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auf den Boden legen und hinaufschauen, hatte die Leiterin gesagt, diese Perspektive sei unverstellt und unvergleichbar. Vor Nadines innerem Auge war das Bild längst fertig.

      Ihr Weg führte an dem Hinweisschild zu ihrer Malschule Malwestt 300 m vorbei. Wenn sie daran dachte, wie unsicher sie gewesen war, als sie zum ersten Mal vor dem Metalltor in der Klosterstraße gestanden hatte, hinter dem sich die Malwerkstatt befand, musste sie lächeln. Das Tor war zweiflüglig, grau gestrichenen, verbeult und mannshoch. Sie hatte nicht ahnen können, dass sich dahinter eine neue Welt für sie auftat.

      Erst drei Tage vorher hatte Nadine die Klinke zu diesem Tor vorsichtig heruntergedrückt. Aber es war verschlossen. Sie sprang hoch und erhaschte einen Blick auf einen gepflasterten Hof und ein niedriges Gebäude dahinter. Keine Staffeleien, keine Farbtöpfe, keine Leinwände. Der Hof war leer und aufgeräumt. Eine Klingel gab es nicht. Ob das angrenzende Fachwerkhaus dazugehörte, wusste sie nicht. Sie hätte dazu die Eingangsstufen hochgehen und auf das Namenschild sehen müssen, das kam ihr aufdringlich vor.

      Sie kehrte zurück zur Ahrstraße und überquerte sie, um zum Lühberg zu gelangen, wo sie in der Pension Schmidt ein Zimmer gebucht hatte. Ein gelbes Haus, Geranien, Sprossenfenster, Spitzengardinen, ein Hinterhof als Parkplatz für Gäste, es war nach 15 Uhr und sie wurde erwartet. Frau Schmidt, die Mutter der Malerin, stand in der offenen Eingangstür. Eine freundliche, gepflegte Dame vielleicht Ende sechzig, ohne Brille, mit grauem Kurzhaar. Sie trug keine der berüchtigten, bunten Kittelschürzen, sondern ein schönes Strickkleid, das weich fiel und ihr bis zu den Waden reichte, von einem bemerkenswerten Blau.

      Frau Schmidt zeigte ihr, wo sie im Hinterhof parken konnte, und übergab ihr die Schlüssel zu ihrem Zimmer, das über eine steile Treppe zu erreichen war.

      Es war wie erwartet in bäuerlicher, geblümter, wollener Gemütlichkeit eingerichtet, vielleicht 15 qm groß, verfügte aber auch über den obligatorischen Flachbildschirm. Das Duschbad war renoviert und vom kleinen Balkon aus konnte man einen Ausschnitt der Burg Blankenheim erspähen. Es war perfekt, wie ein Bild in einem Kunstdruckkalender. Van Goghs Zimmer in Arles, in fahle Märzsonne getaucht. In diesem Raum, in diesem Bett mit seinem dunklen, geschwungenen Holzgestell aus den Dreißigern würde Nadine keine Angstzustände bekommen.

      Nadine holte ihren Mini vom Parkplatz am Ortsrand, parkte im Hinterhof und richtete sich in ihrem Zimmer ein. Als alles an Ort und Stelle lag, überlegte sie, wen sie anrufen könnte, um zu sagen, dass sie gut angekommen war. Aber niemand fiel ihr ein, außer Mann und Sohn. Das musste sich ändern, so konnte es nicht weitergehen. Ihr war klar, dass es zum großen Teil an ihr selbst lag, sie musste sich ein wenig Mühe geben und auf Leute zugehen. Dieser Malkurs war wie gemacht dafür.

      Es war nach 18 Uhr, als Nadine die Brasserie an der Ahr betrat, wo ein erstes gemeinsames Abendessen zum Kennenlernen stattfinden sollte. Sie durchquerte den Windfang und betrat den Gastraum. Im Hintergrund gab es eine lange Tafel, an der fünf Frauen und ein Mann saßen. Eine der Frauen saß an der Stirnseite, das musste die Kursleiterin sein, Anna Jordi. Sie ähnelte ihrem Foto im Internet. Ein Stuhl am Ende der Tafel war noch frei. Nadine würde mit dem Gesicht zur Wand sitzen müssen und wünschte, sie wäre früher gekommen, aber sie hatte sich zweimal umgezogen. Jetzt würden gleich alle Augen auf ihr ruhen.

      Sie bahnte sich einen Weg und wünschte einen Guten Abend, ging von Hand zu Hand. Man stellte sich mit dem Vornamen vor, sie konnte sich – außer Anna, der Kursleiterin – nur den des Mannes merken: Burkhard, ein Rentner oder Pensionär. Die Frauen schienen zwischen vierzig und fünfzig zu sein, wirkten sympathisch und aufgeräumt. Die Speisekarten gingen herum.

      Als sie spät am Abend in die Pension Schmidt zurückkehrte, war Nadine mit sich im Reinen. Es war besser gelaufen, als sie dachte. Sie wurde beneidet um die Zeit, die sie hatte, und um die Freiheit, keinen Beruf ausüben zu müssen, ebenso um ihr Atelier im Dachgeschoss mit Nordlicht. Sie alle konnten nicht ahnen, wie sie darum gekämpft hatte. Und wie leer sich ihr Leben trotz allem anfühlte, wie bedrohlich ihr die Jahre vorkamen, die noch vor ihr lagen.

      Bis vor einem Jahr hielt diesen begnadeten Raum Elisabeth besetzt, ihre Schwiegermutter, und Nadine hatte im Souterrain ihr kleines Reich gehabt, wo sie begonnen hatte, kleine, zaghafte Bilder zu malen, die sie niemandem zeigte und oft genug in kleine Schnipsel riss und vernichtete, weil sie sie für stümperhaften Schund hielt.

      Die chronisch kränkelnde Elisabeth zu versorgen, außerdem Felix, einen vielbeschäftigten Ehemann, der Leiter eines Architekturbüros war, und dazu noch Florian, einen halbwüchsigen Sohn, das war eine tagesfüllende Beschäftigung. Erfüllend war es nicht. Aber Nadine sah sich in der Pflicht.

      Florian, genannt Flo, war 16 Jahre alt, groß und schlaksig, hatte ein hageres Gesicht, eine schmale Nase, einen vollen Mund, der immer leicht missmutig verzogen war. Er hatte rötlichblondes, dichtes Haar wie seine Mutter, das er lang bis auf die Schultern trug. Blaue Schatten lagen unter seinen hellen Augen, die nicht strahlten, sondern immer trübe aussahen. Er war anstrengend für seine Umgebung, pendelte ständig zwischen Euphorie und Melancholie. Flo besuchte die zehnte Klasse der Gesamtschule in der Martin-Luther-Straße und schrieb entweder eine Eins oder eine Sechs. Seine einzige Leidenschaft galt seiner Band. Er spielte Saxofon seit seinem zehnten Lebensjahr. Ansonsten schien er nicht viel mit seinem Leben anfangen zu können, hatte keine Ahnung, was er werden wollte, vielleicht nichts, auf jeden Fall nicht so ein Spießer, wie seine Eltern es in seinen Augen waren. Die Mitglieder seiner Band waren seine Freunde, Nadine kannte sie nur, weil sie durchs Haus gingen, um in Florians Zimmer zu verschwinden, um dort zu proben. In letzter Zeit hatte Florian eine Freundin, ein verblüffend unattraktives, schüchternes, pummeliges Mädchen, das ihn anhimmelte. Seiner Mutter gegenüber war er abweisend und verschlossen, als wäre sie nicht von dieser Welt. Seine Freundin fand das cool und tat es ihm gleich. Nadine wusste nicht einmal ihren Namen.

      Bekannte meinten, sie solle froh sein, dass ihr Sohn keine Drogen nehme und keine kriminellen Neigungen zeige. Aber konnte Nadine denn sicher sein? Sie wusste doch kaum, wie er seine freie Zeit verbrachte.

      Nach Elisabeths Tod vor einem Jahr empfand Nadine nichts als Erleichterung. Während sie ihren Mann tröstete, richtete sie in Gedanken schon das Dachgeschoss ein. Im Namen ihres vor Trauer wie gelähmten Ehemannes Felix organisierte sie die Beerdigung und kümmerte sich um den anstehenden Papierkram. Er erbte einen unerwartet hohen Betrag, der angelegt werden musste. Auch das erledigte Nadine und ließ sich vom Anwalt seiner Firma beraten. Felix musste nur noch unterschreiben. Im Hinterkopf das Atelier, machte es ihr nichts aus, das alles zu tun, als wäre sie seine Sekretärin.

      Felix hatte gerade ein Großprojekt übernommen, ein mehrstöckiges Gebäude mit Ladenzeile im Erdgeschoss in Zülpich. Er war der Hauptverantwortliche, und es gab natürlich Probleme. Mit der Statik, dem Wegerecht, der Unteren Wasserbehörde und mit dem Kreis Euskirchen.

      Elisabeth war einen Monat unter der Erde, als Nadine begann, mit ihrer Familie darüber zu sprechen, wie man das Haus umräumen könnte. Sie war entsetzt, als Florian erklärte, er wolle unbedingt aus seinem Zimmer im ersten Stock raus und ins Dachgeschoss ziehen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte doch schon jeden Quadratzentimeter nach ihren Vorstellungen eingerichtet. Sie hatte doch lange genug gewartet. Sie hatte sich das Atelier wirklich verdient.

      »Gute Idee«, hörte sie ihren Mann sagen, während ihr fast die Sinne schwanden.

      »Nein!«, entfuhr es ihr mit verzweifelter Stimme.

      Sie standen im Wohnzimmer. Nadine rannte ans Fenster und blickte hinaus in den Garten, den sie allein bewirtschaftete, bis auf das Rasenmähen, dass sich Felix und Florian teilten. Der Sommer ging dem Ende zu. Wie oft hatten sie zusammen auf der Terrasse gesessen? Nadine konnte die Gelegenheiten an einer Hand abzählen.

      Sie wandte sich um. Felix und Florian starrten sie entsetzt an.

      »Flo, das Zimmer im Souterrain ist doch ideal für dich. Ich versteh dich nicht. Es ist ideal zum Musikmachen. Es hat einen eigenen Eingang. Auch die Fenster liegen hinter dem Steingarten. Niemand kann dich beobachten. Du kannst da unten machen, was du willst. Wenn du oben wohnst, dann … du bist doch sowieso nie da!«

      Florians Blicke irrten zwischen Nadine und Felix

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