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— Da stand Koja mit einem Ruck auf und trank stehend den Kaffee aus. „Jetzt kommt aber auch das Schönste. Das Einreihen ist ein Vergnügen, da vergisst man, dass man sich beim Falzschneiden zum Einlassen der Gläser Schwielen geholt hat.“ Und er machte sich mit freudvollem Eifer darüber. Zwischen grellgrüne Papierstreifen, die den mit weissem Glanzpapier überzogenen Torfboden der Schachteln in Felder teilten, reihte er mit liebevoller Sorgfalt die Käfer familienweise ein, wusch verstaubte Stücke mit einem in Benzin getauchten Pinsel rein, schlug einzelne Artnamen im Calwerg) oder im Karschh) nach und schrieb Etiketten mit Angaben des Ortes und der Fangzeit. Schweigend tat er seine Arbeit und nahm sich kaum Zeit zum Essen. Ab und zu, wenn ihm gerade ein Prachtexemplar unter die Hand kam, hielt er es der Schwester hin, die dann sofort ihre Maschine zum Stehen brachte, um dem Bruder beim Freuen und Bewundern zu helfen. Und so oft ihn die Mutter wegschickte, dass er Holz oder Kohle oder Wasser hole, kehrte er ungesäumt zu seiner Sammlung zurück; so brachte er bis zur Dämmerung die drei Schachteln in Ordnung. Mutter und Schwester waren nicht weniger entzückt als der glückliche Koja. Vom vielen Herumstehen und Bücken steif, räkelte er sich und machte sich zum Ausgehen bereit, um statt der Mutter die Einkäufe für den nächsten Tag zu besorgen. In seinem Waschtrog überquerte er das Wasser zwischen dem Prokophause und der Übleis-Scheune, watete in dem vom abgefallenen Wasser noch zerweichten Grunde nach der Stadt Pöchlarn hinüber, kaufte bei der Übleisin Brot, beim Kaufmann Kainrath am Kirchenplatz Zucker und Zichorienkaffee und kehrte eiligst heim. Nach dem Nachtmahl feierte er in seiner Art. Den schnurrenden Kater Dummerl auf dem Schosse, sass er mit dem neuesten Lieferungsheft der Martinschen Naturgeschichtei) im Lichtkreis der Lampe, die sich Agi auf die Nähmaschine gestellt hatte, und las mit stiller Wonne vom Leben der Tiere. Auch die Mutter war mit ihrem Strickstrumpf in Agis Nähe gerückt. Und der getreue Bullenbeisser Dschogg lag zu ihren Füssen, die breite Schnauze auf ihrem Schuh. Er liess seine braunen Augen von einem zum andern gehen. So waren sie alle um Agi versammelt, für die es noch lange nicht Feierabend war. „Es geht uns jetzt besser, als wir geahnt haben damals in Alt-Paka nach dem Verlust unseres ersten Vermögens und weit besser als unmittelbar nach dem Zwangsverkauf unserer lieben Neudamühle, wo der gute Baumeister Prokop uns hier die Wohnung gab und dem Vater bei der Bahn die Stelle eines armselig entlohnten Verschiebers verschaffte.“ So die Mutter. „Und es wird uns noch besser gehen,“ sprach Agi zuversichtlich, „sobald der Koja fertigstudiert haben wird. Wenn er dann Landarzt ist, pachten oder kaufen wir ein Haus mit Garten, Feldern und Wiesen. Eine Sommerstunde aus der schönen Neudazeit ist mir unvergesslich: Wie ahnungsvoll klang uns damals das Lied der beiden Studenten, das Lied vom ‚Haus der Sehnsucht‘, gesungen von Hans Paul, dem Dichter, und Urban, dem Lautenschläger! Weisst du noch, Mutter, im Schatten unserer Hauslinde, wo die Bienenvölker summten?“ — „Wohl, wohl,“ nickte die Mutter, dann arbeiteten beide schweigend weiter und in ihren Seelen schmolz die Vergangenheit zusammen mit der Gegenwart und einer Zukunft, deren Bilder aus dem Entschwundenen stammten. Als Agi merkte, dass Koja zu lesen aufgehört hatte und sich mit dem Anschauen der Bilder vergnügte, forderte sie ihn auf, ihr aus seinem Lehrbuch der Geschichte weiter vorzulesen, wo er gestern stehen geblieben war. Er las den Abschnitt vom Dreissigjährigen Kriege zu Ende, gähnte auffällig und ging zu Bette. Da legte auch die Mutter ihre Arbeit weg, küsste ihre Tochter auf die Stirne und suchte ihr Lager auf. Jetzt erst machte Agi Feierabend in ihrer Art. Sie holte aus der Tischlade ein Schreibheft hervor und arbeitete an ihrem Auszug aus der Weltgeschichte weiter, den sie vor einem Jahre begonnen hatte. Es war schier abenteuerlich, dass sie sich mit dem Gedanken trug, Lehrerin zu werden. Solange sie für fremde Leute nähen musste, um ihre Lieben vor Verelendung zu bewahren, blieben ihr für ihr Studium nur die Nachtstunden, während sie die Heimkehr des Vaters aus dem Dienste erwartete. Der kam erst gegen Mitternacht, diesmal so schwer berauscht, dass er beim späten Abendessen einschlief, ohne die Suppe ausgelöffelt zu haben. Agi musste froh sein, dass er nicht wie sonst durch überlautes Reden die Mutter aus dem Schlummer störte. Sie liess ihn sitzend schlafen, löschte das Licht und begab sich zur Ruhe. Aber sie konnte noch lange nicht einschlummern. Sie sah es kommen, dass der Vater wegen Trunksucht entlassen wurde. Ob dann Koja trotz dem Freitische im Stift und im Brauhaus weiterstudieren konnte, hing davon ab, wieviel sie mit der Nadel verdiente. Dass er beim Buchbinder Berger, wo er die schulfreien Stunden an vier Wochentagen zuzubringen pflegte, so nebenbei die Handgriffe der Buchbinderei erlernt hatte, erschien ihr als eine schwache Hilfe. Ob er die Kraft aufbrächte, als Buchbindergehilfe sich sein Brot zu verdienen und in der Mussezeit seine Studien fortzusetzen, war ihr fraglich. In ihren Augen war Koja noch ein Kind. Wie lange war es her, dass er im Wasser des Eisenbahngrabens Robinson gespielt hatte? Er war noch nicht reif zum Kampfe gegen die Not. Bei aller Begabung, ein Franklinj) war er nicht. Und Koja sollte doch Arzt werden. Hatte nicht der Oberlehrer Greil gesagt, Koja wäre ein „Besonderer“, für dessen Ausbildung jedes Opfer gebracht werden sollte? Wenn auch frei von Aberglauben, rief sich Agi die Prophezeiung der alten Schwammerliesel als Trost ins Gedächtnis. Das erfahrene Waldläuferweib hatte ja der Mutter vorhergesagt, sie werde nach vielem Leide, nach vielen Wanderfahrten und Tränen grosse Freude erleben an ihren Kindern. So schlief Agi ein voll Zuversicht trotz alledem und alledem.

      Am nächsten Morgen prangten die Fenster im Schmucke der Eisblumen. Und unten gefror das Wasser wieder. Der Frost dauerte an. Das Eis wurde tragfähig.

      Im Verlauf der nächsten Tage ging mit Koja eine auffallende Veränderung vor: Er verlor seine helle Knabenstimme; was er sprach, klang rauh, heiser und merkwürdig tief. Es mochte wohl sein, dass er „mutierte“. Dann aber hiess es doppelt acht geben, denn die Zeit des Stimmwechsels ist für jeden jungen Menschen eine gefährliche Zeit, in der so mancher sonst kluge Junge grosse Dummheiten macht. Das bedachte wohl die Mutter und warnte ihren Buben vor unüberlegten Streichen. Und er versprach ihr, auf der Hut zu sein.

      Für Kojas Segelschlittschuhlaufk) blieb das Eis nicht lange tauglich. Es schmiegte sich an die Hügel des Bodens. Es schmolz. Mancher Schaden wurde sichtbar. Die Deckbretter des Hofbrunnens fehlten und auch die Bohlendecke der Senkgrube war weg. Im Wasser, das ein Meter tief unterm Grubenrande stand, schwamm eine „Rumpel“, und die gehörte der Frau Ratz. Das Wellblech im Holzrahmen des Waschgerätes übte auf Koja den Reiz einer Versuchung. — Es war eine Dummheit, eine kleine Dummheit, dass er dem Reiz nicht widerstand. Wie sein Vater einst mit der langgestielten Fischgabel vom Erlafer Steg hinab die Fische aus dem Wasser gestochen hatte, so wollte Koja mit seiner eisenbeschlagenen Flossstange, die noch vom Robinsonspiel da war, die „Rumpel“ heraufholen.

      Erst nach elfmaligem Anstechen des Wellbleches blieb das Gerät an der Spitze haften und wurde von Koja hochgezogen. Da lag es nun, unbrauchbar geworden, und wäre vom Missetäter weit fortgeschafft worden, wenn nicht die Frau Ratz, die vom Fenster aus das Spiel Kojas beobachtet hatte, plötzlich erschienen wäre, um die Rumpel an sich zu nehmen. — Dass sie dem betroffenen Jungen nur einen giftigen Blick zuwarf und, ohne ein Wort zu sprechen, mit der Rumpel im Hause verschwand, hätte Koja wohl veranlasst, die begangene Dummheit erst der Schwester und dann vorbeugend seinem Klassenvorstand zu beichten; aber durch die Rückübersiedlung der Ziegen und die dringlichen Ordnungsarbeiten in Stall und Schuppen wurde er so in Anspruch genommen, dass er die von der angeberischen Frau Ratz drohende Gefahr vergass.

      Die Scharlachferien waren vorbei. An einem wundermilden Wintermorgen, der durch leisen, grossflockigen Schneefall verschönert wurde, fuhr Koja wieder zur Schule. — Dass die Seuche überwunden worden war, ohne ein Leben gefordert zu haben, gestaltete den Unterrichtsbeginn zu einem freudigen Wiedersehensfest. Aus lange nicht mehr empfundener Lernfreudigkeit wurde Koja mitten in der Griechisch-Stunde herausgerissen. Der Schuldiener trat in die Klasse: „Der Herr Direktor lassen um den Schüler Kajetan Lorent bitten.“ — Professor Albert schob sich mit beiden Händen die Brille zurecht: „Ja, haben Sie denn schon wieder was ang’stellt?“ — Koja, dem der Schreck die Kehle zuschnürte, bejahte mit einem ruckartigen Kopfnicken, dann stiess er mit gepresster Stimme hervor: „Ich hab’ die Rumpel der Frau Ratz zerstochen.“ — Ein Kichern ging durch die Klasse. Auch Albert musste lächeln. „Die werden S’ halt müssen zum Spengler geben — und machen Sie sich auf ein paar Stunden Karzer gefasst. Mit der Zeit werden S’ schon g’scheiter werden; jetzt stecken S’ halt grad in den Flegeljahren.“ — Als Koja nach einer Viertelstunde vom Verhör zurückkam, war er kreidebleich und wankte zu seinem Platz wie ein Trunkener. Er bedeckte das Gesicht

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