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Leichenstille. Carola Clasen
Читать онлайн.Название Leichenstille
Год выпуска 0
isbn 9783954415311
Автор произведения Carola Clasen
Жанр Языкознание
Серия Sonja Senger
Издательство Bookwire
West genoss schnurrend das Streicheln. Nach einem Schlaganfall war er halbseitig eingeschränkt und konnte nur noch das linke seiner beiden gelben Augen öffnen. Er humpelte und verschlief die meiste Zeit des Tages, aber zu einer Schale Senior-Premium-Gold-Select sagte er nicht nein. Er habe keine Schmerzen, hatte der Tierarzt versichert. Sie solle ihn verwöhnen. Als ob Sonja das nicht sein ganzes Leben lang getan hätte.
»Wir bekommen Besuch«, murmelte sie. »Kai kommt.«
Wests linkes Ohr zuckte.
Mit jedem neuen Enkeltrick, der während ihrer Dienstzeit und danach durch die Presse gegangen war, hatte Sonja sich geschworen, sollte sie jemals einen dieser Anrufe erhalten, was Gott nicht verhüten möge, würde sie auf jeden Fall nicht das tun, was im Programm Polizeiliche Kriminalprävention – kurz ProPK – des Landes NRW stand:
[…] Seien Sie vorsichtig, wenn Sie jemand telefonisch um Geld bittet.
Legen Sie einfach den Telefonhörer auf, sobald Ihr Gesprächspartner, häufig ein angeblicher Enkel, Geld von Ihnen fordert.
Vergewissern Sie sich, ob der Anrufer ein Verwandter ist. Rufen Sie ihn zurück.
Übergeben Sie niemals Geld an Ihnen unbekannte Personen.
Informieren Sie sofort die Polizei, wenn Ihnen ein Anrufverdächtig vorkommt: Notrufnummer 110!
Wenden Sie sich auf jeden Fall an die Polizei, wenn Sie Opfer geworden sind, und erstatten Sie eine Anzeige. Bei Fragen helfen Ihnen die im Opferschutz besonders geschulten Beamtinnen und Beamten Ihrer örtlichen Polizei gerne. […]
Diese Ratschläge waren natürlich sinnvoll, und die Bevölkerung sollte sie unbedingt befolgen, wenn ihr Hab und Gut und Leib und Leben lieb waren. Im Falle Sonja Senger lagen die Dinge anders.
Sie war die Polizei. Auch wenn sie inzwischen im Ruhestand war, konnte sie nicht die Finger davon lassen. Ihr Herz gehörte der Mordkommission der Kreispolizeibehörde Euskirchen. Und würde es immer tun. Außerdem wollte sie Max oder Kai nicht loswerden, sondern das Gegenteil: Sie wollte sie anlocken, anfüttern, herausfinden, was sie dazu trieb, alte, arme, einsame Frauen aufzuspüren und um ihre Ersparnisse zu bringen. Sie wollte nicht in die alte Leier einstimmen, dass so etwas früher nicht hätte geschehen können, als die Welt noch in Ordnung war, das Zusammenleben der Generationen noch funktionierte. Sie wollte etwas dagegen unternehmen. Jeder Mensch braucht eine Mission. Sonja hatte diese zu ihrer erkoren. Ihr Bauch knurrte, als wäre sie hungrig. Ihre Hände kribbelten, als wüssten sie nicht, was zuerst tun.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie ahnte einen Fall, der anders sein würde als jeder andere. Das war ihre Chance.
Nur in einem verschwindend kleinen Teil ihres Bewusstseins gestand sie sich ein, dass sie auch den Kollegen und der ganzen Welt beweisen wollte, dass sie nicht zum alten Eisen gehörte. Aber das war absolut nachrangig. Letztendlich wollte sie diese vermeintlichen Enkel wieder auf die Spur bringen, damit sie sich nicht den Rest ihres Lebens verdarben. Er war kurz genug.
Aber kein Kai tauchte aus dem Nebel auf. Sonja wandte sich seufzend ab und wanderte in der Wohnküche umher. Sie stellte sich einen Haufen Fragen. Woher hatte Max ihre Telefonnummer? Woher wusste er, wo sie wohnte? Er hatte nicht nach ihrer Adresse gefragt. Wie kam er auf die Idee, dass sie einen leibhaftigen Enkel hatte?
Sonja Senger stand nicht im Telefonbuch. Er musste sie ausspioniert haben. Alte Frau, alleinstehend, Haus, Garten, neues Auto – Beuteschema erfüllt? War er über das Kfz-Kennzeichen an ihren Namen gekommen? War er im Haus gewesen und hatte herumgeschnüffelt? Hatte er Fotos von Frieda Stein gesehen und geglaubt, sie sei Sonjas Tochter? Hatte er die Nachbarkinder gesehen, die Sonja im Sommer manchmal in ihren Garten ließ, und denen sie im Winter Geschichten von bösen Männern erzählte, die sie gefangen hatte? Hatte er sie für ihre Enkel gehalten? Es waren zwei Jungen darunter, die etwa acht Jahre alt waren, die voller Ehrfurcht nach ihrer Pistole fragten.
Hatte er in Wolfgarten herumgefragt? Das konnte nicht sein, man wusste im Ort, dass die Frau im Forsthaus am Ende der Stromleitung Polizistin war.
Nein, es musste für die mit dem Internet aufgewachsene Jugend andere Wege geben, Telefonnummern und die dazugehörigen Adressen herauszubekommen.
Sonja rief die Telefonnummer an, die sie in Eile während des Gesprächs mit Max auf den Kölner Stadt-Anzeiger gekritzelt hatte. Es tutete verheißungsvoll. Aber dann behauptete die blecherne Automatenstimme, dass diese Nummer nicht existiere. Sonja hatte sich nicht verschrieben. Sie hätte darauf wetten können, dass diese Nummer zu einem Prepaid-Handy gehörte, das auch kein Fachmann in der KTU jemals würde orten können. SIM-Karten wurden in gewissen Kreisen häufiger gewechselt als die Socken. Es gab einen Markt dafür, es gab für alles einen Markt.
»Machen wir uns nichts vor, West«, sagte Sonja. »Unser Landrat Rosenke hätte seine helle Freude. Es ist alles wie aus dem ProPK.«
Nur, dass Kai nicht kam.
3. Kapitel
Sie lag auf dem Rücken. Ihr Kopf war zur Seite gefallen. Ihre vollen, ungeschminkten Lippen waren leicht geöffnet, und ein Rinnsal aus Blut hatte eine Spur übers Kinn am Hals bis zum Waldboden hinab hinterlassen. Ihre Hände lagen zu Fäusten geballt schützend übereinander auf ihrer Brust. Am Ringfinger der rechten Hand blitzte ein schmaler Ehering auf. Sie trug ihre rotblonden, langen Haare offen. Schlank war sie, über 1,70 Meter groß, teuer und edel angezogen. Aber sie war tot.
Mit fürsorglichen Gesten schloss Dr. Meiser, die Rechtsmedizinerin, die weit offenstehenden Augen mit den eisblauen, starren Pupillen, legte die Arme neben den Rumpf, und ein schwarz-roter Fleck eine Handbreit unter ihrem Schlüsselbein kam zum Vorschein. Die Handteller waren blutverkrustet. Fast andächtig schob Dr. Meiser auch die Beine und Füße, die verdreht zu beiden Seiten gelegen hatten, ordentlich nebeneinander. Vom rechten Fuß hatte sich die Stiefelette gelöst und lag einige Meter entfernt. Hatte die Frau sie beim Versuch zu fliehen verloren? Stattdessen leuchtete eine Socke in einem grell-bunten Rautenmuster unpassend fröhlich umher. Nicht weit vom Schuh entfernt lag eine geöffnete Schachtel mit Ölkreidestiften. Zehn Stück laut Aufdruck, aber es waren nur noch neun Stifte in unterschiedlichen Größen drin. Ergänzt wurde das Stillleben durch einen aufgeschlagenen Skizzenblock im länglichen Format. Die Seite zeigte die ersten Striche eines Kunstwerkes. Es war mit ungeübtem Auge nicht zu erkennen, was es einmal geworden wäre, wenn die Künstlerin mehr Zeit gehabt hätte. Sie hatte sich für Blau entschieden. Es war der blaue Ölkreidestift, der in der Schachtel fehlte.
Dr. Meiser schnitt den hellgrauen Pullover der Toten auf, die weiße Bluse darunter und auch das Unterhemd. Schwarzrot war das Blut durch alle Schichten gesickert und auf den Fasern verlaufen und zerronnen wie ein Tintenfleck. Im sonnengebräunten Brustkorb klaffte ein Loch, vielleicht ein bis zwei Zentimeter groß.
Vorsichtig, der einsetzenden Leichenstarre entgegen, drehte Dr. Meiser die Tote auf die Seite und schob den Pullover hoch, kein Austrittsloch des Projektils war zu entdecken, aber Totenflecken auf den Schulterblättern, der Wirbelsäule, dem Gesäß. Eine weitere Verletzung war eine längliche Schürfwunde am Hinterkopf. Sicher kamen weitere, auch Prellungen, hinzu, wenn sie die Tote später in den Räumen der Rechtsmedizin untersuchte.
Abschließend ordnete Dr. Meiser die Kleidung der Toten wieder. Als sie endlich von ihr abließ und sich ächzend erhob, gab sie den Blick frei für die fünf Umstehenden: zwei Kriminaltechniker aus Bonn und drei Kommissare aus Euskirchen, Oberkommissarin Frieda Stein und die Hauptkommissare Klaus Brummer und Achim Neugebauer von der Mordkommission, die sich auf den Weg nach Blankenheim gemacht hatten, nachdem die Meldung vom Fund der Toten eingegangen war.