sportverein mit menschlichem Antlitz geblieben ist. Das Credo »Mia san mia« beschreibt einerseits das Selbstbewusstsein des Welt-Klubs, aber es drückt gleichzeitig die Heimatverbundenheit aus – und belegt, dass es sie wirklich gibt, die viel zitierte Bayern-Familie.

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      Der »Bomber der Nation« in typischer Schusshaltung. Hier erzielt der junge Gerd Müller gegen den 1. FC Kaiserslautern eines von fünf Bayern-Toren – beim Heimspiel der Saison 1966/67, noch im alten Münchner Stadion an der Grünwalder Straße.

      Nummer eins in Europa

      Auf dem Höhepunkt des Müller’schen Schaffens in den frühen siebziger Jahren war der Verein in der Bundesliga Alleinunterhalter, in Europa aber noch keine große Nummer. Also gab Präsident Wilhelm Neudecker neue Ziele aus. Der Cup der Landesmeister würde noch fehlen in der Titelsammlung, erklärte der Bayern-Boss. Und die Mannschaft ließ sich nicht zweimal bitten. Neben dem Gewinn der dritten Deutschen Meisterschaft in Folge – diesmal allerdings nur mit einem Zähler Vorsprung vor Borussia Mönchengladbach – erklomm das Starensemble von der Isar in der Saison 1973/74 den europäischen Fußballthron.

      Der Gewinn des Europapokals 1974 ist unmittelbar mit einem Namen verbunden, der ansonsten so oft vergessen wird, wenn man die Stars der Bayern aufzählt – nämlich mit Georg »Katsche« Schwarzenbeck, seines Zeichens kompromissloser Vorstopper, den eine englische Zeitung einmal als »halb Mensch, halb Stier« beschrieben hat. Der FC Bayern München dominierte das Finale gegen Atlético Madrid, die Führung in der Verlängerung erzielten jedoch die Spanier. Der Schiedsrichter hatte die Pfeife bereits im Mund und wollte abpfeifen, als Schwarzenbeck in der 120. Minute nach vorn stiefelte und aus rund 30 Metern abzog. Franz Beckenbauer soll ihm zugerufen haben: »Schieß einfach«, und der treue »Katsche« tat meist, was sein Kapitän ihm sagte, schoss also und traf. Später sagte der Urbayer einmal zu seinem Tor: »Do hätt’ net amoi da Pelé zielen kenna« (auf Hochdeutsch: »Da hätte nicht einmal der Pelé zielen können«). Der Schriftsteller Wolf Wondratschek widmete Schwarzenbeck sogar ein Gedicht, in dem es heißt: »Merkwürdig, dass so einer, eckig wie eine leer gegessene Pralinenschachtel, etwas trifft, das rund ist.«

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      Zum ersten Mal gewinnt der FC Bayern 1974 den Europapokal der Landesmeister, die heutige Champions League. Es jubeln: (hinten von links) Schwarzenbeck, Roth, Breitner, Zobel, Hansen, Müller, Beckenbauer, Hoeneß. Vorn: Maier, Kapellmann, Torstensson. In den folgenden beiden Jahren wird der Cup zweimal verteidigt.

      In dem damals noch üblichen Wiederholungsspiel beschränkte sich der »Adjutant« des Kaisers« auf seine ureigenste Aufgabe, das Verteidigen. Seine Kollegen, angeführt von einem überragenden Uli Hoeneß, zauberten die Spanier auseinander und gewannen mit 4:0. In der Saison 1974/75 lief es dann für den Europapokalsieger in der Liga alles andere als rund, zwischenzeitlich schwebten die Münchner sogar in Abstiegsgefahr. Ihr erstes Spiel hatten sie mit 0:6 bei den Offenbacher Kickers verloren. In der Winter-pause suchte Lattek das Gespräch mit dem Präsidenten. »Herr Neudecker, wir müssen etwas ändern«, soll Lattek zu Neudecker gesagt haben, worauf der sofort einstieg und sagte: »Sie haben Recht. Sie sind gefeuert.«

      Cognac gegen die Nervosität

      Lattek wurde durch Dettmar Cramer ersetzt, für die Mannschaft so etwas wie ein Kulturschock. Denn der neue Mann war ein ausgesprochener Gentleman. Ein Stratege, der sich nicht nur praktische Gedanken über den Fußball machte, sondern fast schon philosophisch über dieses Spiel zu referieren wusste. Ich habe Anfang der neunziger Jahre selbst einmal in einem langen Gespräch anlässlich eines Porträts, das ich für unser geliebtes

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