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Kojas Haus der Sehnsucht. Alois Theodor Sonnleitner
Читать онлайн.Название Kojas Haus der Sehnsucht
Год выпуска 0
isbn 9788711570050
Автор произведения Alois Theodor Sonnleitner
Издательство Bookwire
In jeder Hand einen schweren Pack Sackleinen, unterm linken Arm das Päckchen Wolle eingeklemmt, stapfte Agi tapfer durch den Regen heim. Sie geriet auf die hell erleuchtete Mariahilferstrasse und drängte sich durch die Menschenmenge, die im Licht der Bogenlampen und der Auslagenbeleuchtung dahinwogte. Die Schnüre ihres Packes schnitten sie empfindlich in die Finger, aber sie achtete nicht darauf. Vor ihren Augen stand das Antlitz der Mutter, die unter Tränen lachen würde. Agi brachte Arbeit heim, Arbeit, Verdienst, Brot! Und es war ihr, als erlebte sie ein Kapitel der Geschichte eines Auswanderers, der sich in der bösen Übergangszeit zu Newyork als Schuhputzer oder Zeitungsausträger vor dem Verhungern noch gerettet, der aber dann immer bessere, immer lohnendere Arbeit gefunden, bis er so viel erspart hatte, dass er sich eine Farm hatte kaufen können, das Haus seiner Sehnsucht. Und sie dachte an Auerbachs Barfüssele, das Gänse gehütet und als Bauernmagd gedient hatte, bevor es ihm beschieden war, auf dem stattlichsten Hofe des Gaues als Herrin zu walten. Als sie vor der Mariahilfer Linie an dem durch seine Volkssänger berühmten Gasthaus „Zum Vogelsang“ vorbeikam, riss ihr ein Schuhband, das schon längst dünn gerieben war. Da musste sie haltmachen. Aus den offenen Oberlichtern der Gasthausfenster quoll ein warmer Hauch heraus, der, vom Wind gedrückt, ihr um Mund und Nase strich. Es war ein Duft von Bier, Bratensaft und Gulyas; davon wurde der Hungrigen fast übel. Und während sie das Schuhband knüpfte, hörte sie ungewollt eine Strophe des Wiener Couplets an, das von einer etwas schrillen Stimme vorgetragen wurde:
„Im Wirtshaus sitzt a Deutschmeister
Und schafft scho’ dreimal an;
Der Kellner kummt langmächti net,
Drum schreit er, was er kann:
Ös gasbeleucht’ten Schwalbenschwaf
Mit’n Trinkgeldnehmerg’sicht,
Mir scheint, ös habt’s mit samt’n Wirt
Im Hirn alle die Gicht.
Ham s’ a’n’ Idee?
Das is halt weanerisch, holladiö,
An Witz, an Kern,
So reden d’ Leut in Wean!“ — — —
Von allen Gästen wiederholt, von Jauchzen, Stampfen und Lachen begleitet, scholl der Kehrreim durch die Fensterluken zur Lauschenden. — Gestern noch hätte es ihr bitter weh getan; jetzt musste sie lächeln, während sie durch den märzfeuchten Bahnhofpark der Pelzgasse zustrebte. Daheim angekommen, warf sie ihre Päcke von sich und flog der harrenden Mutter an die Brust. Schluchzend brachte sie die Freudenbotschaft heraus. „Wir haben Arbeit, wir haben beide Arbeit.“ Mit fliegenden Händen packte sie aus. Und sie rechnete der Mutter vor: „Wenn ich an einem Tag ein Mohair-Tüchel fertig bring’ und wenn du, Mutter, ein Dutzend Säcke nähst, verdienen wir mitsammen täglich einen Gulden und zwölf Kreuzer. — Damit sind wir alle vor dem Verhungern geschützt. — Drei Kilo Kartoffel zwölf Kreuzer, ein Liter Milch zehn Kreuzer, zwei Laib Brot fünfzig Kreuzer, da bleiben noch vierzig Kreuzer aufs Gemüs und hie und da auf ein Stück Fleisch; ich hab’ bei einem Pferdefleischhauer am Gürtel das Kilo mit acht Kreuzern angeschrieben gesehen.“ Da schüttelte sich die Mutter vor Abscheu. „Aber, Agi, was fällt dir ein, wer wird denn Pferdefleisch essen?“ — „Essen’s Leute, die nicht so arm sind wie wir, werden’s auch wir essen. Ein altes Vorurteil ist’s, dass Pferdefleisch nicht gegessen werden sollte. Das Pferd ist reinlicher als das Schwein, es frisst nur reines, unverdorbenes Futter, Weil’s aber in alten Zeiten dem Wodan geweiht war, wurde es nur bei Opfermahlzeiten gegessen. Sonst war dem Volk der Genuss von Pferdefleisch verwehrt. — Nur das ist gemerkt worden durch Jahrtausende, aber den Grund haben die Leute vergessen.“ — Die Mutter musste klein beigeben. Agi hatte den Gulyasduft in der Nase und setzte es durch: Am nächsten Sonntag sollte es ein Festessen geben: Pferd-Gulyas mit Nockerln. — Dass sie Arbeit gefunden hatte, musste gefeiert werden. — Plötzlich aber sprang Agi auf und stellte sich in scherzhafter Entrüstung vor die Mutter hin. „Hast mir gar nichts aufgehoben zum Essen?“ Da strich ihr die Mutter beschwichtigend über Stirn und Scheitel. „Schon, schon.“ Im Nu war das Aufgehobene gewärmt. Was war es? Eine nach Majoran duftende Einbrennsuppe mit gerösteten Brotschnitten, und die Mutter tat eine Messerspitze Gänseschmalz hinein, dass es in grossen Augen oben schwamm. — Auch das war ein Festessen. — Wer aber bei der grossen Freude fehlte, das war der Vater. Der hatte schon gestern Kojas Geige von der Wand genommen und beim Trödler verkauft; denn er brauchte Geld, weil er ja weite Wege machte, um Verdienst zu finden. — Kaum hatte Agi den Löffel weggelegt, als sie mit Wolle und Nadel die Arbeit begann. Ihrem Beispiel folgte die Mutter. So stille wurde es bei ihrer emsigen Arbeit im Zimmer, dass das eilige Ticken der Weckeruhr aufdringlich hörbar wurde, und Agi unbewusst die Bewegung der Häkelnadel darnach richtete. Mutter und Tochter dachten an den abwesenden Vater. Und als hätte die eine die Gedanken der andern gehört, verstand die Mutter die Worte Agis: „Aber wir müssen die Arbeit verstecken.“ — „Es gäb’ Verdruss,“ versetzte die Mutter. „Deine Rechnung muss ohne ihn gemacht bleiben, sonst geht’s nicht auf.“ — Es ging auf elf Uhr. — Die arbeitenden Hände hasteten weiter. Und weiter gingen die überlegenden Gedanken. „Für’n Koja wird der Gulden wöchentlich herausgespart. Aber, wenn wir alles aufessen, was wir verdienen, bleibt nichts auf den Wohnungszins, nichts auf Schuh —; mit den Kleidern helfen wir uns noch lang’,“ so Agi. Und die Mutter darauf: „Der Mietzins, der Zins!“ — Schneller zog sie den groben Faden, rascher, als die Uhr angab, ging die Häkelnadel Agis vor und zurück. Und wieder warf die Mutter ein Wort hin: „Wenn wir die Kammer vermieteten?“ — „Was trägt’s?“ fragte die Tochter zurück, ohne die Augen vom gespannten Faden zu heben. „Fünfzehn Gulden mit Bedienung und Frühstück.“ — „Fünfzehn Gulden?!“ staunte die andere. — „Fünfzehn Gulden.“ — Da liess Agi die Hände in den Schoss sinken. — „Dann tun wir’s.“ Und emsiger als vorher suchte sie die verlorene Minute der Akkordarbeit einzubringen. — Aber dem Entschlusse humpelten ihre Bedenken nach. Die Kammer war ja für Koja! Wenn er heimkam, sollte er doch ein liebes Stübchen vorfinden, wo er ungestört seine Gedanken sammeln konnte! Und Agi beschloss, der Mutter die Sache auszureden. Was sie soeben gedacht, sprach sie in kurzen, hingeworfenen Sätzen aus. Sie erklärte, sich bald nach einer besser gezahlten Arbeit umzusehen, dass nur Koja nicht vertrieben wurde aus dem Optimum, dem Besten von jetzt, was doch so bescheiden war gegen das Beste von einst: statt Haus und Garten nur ein Kämmerlein, dessen Fenster in einen trüben Hof gingen. Aber im Kämmerlein anheimelnde Ordnung. Und so sehr hatte sich auch bei der Mutter die Bedeutung des einst vom Oberlehrer Greil gebrauchten Wortes „Optimum“ ins Bewusstsein eingelebt, dass sie nachgab. — Die Kammer sollte also nicht vermietet werden. Gott hatte heute geholfen, er würde weiter helfen. Beruhigt von diesem Trostgedanken, nähte die Mutter weiter. Immer langsamer, immer müder ging die Hand; die Augenlider wurden schwer; nur noch die eine Naht, dass der dritte Sack fertig sei. Dann verbarg sie die Säcke samt Leinwand, Fadenknaul und Nadel unterm Strohsack ihres Bettes und begab sich zur Ruhe. Agi arbeitete fort, bis der Vater käme. — Ein Uhr vorbei. Die Torglocke schrillte durch die Stille der Nacht. — Schlurfende Schritte auf dem Hof. Der Hausmeister ging öffnen. Agi wickelte rasch ihre Arbeit ins Packpapier und legte sie unter ihren Kopfpolster. Dann ging sie dem Vater entgegen. Als sie ihm öffnete, berührte sein Atem ihren