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habe Frau Faber mit voller Absicht töten wollen.«

      Der Richter läßt sich nicht aus der Ruhe bringen. »Das wissen wir. Das haben Sie uns bereits mehrfach gesagt. Jetzt erzählen Sie, wie es dazu kam … erzählen Sie von Ihrer Jugend!«

      Regine Rau wehrt sich. »Das hat doch damit nichts zu tun.«

      »Diese Entscheidung müssen Sie schon uns überlassen. Es ist unsere Aufgabe, uns ein Bild Ihrer Persönlichkeit zu machen, verstehen Sie? Also … wie alt waren Sie, als Sie ins Waisenhaus kamen?«

      »Ich war drei Jahre alt, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern …« Langsam, stockend erst, beginnt die Angeklagte zu erzählen. Das Bild ihrer Jugend, ihrer Vergangenheit steigt im Gerichtssaal auf …

      Regine Rau war ohne Eltern aufgewachsen. Die Schwestern vom Orden des heiligen Vinzenz von Paul hatten sie aufgenommen. Im Waisenhaus am Rand der Stadt spürte sie wenig Luft und Sonne. Die Nonnen versuchten, die Eltern zu ersetzen. Sie taten ihr Bestes — und doch mußte dieses Beste immer noch zu wenig sein.

      Keine liebende Hand strich Regines Wangen. Auch wenn eine der jüngeren Nonnen das artige Kind mit den großen braunen Augen besonders lieb hatte, so wagte sie es doch nicht zu zeigen. Keines der Kinder durfte vorgezogen werden. Nie fielen die Worte: »Meine liebe Regine …«

      Es war kein schlechtes Leben im Waisenhaus, und doch war es armselig. Weil den Kindern das Beste und Wichtigste fehlte: die Elternliebe. Jeder Tag begann mit einem Glockenschlag, mit einem Dauerlauf, kalter Dusche, Andacht, Frühstück. Jede Stunde des Tages war ausgefüllt. Die Ferien unterschieden sich kaum von der Schulzeit: keines der Kinder hatte ein Zuhause, in das es verreisen konnte.

      Regine Rau war eine gute Schülerin. Die Mutter Oberin schickte sie auf die Handelsschule. Man hätte lieber gesehen, daß sie Kinderschwester wurde. Aber auch im Waisenhaus gab es eine Menge Papierkram zu erledigen. Da würde es ganz recht sein, wenn Regine das Kaufmännische gründlich lernte. Daß Regine im Kloster blieb, das war der Mutter Oberin und den anderen Schwestern ganz selbstverständlich.

      Aber Regine wollte nicht. Sie sagte es am Tag, als sie die Handelsschule beendet hatte und ihre Arbeit im Kloster antreten sollte, frei heraus. »Nein!«

      Sie war den Nonnen dankbar für alles, was sie für sie getan hatten, sie schätzte sie hoch und verehrte sie. Aber sie wußte in der Tiefe ihres Herzens, daß sie für dieses Leben nicht geschaffen war. Sie brauchte Liebe, sie hungerte nach Liebe, menschlicher Liebe.

      Regine bat die Mutter Oberin um Verzeihung, knickste tief, küßte ihre Hand. Kein böses Wort kam über die Lippen der Mutter Oberin, mild blieb der Blick ihrer hellen Augen. Aber Regine wußte, daß sie ihre Gönnerin tief enttäuscht hatte, sie wußte, daß sie jetzt auch die Heimat des Waisenhauses verloren hatte. Sie war hinausgestoßen ins wirkliche Leben. Von jetzt an lautete ihr Gebet: »Gib uns unser tägliches Brot!«

      Sie fand Arbeit im Architektenbüro Faber. Als eine von vielen saß sie im Schreibsaal, dachte nur an ihre Arbeit. An sich selbst dachte sie nicht. Erst als Peter Faber sie zum erstenmal zu sich hatte kommen lassen, sah sie in einen Spiegel, nachträglich. Sie stellte fest, daß ihre Frisur unvorteilhaft und daß sie schlecht angezogen war.

      Doch das Wunder geschah. Peter Faber erkannte, daß ihre Arbeit weit über das Mittelmaß hinausging. Er machte sie zu seiner Sekretärin.

      Von Geld wurde nicht gesprochen. Geld war Regine Rau ganz unwichtig. Sie war ehrlich überrascht, als sie am nächsten Monatsende einen erheblich höheren Betrag als bisher ausbezahlt bekam. Für sie war nur etwas entscheidend — daß Peter Faber sie brauchte, daß irgend ein Mensch auf der Welt sie wirklich brauchte.

      Es dauerte nicht lange, dann wurde Regine in der Akazienstraße 18 — dort wohnte Peter Faber — seiner Gattin vorgestellt.

      Herta Faber lachte schrill: »Wie, bitte? Sie arbeiten mit meinem Mann? Das soll ich Ihnen glauben? Seine Geliebte sind Sie!«

      Wortlos öffnete Peter Faber die Tür zu seinem Arbeitszimmer, bat Regine, einzutreten. Sein Gesicht war unbeweglich …

      So weit ist Regine Rau mit ihrer Erzählung gekommen, als aufsteigende Tränen ihre Stimme ersticken. Ihre Wangen sind gerötet, ihre Augen glänzen feucht.

      Die Stimmung im Schwurgerichtssaal ist umgeschlagen. Niemand kann sich eines mitleidigen Gefühls für die Angeklagte erwehren. Was sie auch getan hat, eines steht fest: wenig Glück, wenig Liebe hat sie in ihrem Leben gehabt. Immer ist sie ein verlorener, verstoßener Mensch gewesen.

      Eifrig haben die Reporter mitgeschrieben.

      2

      Regine Rau holt tief Atem, kämpft das Schluchzen nieder, das sie in der Kehle würgt. Nein, sie will nicht schwach werden, will kein Schauspiel bieten, nicht unter all diesen neugierigen, mitleidlosen Blicken.

      Die Geschworenen sind verwirrt. Es sind Männer und Frauen aus dem Volk ohne juristische Vorbildung. Sie kommen aus den verschiedensten Kreisen, haben sich vorher nie gekannt und nur eines gemeinsam: sie sind über dreißig Jahre alt und unbescholten. Sie sind zu Geschworenen, zu Mitrichtern, in diesem Schwurgerichtsprozeß bestimmt worden, damit sie mit ihrem gesunden Menschenverstand die Berufsrichter beraten. Ihre Aufgabe ist es, die Schuld der Angeklagten zu erkennen, nicht das Strafausmaß zu bestimmen.

      Das ist eine große, eine verpflichtende Aufgabe, und sie sind sich dessen bewußt. Und doch sind sie alle, ohne daß sie sich selbst darüber klar waren, mit einem gewissen Vorurteil in den Prozeß gegangen, einem Vorurteil, das durch die Zeitungsberichte über diese Tat verursacht worden ist. Jetzt, nach Regine Raus Bericht über ihre freudlose Jugend und ihrem ersten Zusammentreffen mit der Frau ihres Chefs, sieht alles auf einmal anders aus.

      Landgerichtsdirektor Dr. Winkler merkt die veränderte Stimmung im Gerichtssaal. Er spürt, daß die Angeklagte Sympathien gewonnen hat — das hat er nicht beabsichtigt.

      Er streicht sich mit der Hand über die spiegelnde Glatze, zeigt jetzt offen sein Lächeln, ein böses Lächeln. »Angeklagte«, sagt er zynisch, »zugegeben, Ihre Geschichte klingt sehr rührend … aber immerhin ist die Haltung von Frau Faber doch menschlich durchaus verständlich!«

      Rechtsanwalt Dr. Beermann springt auf. »Ich erhebe Einspruch!«

      »Das bleibt Ihnen unbenommen, Herr Verteidiger«, sagt der Richter kalt, »aber ich bin überzeugt, jeder sittlich empfindende Mensch wird mit mir übereinstimmen, daß es eine Zumutung für die Ehefrau ist, wenn der Mann seine Geliebte in die eheliche Wohnung bringt.« Er beugt den Kopf ruckartig vor und wirkt wie ein Raubvogel, der auf sein Opfer herunterstößt. »Angeklagte, Sie waren doch schon damals die Geliebte Peter Fabers … oder wollen Sie das leugnen?«

      Regine Rau wird weiß bis an die Lippen. Sie muß für Sekunden die Augen schließen. Nicht die Frage an sich ist es, die sie so erschreckt, sondern die Art, wie sie gestellt worden ist. Schlagartig erkennt sie, daß Dr. Winkler ihr kein gerechter Richter sein will, daß er ihr Feind ist, ein Feind ohne Gnade.

      Sie spürt einen leichten Griff um ihren Arm, öffnet die Augen. Die Justizbeamtin Müller, die sie aus der Untersuchungshaft vorgeführt hat, reicht ihr ein Glas Wasser. Dreißig Jahre ihres Lebens hat diese Frau mit Straffälligen hinter Gefängnismauern verbracht. Alles Leid, das über Menschen kommen kann, ist ihr vertraut. Aber diese Erfahrungen haben sie nicht hart gemacht, sondern ihr ein seltenes, tiefes und menschliches Verständnis geschenkt.

      Aus ihrem guten, mütterlichen Blick schöpft Regine Rau neue Kraft.

      »Ich war nicht seine Geliebte!« sagt sie laut und klar.

      »Damals also noch nicht«, konstatierte Doktor Winkler kalt, »aber er hat Ihnen doch zu jener Zeit wohl schon Liebesanträge gemacht?«

      »Das hat Peter Faber nie getan!«

      »Nie?!« Es sieht aus, als müßte der Richter jetzt geradezu ein Lachen unterdrücken. »Dann erklären Sie uns doch, wie es zu dem intimen Liebesverhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Chef gekommen ist!«

      Regine

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