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Notverkäufe durchzuführen, denn die Übersiedlung kostete Geld. Getrieben von der unerbittlichen Notwendigkeit, machte sie alles Geschäftliche kurz und trocken ab; dem bittern Weh, das ihre Seele erfüllte, so oft sie sich von einem lieben Bilde oder Geräte trennte, gab sie keinen Ausdruck. Sie liess auch ihre Augen nicht feucht werden, als sie von der Ziegen Abschied nahm. Dem treuen Dschogg verschaffte sie beim Fleischhauer Lechner einen guten Platz. Den Kater brachte sie der Übleisin zurück. Altes Gerät gab sie dem Hauswart fürs Helfen beim Übersiedeln; von ihm liess sie das Geflügel schlachten. Sie salzte, würzte und briet das Fleisch, füllte es in Töpfe, und goss ein heisses Gemenge von Schweinefett, Gänse- und Entenschmalz darüber. Dann verband sie die Gefässe mit eingewässertem Pergamentpapier, damit das Fleisch, zweifach von der Luft abgeschlossen, monatelang geniessbar bliebe.

      In diesen Tagen brachte die Post ein Päckchen aus der Hinterlassenschaft der Grossmutter; es waren alte Kleider und einige Schmucksachen, darunter ein hohles Goldkreuz. Kein Geld. Wenn Agi abends am Bett der Mutter sass, sprach sie in ihrer altklugen Weise von Koja, der ja geborgen war und der nach den sorgenvollen Studienjahren ihnen allen viel Freude bereiten würde. Lebhaft und anschaulich schilderte sie das Haus der Sehnsucht, mit Gärten und Wiesen und Äckern und Wald. Lächelnd lauschte die Mutter, als hörte sie ein Märchen. „Nicht so arm, als wir aus der Neudamühle gegangen sind, ziehen wir aus dem Prokophaus. — Wir haben Mehl, Kartoffeln, Fleisch und Fett auf ein paar Monate in Vorrat, und Bücher haben wir und Geld. Und der Vater hat eine Stelle, die wenigstens ihn nähren wird. Wir haben beide im Nähen zugelernt und werden in Wien schon verdienen; dort gibt’s ja genug feine Kundschaften. Und Koja wird vom Herbst an in Wien weiterstudieren. Gelt, Mutter, wir halten brav durch, bis er fertig ist.“ Still hörte die Mutter zu und stimmte ihr bei: „Von der Prophezeiung der Schwammerliesel geht wieder etwas in Erfüllung. Wir reisen jetzt bald in die Fremde, dann wird’s noch eine Zeitlang Sorgen geben, manchmal auch Tränen, aber schliesslich folgt die Freud, viel Freud.“ —

      Am nächsten Morgen stiegen die Lorentischen in ein Wagenabteil des gemischten Zuges, dem ihr Möbelwagen angekoppelt worden war. Das erste Läuten war vorbei. Da erscholl vom Bahnhofsteig ein scharfes, hohes Kläffen; am Türsteher vorbei stürmte Dschogg und sprang, die Kette hinter sich herschleifend, die Stufen des Wagens hinan. Winselnd vor Freude, begrüsste er jeden Einzelnen. Die Mutter begann laut zu schluchzen, und auch den anderen wurden die Augen feucht. Noch vor dem dritten Läutenm) erreichte der Fleischergesell, atemlos vom Laufen, den Ausreisser und zerrte ihn an der Kette mit sich fort. Das Abfahrtläuten erscholl; ein schriller Pfiff, ein Ruck an den Verbindungsketten der Wagen, ein Aneinanderschlagen der Puffer, und der Zug setzte sich in Bewegung.

      Im Widerglanz der Morgensonne, wie es Koja so oft gesehen hatte, flammten wieder die langen Fensterreihen des Stiftes, als der Zug an Melk vorbeifuhr. Da zog Agi ihr Taschentuch hervor und winkte hinüber, sie gedachte der Professoren Albert und Gabriel, die auch ans Gute im Wesen ihres Bruders glaubten. Und sie erneuerte in sich das Gelöbnis, diese schicksalschaffende Meinung wahr zu machen. Einen bedeutungsvollen Blick sandte sie zur Mutter hinüber, die, den Säugling an der Brust, unter Tränen zu ihr herüberlächelte. Der ihr gegenübersitzende Vater suchte ohne Rücksicht auf das Kind seinen Groll und seine Sorgen im Tabaksqualm seiner Holzpfeife zu ersticken. Der Zug fuhr in den Tunnel des Sandsteinberges vor Loosdorf ein; die schöne Heimat lag hinter der Familie. Lachend im Sonnenschein, der gelbleuchtend auf der Schneedecke der Hügel und Felder flimmerte, tauchte die Fremde vor ihnen auf. Vorüber am Schloss Schallaburg und der vom Abhang des Dunkelsteiner Waldes herniedergrüssenden Osterburg, ging die Fahrt auf St. Pölten zu, wo Koja zur selben Stunde im Gymnasium sass. Wie friedvoll war die winterliche Welt, wie lieblich das hügelige Gelände, in dessen Bachtälern freundliche Ortschaften mit ihren roten Ziegeldächern eingebettet lagen. Überall kräuselten sich bläuliche Rauchsäulen empor, die, von keinem Windhauch gedrückt, erst in der Höhe der Zwiebeltürmen) der Dorfkirchen zerstoben.

      Die Abschiedsstimmung war überwunden. Der sonnige Tag weckte stille Zuversicht in den Herzen der Reisenden. — Agi öffnete den Esskorb und verteilte mit hausmütterlichem Eifer den Imbiss, Brot und Gänsebraten, darnach den unvermeidlichen Kaffee. Leise plaudernd, näherten sie sich in zuversichtlicher Stimmung ihrem Ziele. — Je weiter sie durch den Wiener Wald aufwärts fuhren, desto mehr füllte sich der Zug mit ländlichen Fahrgästen, die in den Haltestellen und Stationen mit Eierkörben und grossen, blechernen Milchkannen einstiegen. Auch zur Familie Lorent kamen zwei Bäuerinnen und besetzten die Mitte des Abteils. Ihr eintöniges, überlautes Reden störte gar sehr das Behagen der Fahrenden. Mutter und Agi horchten unwillkürlich. Die eine Bäuerin erzählte von ihrem Sohne, der in Wien Uhrmachergeselle war und ein armes Mädel geheiratet hatte. „Und jetzt sitzen s’ im Elend. Zwölf Gulden Wochenverdienst. Vier Kinder. In Ottakring haben s’ eine kleine Armeleut-Wohnung, nur Zimmer, Kammer und Küche. Der Lohn reicht kaum aufs Essen. Die Kammer haben s’ an einen Metalldreher vermietet, der zahlt dafür samt Bedienung und Frühstück fünfzehn Gulden monatlich; das ist grad der Wohnungszins. Weil’s aber auf Schuh und G’wand nit langt, haben s’ in der Küche einen zweiten Arbeiter als Bettgeher. Und die sechse hausen, essen und schlafen alle miteinander in dem ein’ Zimmer. Die Frau ist schon ganz krank; und wie schaun die Kinder aus! A’ Glück nur, dass mein Sohn nit trinkt — und dass ich doch ein bissel nachhelfen kann mit Erdäpfeln, Milch und Eiern; sonst wären’s schon lang schwindsüchtig ...“

      Das klang wenig tröstlich. Agi verliess ihren Fensterplatz und drängelte sich an die Mutter heran, als wollte sie durch ihre körperliche Nähe ihr die Empfindung geben: du wirst nicht allein sein, im Kampfe gegen das Elend. Wir beide werden zusammenstehen in Sorg und Mühen; wir werden das neue Leben uns und unsern Lieben so einrichten, dass es doch vorwärts gehe, dem Hause der Sehnsucht entgegen.

      Am Abgrund vorbei

      In Wien. Die neue Wohnung der Familie Lorent lag in der Pelzgasse, die zwischen dem grossen Schmelzer Friedhof und dem Westbahnhof nordsüdwärts strich und aus zwei Reihen vierstöckiger Zinshäuser bestand. Wie öde, im Vergleich zum bescheidensten Gässchen von Pöchlarn oder Melk! Dort hatten die alten Häuser und Häuschen mit ihren Schwibbögen und Erkerchen, Strebepfeilern und Lugfensterchen ein jedes sein eigenes Gesicht, das vom bodenständigen, kleinbürgerlichen Behagen sprach. Hier war eines wie das andere. Keines hatte vor dem anderen irgend etwas Eigenartiges voraus, es sei denn, dass von den nach Westen gerichteten Stirnseiten da mehr, dort weniger verwitterter Gipsstuck abgebröckelt war. Die Lorentischen bewohnten zu ebener Erde Zimmer, Küche und Kammer eines Hoftraktes, während im Vorderhause ein Perlmutterdrechsler hauste, dessen Werkstattfenster vom anhaftenden Staube undurchsichtig waren. Vom wüsten Hofe aus gelangten sie unvermittelt in ihre langgestreckte Küche, die nur vom schmalen Fensterchen oberhalb der Türe Licht empfing. Rechts von der Küche lag das zweifenstrige Zimmer, in dem Mutter, Vater und Agi wohnen sollten. Links von der Küche war die einfenstrige Kammer, das „Kabinett“. Agi, die an die Heimkehr des Bruders dachte, hatte ihm diesen Raum als Studierstube eingerichtet. Beim Fenster stand ein kleiner Tisch, darüber waren zwei Wandbretter mit der Hausbücherei. Über dem Bett, in dem Koja schlafen sollte, hingen seine Käfer- und Schmetterlingsschachteln an der Wand und daneben, als anheimelndes Stilleben, die Wandertasche, der Wanderstab, die Feldflasche und die vernachlässigte Geige, für die wohl später wieder die Zeit kommen sollte. Auf dem breiten Fensterbrett stand das leere Vivarium, links und rechts davon die noch wenig beblätterten Geranien, welche mit dem leuchtenden Blütenrot dem Ersehnten entgegenjubeln sollten, wenn er im Sommer aus der Fremde kam, um wieder bei den Seinen zu bleiben. Der Blick aus den Fenstern war so trostlos, dass Agi sich beeilte, die unteren Scheiben mit Tüll zu verhängen. Der Hof war von zertretenem, russgeschwärztem Schnee bedeckt, unter dem mancherlei Gerümpel halbverborgen lag, leere Fässer, Kisten, zerfallene Bottiche, Hühnersteigen, rostige Blechkannen, zerbrochene Flaschen, und mitten darunter ein borstiger, umgeworfener Christbaum, dessen Nadeln zum Teil abgefallen waren.

      Alle Hausarbeit in der kaum eingeräumten Wohnung fiel der armen Agi zu, die Mutter kränkelte. Der Vater war seit dem zweiten Tage des Wiener Aufenthaltes als Stellwagenschaffner von 5 Uhr früh bis Mitternacht im Dienst. Agi lobte sich’s, dass sie für die erste Zeit genug Nahrungsvorräte angelegt hatte, denn das aus den Notverkäufen gelöste Geld war fast verbraucht. Die Übersiedlung und die vierteljährliche

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