ТОП просматриваемых книг сайта:
Das große Lise-Gast-Buch. Lise Gast
Читать онлайн.Название Das große Lise-Gast-Buch
Год выпуска 0
isbn 9788711508770
Автор произведения Lise Gast
Издательство Bookwire
„Ach, da bist du ja“, sagte Mützchen und stand lebhaft auf. „Wie gut, daß du kommst! Ich werde rasch Kaffee aufbrühen. Den Tisch hast du gedeckt? Danke, Regele. Ja, komm, du kannst dem Onkel solange Gesellschaft leisten!“
Regine trat heran. Der Onkel saß in Onkel Hannes’ tiefem Stuhl und sah ihr freundlich entgegen. Er zog sie, als sie ihn begrüßte, mit der Hand ein wenig näher zu sich heran. Regine gehorchte, als er sie bat, sich ein bißchen zu ihm zu setzen. Das hatte er schon einmal getan, an jenem ersten Tag, als sie sich begegneten. Er rauchte eine Zigarre, legte sie aber jetzt weg.
„Du hast mir einen so schönen, langen Brief geschrieben“, begann der Onkel nach einer Weile, „wie schön du es hier hast und wie lieb alle zu dir sind. Deine Tante sagte eben auch, wie herzlich gern sie dich hat. Ich war eigentlich gekommen, um dich zu fragen, ob du nicht doch einmal zu mir kommen willst, wenigstens in den Ferien.
Vielleicht kannst du dir nicht vorstellen, wie es ist, so allein zu leben, wie ich es jetzt muß, seit meine Frau nicht mehr da ist. Ich habe natürlich eine ganze Menge Menschen, mit denen ich sprechen muß, im Büro, in der Fabrik, und bei Verhandlungen. Aber ich habe keinen, der ein bißchen mit mir lacht und fröhlich ist. Und da hatte ich mir das ausgemalt, daß du vielleicht doch mitkämst.
Jetzt, als ich ein bißchen bei ihr saß, erzählte mir deine Tante, du wärst gar nicht mehr so fröhlich wie vorher. Du wärst so ganz anders. Regine, ich habe mir das jetzt überlegt. Sich ein Kind mitnehmen wie ein buntes Spielzeug, das man sich kauft, damit man in Freistunden seine Freude daran hat – ich glaube, das darf man nicht. Auch, wenn man dem Kind dafür alles geben kann, was es sich wünscht: ein schönes Leben in einem großen, warmen Haus, eine gute Schulbildung und noch vieles mehr. Aber ein Kind zu sich nehmen, das einen Kummer hat, gut zu ihm sein und Zeit dafür haben und ihm allmählich den Kummer überwinden und heilen helfen, das darf man doch? Oder meinst du nicht? Hast du denn solches Heimweh nach deinem großen Bruder?“
Er sagte das so lieb, halb scheu und auch ein bißchen ungeschickt. Regine sah ihn einen Augenblick voll an. Und da sah sie, daß seine Augen lieb und sehnsüchtig blickten, so gut, so freundlich und besorgt.
Sie gab sich einen Ruck und nahm ihn ganz schnell um den Hals. Er saß so niedrig, es ging ganz gut. Sie merkte, daß er ein bißchen erschrak. Bei ihr ging ja meistens alles so schnell, daß die andern nicht recht mitkamen. Aber das war nur ein Augenblick. Dann schloß er seine Arme um sie und hielt sie vorsichtig und zart an sich gedrückt.
„Kannst du es mir nicht sagen, Regine?“ fragte er nach einer Weile. Er fragte es ganz leise.
„Doch!“ schluckte Regine, ohne sich zu rühren. Wenn nur Mützchen jetzt nicht käme!
Mützchen war schrecklich lieb, aber Zeit hatte sie eigentlich nie für einen. Immer ging alles hopphopp bei ihr. Regine holte tief Luft.
„Onkel Henry, schenk mir fünf Mark! Oder sechs!“ flüsterte sie ganz schnell. So viel ungefähr mußte eine solche Kellerfensterscheibe wohl kosten. Sie wollte ihm gern wiedergeben, was übrigblieb, wenn sie billiger war. Aber das alles ließ sich nicht so schnell erklären. Sie merkte nur, daß er sich ein wenig bewegte. Ob er nun böse war? Sie wagte nicht, ihn anzusehen.
„Hast du einen Wunsch, der so viel kostet? Oder hast du“ – er lachte ganz leise –, „hast du was ausgefressen, Kind? Das kommt ja nicht nur bei Jungen vor. Nun sei mal tapfer, und gib es zu, gar so schlimm wird es ja wohl nicht sein!“
Daß er das sagte! Gerade das! Regine löste die Arme von seinem Hals, bog sich ein wenig zurück und sah ihn nun doch an. Wahrhaftig, seine stahlblauen, früher herrischen Augen lachten. Sie lachten herzlich und lustig.
„Ich war doch auch einmal ein Junge, der uneingestandene Dummheiten mit sich herumtrug. Also heraus damit! Was zerschmissen und nicht gebeichtet. Ich dachte mir’s doch.“
„Onkel Henry, du bist – du bist...“ Regine lachte und schluchzte gleichzeitig, und dann erfuhr der Onkel die ganze Geschichte, die noch niemand wußte. Sie kam zutage, durcheinander wie Kraut und Rüben, die Scheibe und der Ausflug und Hannesles Krankheit und daß es am ersten Tag eben nicht ging, sofort zu beichten, und daß es nachher so viel, viel schwerer war und eigentlich überhaupt zu spät. Der Onkel hörte sich alles an und klopfte ihr dann die Backe.
„So. Na, das hätten wir! Die Scheibe, Regine – oder Regele, so heißt du wohl bei denen, die dich liebhaben –, also die Scheibe übernehme ich. Einverstanden? Gut. War es das? Wirklich? Sonst nichts?“
„Sonst nichts, Onkel Henry“, sagte Regine und seufzte tief auf. Ach, wie gut das tat, wenn man es endlich von der Seele herunter hatte! „Sonst ist es so schön hier!“
„Das glaube ich.“ Auch er seufzte ein wenig, aber anders als sie. „Und so was Schönes habe ich eben nicht für dich. Geschwister, das Wichtigste für ein Kind, kann ich dir nicht geben – tja, da war es also nichts mit meinem Traum.“
„Bist du sehr traurig? Aber wenn ich vom Hannesle weg müßte...“
„Und von den andern auch. Ich glaube es dir. Verstehst du dich auch mit den großen Jungen so gut?“
„Sehr. Sie sind ja nur wenig zu Hause, deshalb freuen wir uns alle so sehr auf die Ferien. Sie fahren in der Schulzeit am Morgen so zeitig fort und kommen erst um halb drei Uhr wieder, manchmal noch später.“ Regine, das Herz vom schlimmsten Kummer befreit, begann zu erzählen und zu schildern. Sie merkte gar nicht, daß sie auf der Seitenlehne des Stuhles saß, in dem der Onkel lehnte, und daß er noch immer den Arm um sie gelegt hatte, fest und gut.
Mützchen kam so bald nicht wieder. Vielleicht hatte sie in der Küche wieder einmal etwas verschusselt, fand den Kaffee nicht oder hatte die Milch verschüttet.
Nein, Mützchen hatte nichts verschusselt. Mützchen hatte sogar einmal zur Tür hereingesehen, diese dann aber wieder zugezogen, ganz sachte und langsam. Und nun saß sie in der Küche neben dem fertigen Kaffee am Herd, die Hände im Schoß, und wartete.
Sie wartete lange, fast eine Stunde, und ihr Herz war schwer. Sie hatte gedacht, man brauche ein fremdes Kind nur herzlich liebzuhaben, und alles gehe gut. Aber das genügte nicht, wie es sich herausgestellt hatte. Und sie wußte auch, warum es nicht genügte. Man muß sich auch Zeit für ein Kind nehmen.
Und das hatte sie nicht getan. Und nun war es so gekommen. Sie hatte wohl gemerkt, daß Regine einen Kummer haben mußte, aber sie hatte immer gedacht: Das wird schon vorbeigehen. Nun erzählte das Kind diesen Kummer einem andern. Der, dem ein Kind seinen Kummer erzählt, der ist ihm der Nächste auf der Welt.
Mützchen war sehr betrübt. Sie wünschte Regine von Herzen alles Gute. Bei Onkel Henry würde sie es schön haben, daran war kein Zweifel. Mützchen wünschte sich aber auch sehr, Regine bei sich behalten zu können. Sie selbst hatte ja keine kleine Tochter und hatte sich so sehr eine gewünscht. Nun hatte sie gedacht, das Leben habe ihr Regine geschenkt, um sie dafür zu entschädigen, daß es ihr diesen Wunsch versagte.
Freilich, Onkel Henry konnte ihr mehr bieten, sie auf die besten Schulen schicken, und so früh aufzustehen brauchte sie auch nicht. Trotzdem, ach, trotzdem!
Mützchen fühlte, wie ihr ganz schnell ein paar Tränen über das Gesicht liefen. Sie wischte sie ab. In diesem Augenblick ging drüben die Tür. Und gleich darauf brachen Onkel Henry und Regine bei ihr in die Küche ein.
„Gibt es denn gar keinen Kaffee heute, Mützchen? Wir verdursten!“
„Wir“, sagten sie und strahlten beide. Strahlten so...
„Natürlich! Seid nicht böse!“
Mützchen nahm rasch und ein wenig übereifrig die Mütze von der Kaffeekanne. Vielleicht hatte sie sich auch