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die Weinstöcke, wenn sie sprechen könnten, selbst anerkennen, dass sie solcher Behandlung und solchen Schutzes bedürfen. Zwar kommt jetzt das, was den Weinstock, um bei diesem stehen zu bleiben, schützt, von aussen; die Kraft in ihm selbst ist zu schwach, als dass er ohne äussere Pflege sich in gutem Zustande erhalten könnte. (§ 40.) Wenn aber der Weinstock auch Sinne bekäme, so dass er nach Etwas verlangen und sich selbst bewegen könnte, was meinst Du wohl, dass er da thun würde? Würde er etwa nur für eben das sorgen, was der Winzer früher besorgt hat? Würde nicht vielmehr auch die weitere Sorge hinzutreten, seine Sinne und deren Begehren und die dazu gehörigen Werkzeuge gesund zu erhalten? Er wird also mit dem, was er früher besass, das später Hinzugetretene vorbinden und nicht blos die Zwecke fest halten, die der Weinbauer bei ihm verfolgte, sondern er wird auch seiner später hinzugekommenen Natur gemäss leben wollen Sein höchstes Gut wird jetzt zwar dem frühern ähnlich, aber nicht genau dasselbe sein; er wird nicht blos das Gut einer Pflanze, sondern auch das eines lebenden Wesens begehren. Wie aber, wenn der Weinstock nicht blos menschliche Sinne, sondern auch eine menschliche Seele erhielte? Müsste nicht da neben der Pflege des Früheren das neu Hinzugekommene ihm noch viel werther sein und müsste er nicht die besten Theile der Seele am meisten lieben und in deren voller Entwicklung das natürliche höchste Gut erkennen, weil die Seele und die Vernunft das Vorzüglichste von Allem ist? So erhebt er sich zu dem letzten aller Ziele, geführt von der Empfehlung der Natur durch viele Stufen, um zu dem Höchsten zu gelangen, was in der Vollständigkeit und Unverletztheit des Körpers und der vollkommnen Vernunft der Seele zusammen besteht.

      Kap. XV. (§ 41.) Wenn also die Natur in dieser Weise beschaffen ist, so würde, wenn man gleich bei der Geburt sich selbst keimte und die Kraft der ganzen Natur und ihrer einzelnen Theile beurtheilen könnte, man fortwährend wissen, was das höchste und äusserste Gut sei, nach dem Alle verlangen, und man würde bei keiner Sache fehlgreifen können. Allein in Wirklichkeit ist die Natur im Anfang wunderbar verhüllt und sie kann weder durchschaut, noch erkannt werden. Nur mit zunehmenden Jahren lernt man sich selbst allmählich und langsam kennen. Deshalb ist jene Empfehlung, welche die Natur uns zuerst giebt, unsicher und dunkel und die ersten Triebe lassen die Seele nur für Gesundheit und Unverletztheit sorgen. Erst wenn der Mensch beginnt zu durchschauen und zu wissen, was er ist und wie er sich von den Thieren unterscheidet, beginnt er Dem nachzugehn, zu welchem er geboren ist. (§ 42.) Aehnliches sieht man schon bei den Thieren, die anfänglich sich nicht von dem Orte, wo sie geboren sind, fortbewegen; erst später erwachen bei jedem seine eigenthümlichen Triebe; die kleinen Schlangen fangen an zu kriechen, die Enteilen zu schwimmen, die Amselchen zu flattern, die jungen Ochsen mit ihren Hörnern zu stossen, die Skorpione mit dem Stachel zu stechen, und so wird eines Jeden Natur seine Führerin im Leben. Dasselbe bemerkt man bei dem menschlichen Geschlecht. Die neugebornen Kinder liegen so da, als ob sie gar keine Seele hätten; sind sie aber etwas zu Kräften gekommen, so gebrauchen sie schon ihren Verstand, verlassen sich auf ihre Sinne, richten sich in die Hohe, benutzen ihre Hände und erkennen Die, welche sie erziehen. Später ergötzen sie sich an ihren Altersgenossen, gesellen sich gern zu ihnen, spielen gemeinschaftlich, hören gern kleine Geschichten erzählen, geben von ihrem Ueberfluss Andern ab, bemerken, was im Hause vorgeht und beginnen neugierig Manches zu überdenken oder zu lernen; sie wollen die Namen der Dinge, die sie sehen, wissen; sie lassen sich in Wettstreit mit ihren Spielgenossen ein und freuen sich höchlich, wenn sie gesiegt haben, oder sind niedergeschlagen, wenn sie unterlegen sind; und Alles dies geschieht offenbar nicht ohne Ursache. (§ 43.) Denn von Natur sind des Menschen Kräfte so beschaffen, dass sie zur Erreichung alles Vortrefflichen wie gemacht erscheinen, und deshalb werden schon die Kinder durch die Bilder der Tugend; deren Keime sie in sich tragen, auch ohne Unterricht gerührt. Die ersten Elemente sind es, durch deren Steigerung gleichsam das Gedicht der Tugend zu Stande gebracht wird. Wir sind von Natur so beschaffen, dass die Grundlagen der Thätigkeit, der Liebe, der Freigebigkeit und Dankbarkeit in uns liegen und dass unsre Seele für die Wissenschaft, Klugheit und Festigkeit befähigt ist und von deren Gegentheilen sich abwendet. Deshalb erblickt man mit Recht gleichsam die Funken der von mir genannten Tugenden schon in den Knaben; an ihnen muss sich die Vernunft des Philosophen entzünden, damit er ihr, gleich einem Gotte, nachfolgend das höchste Ziel der Natur erreiche. Denn schon in dem Kindesalter und in dessen schwachem Geiste kann mau, wie ich oft gesagt, die Kraft der Natur gleichsam durch den Nebel erkennen, und wenn dann im Fortschreiten die Seele erstarkt, so erkennt sie zwar die Kraft der Natur, aber so, dass sie selbst auf dem von dieser begonnenen Wege weiterschreiten kann.

      Kap. XVI. (§ 44.) Man muss deshalb in die Natur der Dinge eindringen und genau anschauen, was sie verlangt; nur auf diese Weise kann man sich selbst kennen lernen. Diese Anweisung ist so bedeutend, dass man meint, ein Mensch könne sie nicht gegeben haben; deshalb leitete man sie von dem Gotte ab, und der Pythische Apoll ist es danach, welcher gebietet, sich selbst zu erkennen. Diese Erkenntniss unsrer hat aber nur den einen Zweck, dass man die Kräfte seines Körpers und seiner Seele kennen lerne und das Leben so einrichte, dass man sich derselben erfreuen kann. Da nun die Seele von Anfang ab zur Gewinnung der erwähnten vollkommensten Natur hindrängt, so muss man anerkennen, dass mit Erreichung dieses Zieles die Natur gleichsam bei dem Aeussersten angekommen, nicht weiter kann, und dass darin das höchste Gut enthalten ist. Dasselbe muss offenbar auch als Ganzes um sein selbst willen erstrebt werden, da bereits nachgewiesen worden ist, dass auch seine einzelnen Bestandtheile um ihrer selbst willen gesucht wer den. (§ 45.) Sollte aber in meiner Aufzählung der Vorzüge des Körpers die Lust vermisst werden, so behalte ich mir die Erörterung hierüber für eine andere Zeit vor; bei der hier behandelten Frage ist es gleichgültig, ob die Lust zu dem ersten Naturgemässen mit gehört oder nicht. Bildet die Lust, wie ich annehme, keinen Bestandtheil des natürlichen höchsten Guts, so habe ich sie mit Recht Übergängen; ist aber, wie Andere meinen; dies doch der Fall, so steht dies meiner Auffassung des höchsten Gutes nicht entgegen; denn wenn die Lust noch zu dem ersten Naturgemässen mit hinzukommt, so vermehren sich die Vortheile des Körpers nur um einen und die von mir geschehene Feststellung des höchsten Guts wird dadurch nicht geändert.

      Kap. XVII. (§ 46.) Bis hierher ist meine Beweisführung lediglich auf die ersten Antriebe der Natur gestützt und Alles hieraus abgeleitet worden. Jetzt ändere ich aber meine Begründung insofern, als ich das Handeln fies Menschen nicht blos aus seiner Selbstliebe ableite; vielmehr hat jeder Theil unserer Natur, sowohl im Körper wie in der Seele, seine eigene Kraft, und deshalb bewegen wir uns hierbei hauptsächlich aus eigenem Antriebe. So kann man, wenn ich mit dem Körper beginne, bemerken, dass Jedermann die Theile seines Körpers verbirgt, bei denen etwas schlecht, oder geschwächt, oder verkleinert ist; man sorgt und müht sich nach Möglichkeit, solche Fehler des Körpers gar nicht oder nur zum kleinsten Theile sichtbar werden zu lassen; ja man erträgt der Heilung wegen viele Schmerzen, nur damit die Glieder wieder ihre natürliche Gestalt erlangen, selbst wenn ihr Gebrauch dadurch mehr gehemmt als befördert werden sollte. Wenn Alle von Natur sich vollständig erhalten wollen, und zwar nur ihrer wegen und nicht um Anderer wegen, so müssen nothwendig, wenn das Ganze um seinetwillen begehrt wird, auch seine Bestandtheile um ihretwegen begehrt werden. (§ 47.) Sollte nicht die Natur selbst eine Anleitung geben, wie man zu stehen und körperlich sich zu bewegen habe? wie man gehen, sitzen, den Mund bewegen, seine Mienen einzurichten habe? Sollte hier nicht Manches für den freien Mann angemessen und Anderes für ihm unpassend sein? Hält man nicht Viele für widerlich, weil sie in ihrer Bewegung und Haltung die Gesetze und die Maasse der Natur zu verachten scheinen? Und wenn dies von dem Körper entfernt wird, weshalb sollte nicht das Schöne an sich selbst für erstrebenswerth gelten? Wenn man jede Hässlichkeit und Verunstaltung des Körpers um ihrer selbst willen verabscheut, weshalb sollte man du nicht ebenso, ja noch mehr, nach der Würde im Aeussern verlangen? Flieht man alle Hässlichkeit in den körperlichen Stellungen und Bewegungen, weshalb sollte man da nicht der Schönheit nachstreben? Auch die Gesundheit, die Kräfte, die Schmerzlosigkeit begehrt man nicht blos des Nutzens, sondern um ihrer selbst willen. Die Natur verlangt die Vollendung aller ihrer Theile, und deshalb begehrt sie jenen Zustand des Körpers um sein selbst willen, welcher der Natur am meisten entspricht und der ganz gestört wird, wenn der Körper krankt oder an Schmerzen leidet oder der Kräfte ermangelt.

      Kap. XVIII. (§ 48.) Jetzt wollen wir zu den Theilen der Seele übergehen, deren Betrachtung weit herrlicher ist. Je erhabener hier die Gegenstände sind, für um so deutlichere Andeutungen der Natur müssen sie

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