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aufgewachsen und du warst der Ältere und der Klügere, und ursprünglich erschien es mir ganz selbstverständlich, dass du alles wusstest und ich nichts. Es gab eine Zeit, als du Student im fünften, sechsten Semester warst, da hab’ ich dich einfach bewundert ... o Gott ja — wie sehr — förmlich mit andächtiger Scheu — so wie du alle Dinge in ihre Bestandteile auflösen — alles leugnen, was man nicht sah und mit Händen griff — für alles im Himmel und auf Erden eine kurze wissenschaftliche Formel finden — das schien mir geradezu die Verkörperung menschlicher Weisheit — und die warst du! Jetzt denke ich ja kühler darüber — ohne dass ich dich unterschätze — aber die Eindrücke von damals bleiben — die sind jetzt noch da — das werde ich mein Leben lang nicht los, dass ich mich nie hab’ neben dir recht entwickeln können. ...“

      Sie schaute vor sich hin in die Nacht und fuhr leidenschaftlicher als bisher fort: „Wenn ich dir ein Gedicht gezeigt hab’, das mir aus der Seele gesprochen war, dann hast du gelächelt und gefragt: „Schön! Und was ist damit bewiesen?“ Und wenn ein Regenbogen über dem Neckartal stand, dann konnte ich doch sicher sein, dass du mitten in meine Träumereien hinein sagtest: „Ja — die Brechung des Spektrums im Wassertropfen ist ganz nett!“ Oder es brummten an einem stillen Sonntagvormittag all die Kirchenglocken über der Stadt und man kam in eine Stimmung — ich will es gar nicht Frömmigkeit nennen — aber so ein Gefühl ... einmal über die Dinge hinaus ... zu den Wolken ... von den Höhen aus die Welt ansehen ... dann hast du dich doch ganz gewiss zu mir gesetzt und mir bewiesen, dass es gar keinen persönlichen Gott gibt oder geben kann. Und ich wusste nie recht etwas zu erwidern ... du bist ja viel gescheiter als ich! Das sind ja auch alles nur Einzelheiten ... Beispiele, die ich da erwähne ... Fälle, wo mir dein Einfluss auf mich einmal ganz klar geworden ist. Im grossen ganzen aber war er viel mehr unbewusst. Ich hab’ im Lauf der vielen Jahre Stück um Stück von mir an dich verloren. Alles, was seine Zeit hatte und werden wollte, ist wieder erstorben an deinem überlegenen, schonungslosen Verstand, und das hab’ ich jetzt erst gemerkt, wie arm ich so allmählich geworden bin. Und, siehst du, das ist nun eben der grosse Unterschied zwischen uns: du reisst nicht nur nieder — alles, was du nicht glaubst — du baust dir auch deine neue Welt wieder auf. Du stehst als Arzt mitten im Leben. Du bist ein starker schaffender Mann. Aber ich bin nicht produktiv. Bei mir ist’s bei der Zerstörung geblieben — so wie Papa vorhin sagte: als wäre Scheidewasser über alle Dinge ausgegossen ...“

      Er blieb stumm. So hub sie wieder an. „Wir stehen uns doch weiss Gott nahe ... so nahe ... in so einem seltsamen Wechselverhältnis von Jugendgemeinsamkeit und von Freundschaft und von ... ich glaube, es gibt gar kein rechtes Wort in der deutschen Sprache, um das alles zusammen zu bezeichnen. Aber gerade, dass ich mich so durch dich bedingt fühle, dass ich so abhängig von dir bin und nicht von dir freikommen kann, das macht dich mir wieder fremd. Es ist immer noch ein Rest in mir — der wehrt sich gegen dich und deine Weltanschauung. Aber mehr als sich wehren kann er nicht. Selbständig schafft er nichts zu Tage. Dazu bin ich zu blutleer durch dich geworden. Bisher hatte ich noch immer, seit meiner Kindheit, seit ich ins Gymnasium gegangen bin, meinen fest geregelten Lebenslauf. Die Vorlesungen, die Seminararbeiten, die Vorbereitung zum Doktor, das hat mich gestützt und aufrecht gehalten, so dass ich wohl nach aussen hin nie bekümmert erschienen bin. Aber von heute ab ist das alles mit einem Schlage weg. Ich steh’ zum ersten Male ganz frei in der Welt und allein und weiss nicht, was ich mit mir anfangen soll, und hab’ an dir keinen Halt, sondern fürchte mich davor. Ich kann dir nicht folgen in deine Welt und selber hab’ ich keine! Ich bin einfach obdachlos und das ist meine Aussicht in die Zukunft. Du kennst mich: ich bin doch gewiss ein sehr kühler und ruhiger Mensch — aber glaub’ mir — am liebsten möcht’ ich mich heute abend noch hinsetzen und weinen, wenn ich denk’, wie leer das nun vor mir ist — und wie verschieden wir beide doch voneinander sind ... und es immer bleiben werden — trotz alledem. ...“

      Nun entschloss er sich doch, zu reden — halblaut und mehr, um nicht in seiner unverkennbaren, auf seinem Gesicht sich spiegelnden Betroffenheit durch Schweigen teilnahmslos zu erscheinen, als weil er schon seine Stellung zu ihrer plötzlichen Lebensbeichte genommen hatte. So sprach er nur das nächstliegende: „Aber du musst dir doch irgend ein Bild gemacht haben, was nun kommen soll, Hedwig!“

      „Nein!“ sagte sie hart. „Äusserlich natürlich wird sich schon eine Stellung und Tätigkeit für mich finden. Umsonst will ich mich auch nicht abgerackert haben. Aber innerlich ... ich weiss nicht ... ich hab’ nur so ein Gefühl, als müsse alles ganz anders sein —. Und es kommt vielleicht auch einmal anders ... unvermutet ... ehe man es denkt ...“

      Sie schaute ihn dabei nicht an. Sie sah geflissentlich zur Seite und in die Höhe. Dort funkelten die Sterne an dem jetzt ganz klaren Nachtfirmament. Und es war, als suche sie da oben mit ihren kühlen grauen Augen die Lösung des grossen Rätsels, das Unbekannte ... das Tröstende ... ein Wunder vom Himmel her ...

      Vor ihnen klangen helle jugendliche Stimmen, unterdrücktes Gelächter und halblaute Rufe, und Hermann Riedinger sagte, in den gewöhnlichen Gesprächston zurückfallend: „Komm — wir müssen rascher gehen! Da vorn sind Studenten! ... Dass uns nicht die beiden Damen allein dazwischen kommen!“

      Die Strasse vor ihnen lag eine Strecke weit finster. Die jungen Leute hatten, an den Pfählen hochkletternd, das Gas ausgedreht und mit ihren Stöcken die Scheiben eingestossen. Jetzt kamen sie, möglichst geräuschlos auf den Fussspitzen laufend, in einem Trupp heran, zerhauene Kindergesichter unter bunten Mützen, halb verlegen, halb selig über ihre Heldentat und atemlos. Denn irgendwo aus dem Dunkel heraus drohte bereits in Pfälzer Brülltönen die Stimme des Polizeidieners: „Ich kumm’ Ihne! Warte Sie norr! Ich kumm’ Ihne!“ Immerhin hätten sie noch Zeit gefunden, mit den beiden einsam ihnen begegnenden Damen anzubändeln — aber kaum erkannten sie das schwarze Kleid der Krankenschwester, so wichen sie mit einer plötzlichen Scheu der guten Erziehung, die auch die Bierdünste im Hirn nicht zu erschüttern vermochten, zur Seite, und Demut von Behla und Suse Trautvetter, die ihre Kommilitonen übrigens höchst unbefangen und mit freundlichem Interesse ansah, konnten ungehindert passieren.

      Gleich darauf holten auch Riedinger und Hedwig sie ein. So lange der Weg finster war, gingen sie alle vier zusammen. Dann gewann das vordere Paar wieder einen kleinen Vorsprung. Der erste Schein einer Gaslaterne hatte ihnen in den düsteren Gesichtern der beiden anderen gezeigt, dass man die besser sich selbst überliess.

      Und kaum waren sie halbwegs ausser Hörweite, so sagte der Arzt: „Das sind merkwürdige Dinge, die du mir da erzählst, Hedwig! Ich steh’ auf einmal da wie ein Verbrecher ... und man kann wahrhaftig gar nicht ahnungsloser gewesen sein als ich bis zu diesem Augenblick war. ...“

      Sie unterbrach ihn, ganz ruhig, beinahe wieder heiter, nachdem diese Aussprache nun einmal hinter ihr lag. „Du hast gar keine Schuld — ich wiederhole es dir! Und hast niemals den Versuch gemacht, mich mit Absicht in deinen Wesenskreis zu ziehen. Das ist ganz von selber gekommen dadurch, dass wir nebeneinander gewohnt haben und zusammen aufgewachsen sind. Und ändern kannst du dich auch nicht. Du bist aus einem Stück Holz geschnitzt — man muss sich mit dir abfinden — so oder so. So tu du nichts dazu. Sonst wirds nur noch schlimmer. Weisst du: die Macht, die ein Mensch unbewusst über einen ausübt, die erträgt sich immer noch leichter, als wenn er auf einmal befehlen will. Und da ist deine Klinik. Nun geh hinein! Wir warten hier.“

      Er bot ihr die Hand zum Abschied, obgleich er doch wusste, dass er sie in wenigen Minuten wiedersehen würde. Aber das war wie ein Zeichen des Dankes, dass sie sich überwunden und ihm so viel von sich gesagt, — ein Zeichen der Freundschaft ... oder auch des Trostes ... der Ermutigung ... und er versetzte: „Hedwig — über das alles müssen wir uns noch ganz ausführlich und in Ruhe aussprechen, in den nächsten Tagen. Ich mach’ mich schon ein paar Stunden irgendwie frei und komm’ zu dir heran. Ich hab’ dir ja auch von mir aus viel zu sagen — sehr viel ... ich hab’ auch damit gewartet bis zu dem Tag heute, wo du einen neuen Lebensabschnitt anfängst.“

      Jetzt war gar nichts von Ironie und Schärfe in seinen Zügen — nur tiefer Ernst und eine stumme Frage in seinen Augen — ein Suchen in den ihren, als wolle er ihre letzten, ihm noch versiegelten Gedanken lesen — dann nickte er ihr noch einmal zu und stieg rasch die Treppe hinauf und die Schwester Demut folgte ihm.

      Hedwig

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