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bleibe unten.«

      Nach und nach breitete Nadine sich mit ihren Farben, Leinwänden, Bildern, Rahmen, Töpfen, Papierrollen, Keilen, mit Leim und Firnis im Dachgeschoss aus und stellte die Staffelei ins geliebte Nordlicht. Sie war am Ziel ihrer Träume. Sie war angekommen. In ihrem Element. Endlich.

      Das Atelier war ein nahezu quadratischer Raum ohne Zwischenwände in den Maßen der Grundfläche des Reihen-Mittelhauses, in dem Nadine seit fünfzehn Jahren mit ihrer Familie wohnte. Die Fensterfront Richtung Süden war mit naturweißen Leinenrollos verhängt, wie Nadine es in den Museen der Welt gesehen hatte. Wenn die Dämmerung einsetzte und allmählich zur Nacht wurde, schaltete sie die abgeblendete Beleuchtung ein und flutete den Raum mit künstlichem Tageslicht, das keinen Schatten warf. Aber am Tag, da hatte das Atelier Nordlicht. Es war das Licht der großen Maler.

      Das alles war jetzt sechs Wochen her. Nadine hatte den Ortskern von Blankenheim längst hinter sich gelassen, wich nach wenigen Metern von der breiten Fahrspur ab, die in den Wald führte, stapfte kreuz und quer ins Unterholz hinein, auf der Suche nach einer geeigneten Stelle. Es wurde stiller mit jedem Schritt, da war nur noch hin und wieder ein Knacken und Knistern und ein einzelner warnender Vogelschrei. Es ging bergauf, Nadine begann zu schnaufen und blickte sich um. Den Ort ihrer Vision schien es nicht zu geben.

      Aber dann tat sich doch vor ihr ein kleiner, sonniger Platz auf, nicht viel größer als ein Zimmer, oval, umringt von hohen, eng aneinander stehenden, nackten Baumstämmen, die in bewachsene Wipfeln mündeten, dunkle Fichten, die im Wind leise schaukelten. Über ihnen öffnete sich das Wolkenspiel, und ein Stück blanker Himmel zog auf. Lächelnd strich sie über einen Baumstamm. Hier war es.

      Sie bückte sich und legte eine Hand auf den feuchten Waldboden. Sie hätte sich besser eine Decke mitgenommen. Ihr Mantel würde später voller Flecken sein, Fichtennadeln und brauner Blätter. Die feuchte Kälte eines Märzmorgens in der Eifel würde ihr in die Knochen und Muskeln kriechen. Sie würde Kopfschmerzen bekommen und sich die Haare waschen müssen, bevor sie zum Frühstück ging. Wenn sie überhaupt wieder hochkam nach der Zeit, die sie brauchte. Wenn sie da nicht schon ein Stück eingefroren war. Es konnte nicht viel wärmer sein als drei oder vier Grad.

      Der bemooste Baumstumpf konnte ihr als Kopfstütze dienen. Nadine legte das Skizzenbuch ab und machte eine Liegeprobe. Der Blick nach oben entschädigte sie für alles, alles. Sie öffnete die Schachtel mit den Ölkreidestiften und zog den blauen Stift hervor. Dieser Himmel. Ob sie jemals an dieses unvergleichliche Blau herankam?

      Aber während der Stift über das Papier glitt, liefen Nadines Gedanken davon. Welch ein Glück, dass sie hier lag, dass ihr Anna Jordi und deren Malwerkstatt begegnet waren. Es hätte auch anders kommen können.

      Als sie begann, sich für eine Malreise zu interessieren, stellte sie fest, wie unübersichtlich riesig der Markt für Kunstreisen war, wie populär, wie hip. Es wurden Reisen in die halbe Welt angeboten: nach Mallorca, Italien, Griechenland oder Österreich, auf deutsche Nordseeinseln. Dort wurde in traumhafter Umgebung auf einfachen Bauernhöfen oder Fincas, aber auch in luxuriösen Hotels alles gelehrt, was das Herz der Kreativen begehrte, eine unglaubliche Auswahl: Bildhauerei, Stein oder Holz, Zeichnen – Freiluft oder Atelier, Malen in Öl, Aquarell oder Acryl, Modellieren, Töpfern, Schmieden, Spinnen, Weben, Filzen … aber nicht nur die bildende Kunst war Ziel der Begierde, auch die Kunst der Meditation, der Kräuterkunde, das Vegane Kochen, Heilfastenwandern …

      Aber Nadine, die seit ihrer Hochzeit nicht mehr allein verreist war, wollte lieber in Deutschland und in der Nähe bleiben und landete so bei Pandora-Reisen mit Sitz in Koblenz, dem offensichtlich führenden regionalen Anbieter von Kreativreisen in der Eifel. Das Unternehmen hatte hervorragende Bewertungen im Netz und bot günstige Konditionen. Die Alternativen erschienen blass und bieder dagegen.

      Es kostete Nadine Überwindung, ihre beiden Männer für einige Tage sich selbst zu überlassen, in der Gewissheit, sie kämen ohne sie nicht klar, würden nichts zu essen finden, nicht nach der Post sehen und alles sähe aus wie nach einem Einbruch, wenn sie zurückkam.

      Sie wählte »Acryl für Anfänger«, der von der Künstlerin Anna Jordi geleitet wurde, der Inhaberin der Malschule Malwestt, weil ihr das Foto und die Vita gefielen. Anna Jordi hatte in Köln Kunst studiert, den Beruf der Lehrerin nur kurz ausgeübt, ehe sie sich selbstständig gemacht hatte. Ganz ähnlich wie Nadine, die nur bis zu Florians Geburt in Köln unterrichtet hatte, nicht Kunst, sondern Deutsch und Geografie in der Oberstufe des Hildegard-von-Bingen-Gymnasiums, sich aber nicht selbstständig gemacht hatte, sondern als Ehefrau und Mutter von der Bildfläche verschwunden war.

      Anna Jordi konnte eine Reihe Ausstellungen vorweisen, sogar den Preis einer Stiftung. Ihre Werke waren Großformate, es gab im Internet Ansichten von drei Gemälden. Sie sprachen Nadine an, ja, so wollte sie auch malen können: wild, abstrakt, hell, sonnig, klar und inspirierend, vage genug, um die Gedanken auf unterschiedliche Wege zu bringen.

      Der Kurs sollte vom 3. bis zum 9. März stattfinden und war auf mindestens fünf und maximal acht Personen ausgelegt. Mittag- und Abendessen konnte Nadine zusammen mit den anderen Seminarteilnehmern in einem der Restaurants in Blankenheim einnehmen. Der Kurs endete am Nachmittag um 15 Uhr. Dann wurde das Atelier nicht geschlossen, sondern stand den Teilnehmern zum »Freien Malen« bis 22 Uhr zur Verfügung. Malen bis zum Umfallen, dachte Nadine selig, und konnte es kaum erwarten.

      Felix sagte sie es am späten Abend, nachdem er das Licht ausgemacht, sich auf den Rücken gelegt und ihr seufzend Gute Nacht gewünscht hatte. Sie hatten kurzen, routinierten Sex gehabt. Sie verschwieg den Malkurs und sprach von einer kleinen Auszeit, die sie dringend brauche. Sie musste einfach einmal ein paar Tage allein sein. Nach allem. Das sagte sie nur für den Fall, dass er auf die absurde Idee kam, sie zu begleiten. Es hörte sich auch nicht an, als wäre die Reise schon gebucht. Felix sollte das letzte Wort haben. Wie erwartet, war er einverstanden. Es schien ihm egal zu sein.

      Florian hatte anders reagiert. Er hatte sie ausgefragt und fand es toll, dass sie allein etwas unternahm. Er schien stolz auf seine Mutter zu sein. Es gab keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Warum hatte sie es trotzdem?

      Am Abreisetag gab es nur die Nachbarin, die alte Frau Gerber, die gegenüber wohnte und die Gardine beiseitegeschoben hatte, um zu sehen, was in dem Haus der Dürkheims vor sich ging, als Nadine hin und her lief, das Auto packte und davonfuhr, und sicher fiel ihr auch auf, dass das Auto am Abend nicht zurückkam, aber …

      Nadine wurde das Skizzenbuch mit roher Gewalt aus der Hand gerissen. Sie starrte in den Lauf einer Pistole. Angst übermannte sie wie eine heiße Welle, ihr Herz stolperte und setzte aus, ihr Atem stockte, ihr Nacken erstarrte. Das Gesicht, das wütend auf sie herabblickte, hatte sie mal irgendwo und irgendwann gesehen. Aber wie der Mann hieß, daran konnte sie sich nicht erinnern. Ein Knall und ein nie gekannter Schmerz setzte all ihren Überlegungen ein Ende.

      Was folgte, war Stille.

      Leichenstille.

       2. Kapitel

      Telefonklingeln durchbrach die Stille im Forsthaus am Ende der Stromleitung. Sonja Senger schrak aus dem Ohrensessel hoch, das offene Buch rutschte von ihrem Schoß, landete auf dem Fußboden und schlug zu. Kater West starrte von der Fensterbank aus mit einem seiner gelben Augen verwundert auf das Buch.

      Wieder klingelte es.

      Sonjas Füße glitten vom Hocker, ächzend stemmte sie sich hoch. Es war noch hell draußen, noch lag kein Abendlicht über den Feldern, die Scheiben ihres Autos, das vor dem Haus parkte, waren beschlagen. Sie musste eingeschlafen sein. Sie hatte nach dem Mittagessen ein Viertelstündchen lesen wollen, in Die Giftköchin von diesem finnischen Autor, dessen Name sie sich nicht merken konnte, weil er für hiesige Gewohnheiten unaussprechlich war. Sie stieg über das einsame, rote Holzhaus am Ufer des dunkelblauen Fjords. Ihr rechter Fuß war eingeschlafen.

      Wieder Klingeln.

      West ließ den Kopf auf die Pfoten sinken und seufzte. Sonja humpelte zum Telefon, das neuerdings öfter stumm in seiner Ladeschale steckte, als ihr lieb war. Alle hatten immer so

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