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in die Packung des Brotes einnähte und pünktlich am Donnerstag zur Post trug, damit er die Sendung vor Sonntag erhielte. — Jetzt ging eine arge Quälerei an: Wenn sie um 4 Uhr morgens dem Vater das Frühstück bereitete, verlangte er von ihr ein paar „Sechserln“a) Zehrgeld, obwohl sie ihm Fleisch, Brot und Kaffee in die Diensttasche packte. Schon am Ende der ersten Woche war sie ganz ohne Bargeld. Um den Mehlvorrat zu schonen, verbrauchte sie täglich mehr Kartoffeln, als sie vorbestimmt hatte. Mit denen bestritt sie nicht bloss die Hauptmahlzeiten, sondern streckte auch den Teig beim Brotbacken. Da nahm sich der Vater Lohnvorschüsse; denn bei seinem anstrengenden Dienste genügten ihm die Trinkgeldkreuzer nicht zur Stärkung, die es nicht entbehren konnte. Als auch die Kartoffeln und das Mehl zur Neige gingen, wurde Agi angst und bange. Schon, um Koja vor dem ärgsten Hunger zu schützen, musste sie sich nach Verdienst umsehen. Aber ohne Lehrbrief bekam sie in Wien keine Arbeit als Näherin. Sie hätte als unbezahltes Lehrmädchen anfangen müssen. Sie aber musste jetzt gleich Geld verdienen und sie wollte daheim arbeiten, dann sie konnte sich’s nicht ausdenken, wie’s der Mutter erginge, wenn sie ihr fern wäre. Die nächste Sendung an Koja bestritt sie aus dem Erlös ihrer goldenen Ohrringe. Der Vater liess sich nach und nach die Hälfte des Monatslohns in Vorschüssen geben. Der Rest wurde von Strafabzügen geschmälert, wie sie bei seiner Art der Dienstleistung unvermeidlich waren. Was er am Ersten des Monats auf die Hand bekam, reichte gerade hin, dass der schwer entmutigte Mann sich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Trosträusche antrank. Und die hatten zur Folge, dass er am dritten Tag ohne Abfertigung entlassen wurde. — Und plötzlich war das Elend da, wie sich’s Agi trotz ihrer Belesenheit nicht vorgestellt hatte. Die Vorräte waren bis auf geringe Reste aufgebraucht. Die Mutter war noch bettlägerig, und der kleine Rudi weinte und wimmerte viel, weil er sich an der Mutterbrust nicht satt trinken konnte. Von Koja war noch immer keine Nachricht eingelangt. Die Vorstellung, dass der Bruder Hunger litte, quälte Agi ärger als ihr eigenes Hungergefühl. Und täglich gab es Verdruss, denn der Vater, der das gewohnte Bier schwer entbehrte und der als Arbeitsloser wenigstens rauchen wollte, wenn er schon von den dünnen Mehlsuppen nicht satt wurde, begann allerlei zu verschleppen, was er zum Trödler trug oder ins Wirtshaus, wo er dafür mehr zu bekommen hoffte. Einmal war’s sein eigener Ehering, dann ein gebundener Jahrgang der Gartenlaube, dann das wollene Umhängtuch der Mutter. Und er bestand darauf, Agi müsste sich um einen Verdienst, wenn nicht im Hause, so ausserhalb des Hauses, umschauen; im Inseratenteil des Tagblattes wären täglich genug Stellen ausgeschrieben. „Aber dazuschaun musst, dass dir keine zuvorkommt.“ — „Ich möcht ja, aber wo komm’ ich denn zu einer Zeitung, noch dazu, bevor s’ andre gelesen haben?“ — „Lauf in der Früh, so um viere, in die innere Stadt, dort erfragst die Administration in der Schulerstrasse. Jeden Morgen, wenn die Zeitung aus der Druckerei kommt, werden dort alle Seiten des Annoncenteils heraussen vor’m Lokal aufgeklebt. Da warten schon eine Menge arme Teufel drauf, die sich keine Zeitung kaufen können. Und sobald du was find’st was du leisten kannst, musst laufen, dich vorstellen, dass dir keine zuvorkommt.“ — Drei Tage nacheinander stand Agi um 3 Uhr früh auf; ohne Frühstück lief sie durch die finsteren Gassen des „Neubaus“, fragte sich bei Wachleuten zurecht und drang beim ersten Morgengrauen, als sich das Leben erst in den Gassen zu regen begann, durchs Marktgewühle am Hof in die innere Stadt vor. Sie eilte am noch verschlossenen Stephansdom vorbei und gelangte in die Schulerstrasse, wo ein Zeitungsverlag neben dem andern war. Da gesellte sie sich zur Menge der Wartenden, die sich stiessen und drängten, als die Ankündigungen aufgeklebt wurden. Und als sie sich durchgedrängelt hatte, las sie in fieberhafter Aufregung die Arbeitsangebote. Aber sie fand keine Arbeit, die es ihr möglich gemacht hätte, bei der Mutter daheim zu bleiben. Schleppenden Ganges ging sie den langen Weg zurück, vorbei an rasselnden Wagen und Wägelchen, an eilenden Arbeitern und Arbeiterinnen. Die alle hatten Arbeit und für sie war nichts da? — Mit Bangen dachte sie daran, dass sie dem hungernden Koja nicht das Brot und den Gulden schicken könnte, wenn der nächste Donnerstag kam. Mit gesenktem Kopfe ging sie dahin, dass kein Begegnender die Tränen sehen sollte, die ihr über die Wangen rollten.

      Es kamen schwere Tage für die Familie; die Suppen wurden immer dünner, sie stillten den Hunger nicht. — Der Vater war wenig zu Hause. Täglich ging er zeitig aus, um Arbeit zu suchen. Er nahm sich als Wegzehrung zum Brote so viel Fleisch und Fett aus Agis Vorräten, dass diese beängstigend schwanden. Das letzte Schmalztöpfchen versteckte sie vor ihm, um doch etwas zum Suppenkochen zu haben.

      Da suchte Agi aus dem wenigen Schmuck, der von der Grossmutter her da war, einige Granat- und Korallenschnüre zusammen und trug sie ins Versatzamt in der Kaiserstrasse. — Dort stand sie stundenlang vor den Schaltern herum, inmitten der langhin angereihten Kunden, in einer vom Hauch der Gasflammen und vom Schweiss der Harrenden übelriechenden Luft, bis die Reihe an sie kam. Der Schätzmeister prüfte die Goldschliessen ihrer Korallen- und Granatschnüre auf die Echtheit, indem er damit auf dem schwarzen Probierstein (Kieselschiefer) Striche machte, die er mit Scheidewasser (Salpetersäure) betupfte. Mit angehaltenem Atem starrte Agi auf die Probe und atmete erleichtert auf, als das Gelb sich nur wenig änderte. Aber schwer enttäuscht schaute sie dem Beamten ins Gesicht, als er ihre Kostbarkeiten zusammen nur mit drei und einem halben Gulden belehnte. Sie streckte die Hand nicht aus, um das Geld zu nehmen. Da schob er ihr’s hin und legte die unleserlich beschriebenen Versatzzettel dazu, die mit ihrem Adler und allerlei Zierdruck wie richtige Wertpapiere aussahen: „Ein Drittel vom Metallwert; aufs andere kriegen s’ nix.“ — Geschoben von den Nachdrängenden, raffte Agi die Zettel und das Geld zusammen und ging langsam der Stiege zu; dann aber eilte sie heim; sie musste heut noch einen Verdienst suchen und finden; sie musste dem Elend ein End’ machen. In Gedanken versunken, kämpfte sie gegen den Westwind an, der ihr Staub und Papierfetzen entgegentrieb, während schweres Gewölk den Himmel verdunkelte. Daheim fand sie die Mutter ausser Bett. Blass und matt, bewegte sie sich langsam im Zimmer hin; sie räumte auf. — Agi legte das geringe Ergebnis ihres schweren Ganges auf den Tisch: „Einen Gulden für Koja, das andre auf Brot.“ — „Sei froh, dass du nicht mehr bekommen hast; je weniger, desto eher können wir’s abzahlen; sonst werden unsere Pfänder verlizitiert.“ — Das leuchtete Agi ein. — Getröstet löffelte sie einen Teller Wassersuppe mit eingebrockten Brotrindeln aus, und suchte eilig alles, was ausser Kojas alten Lehrtexten an Büchern da war, zusammen, um es auf dem Dachboden zu verbergen. Die Bücher sollte der Vater nicht finden; die sollten der Not nicht zum Opfer fallen!

      Obwohl es draussen zu regnen begonnen hatte, ging Agi aus dem Hause, um Arbeit zu suchen, geleitet von heissen, inbrünstigen Gebeten der Mutter. Sie war fest entschlossen, nicht früher heimzukehren, bis sie einen Verdienst gefunden hätte, bei dem sie die Mutter nicht allein zu lassen brauchte. Von Wind und Regen getrieben, ging sie rasch dahin, die Lippen fest geschlossen, mit den Augen die Schilder und Schaufenster der Geschäfte musternd. Wo sie eine Pfaidlereib) sah, fragte sie an. So überquerte sie, watend im Strassenkot, den vom Schwerfuhrwerk zerfahrenen Neubaugürtel und bog zwischen den Resten des Linienwallesc) durch, am Zollamt vorbei in die Westbahnstrasse ein. Als sie dort in den grossen Geschäften keinen Erfolg erzielte, begann sie die Seitengassen abzugehen. Gequält vom Hunger, herb enttäuscht von jeder Abweisung, strebte sie vorwärts, getrieben von dem Gedanken: „Es gibt für mich Arbeit, so wie für tausend andre. Sie wartet auf mich, ich muss sie nur finden.“ — Nach langem Herumirren hatte sie zweimal den halben Erfolg erzielt, dass sie als Hilfsarbeiterin Beschäftigung gefunden hätte, das einemal als Spulerin in einer Strumpfwirkerei, das andremal als Auflegerin in einer Notendruckerei. Sie aber gab der Versuchung nicht nach; sie durfte die Mutter mit dem Kleinen nicht verlassen. Schon begann es zu dämmern. Agi wankte entkräftet dahin. Von den durchnässten Schuhen rieselte ein Frösteln durch ihren Leib. Da sah sie in der Seidengasse aus einem Geschäfte, in dessen Auslage Reis- und Kaffeeproben in Säcken feilgeboten wurden, eine ärmlich gekleidete Greisin auf die Gasse treten; die trug zwei grosse Bünde Sackleinen. Von einem Hustenanfall erschüttert, liess die Alte den einen Bund fallen. Agi hob ihn auf und gesellte sich zu ihr, die nur widerwillig und misstrauisch ihre Begleitung litt. „Geh’n S’ liefern?“ fragte Agi das arme Weib, dessen Husten in Röcheln übergegangen war. „Ah, belei’d), dös kann i erst morgen auf d’ Nacht. A Dutzed Säck’ will g’naht sein. In weniger als ein’m Tag zwing’ i’s nit.“ — „Wann’s nur gut ’zahlt wird?“ versuchte Agi sie auszuforschen. Die Alte lachte heiser auf. „Vier Kreuzer für’s Stück.“ —

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