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auf der Maschine schrieb und er daher ihrem Vater die Neuanschaffungen seiner Bibliothek zum Einbinden überliess. Das rundliche, schläfrige und unsaubere Männchen, der nach Art dieser kleinen Heidelberger Handwerker alles vertrödelte und für das Drängen der Kundschaft nur ein gutmütiges und mitleidiges Lächeln übrig hatte, machte es ihm nie zum Dank. Aber der Professor war ihm gegenüber weit weniger nervös und ungeduldig, als es sonst seine Art war.

      Hedwig konnte zuerst von oben nur seinen breitkrämpigen grauen Künstlerhut und ein Stück des langen blonden Barts erkennen. Dann, als er einmal im Gespräch mit dem Meister zerstreut zum Himmel aufschaute, wie um zu prüfen, ob es immer noch regne, und dabei sein Blick auch über ihr Fenster glitt und eine Sekunde absichtslos da verweilte, — bei dieser Gelegenheit sah sie auch sein Antlitz — die ausdrucksvollen, aber für sie immer etwas zu weichlichen Züge eines Mannes, der wusste, dass er schön war. Die lebhaften Augen, vor denen er, im Gegensatz zu der Mehrzahl seiner Kollegen, nie eine Brille oder einen Zwicker trug — die an sich ebenmässige, aber schon leise durch einen beginnenden, kaum merklichen Fettansatz der Vierzigerjahre beeinträchtigte Gestalt.

      „Sie missbrauchen wirklich meine Nachsicht!“ sagte er auffallend gelassen mit seiner hellen, aber angenehm klingenden Stimme zu dem Handwerker. „Jeden dritten Tag muss ich zu Ihnen kommen und mahnen. Und dann ist’s noch falsch!“ Er hielt jenem dabei den Lederrücken eines Bandes hin, und der kleine schlampige Meister meinte bedächtig und ohne Überraschung: „Guck emol — do is der Titel verkehrt — dees hot der Gesell wieder geschafft in seiner Tappigkeit ... do hot er schief gelade g’hot — der Schote ...“

      „Ja — warum arbeiten Sie denn nicht selber?“

      „Ha — geschtern war doch Montag!“

      „Nun ja — da tut man doch was!“

      „I net, lieber Herr!“ Philipp Butterweck schüttelte freundlich den Kopf. „Dees ist bei mir net Brauch! Aber morge mach’ ich mich jetzt dapfer dahinner ... Sie kriege Ihr’ Sach’, Herr Professor — do könne Sie sich druff verlasse!“

      „Na — schön!“ Der Geheimrat von Helmstorff grüsste und ging. Und noch einmal streifte dabei sein Blick die Solitanderschen Fenster oben, in deren Schatten er Hedwigs rotgoldenen Kopf gar nicht erkennen konnte. Und sie selbst stieg die Treppe hinunter zum Frühstück mit ihrem Vater.

      Sie traf ihn noch in seinem Studierzimmer, einem grossen, dreifenstrigen Eckraum, in dem schon viele Generationen der Solitander seit zwei Jahrhunderten gehaust hatten, Professoren an der Universität, Magister an der einst hochberühmten, nach fünfhundertjährigem Bestehen erst um 1800 erloschenen „Neckarschul“, kurfürstliche Räte und Amtmänner und namentlich viel Theologen. Einige ihrer Bilder in Allongeperrücke und Halskrause schauten noch, nachgedunkelt und verblasst, von den Wänden herab, — dann ein Porträt des Pfalzgrafen Karl Theodor, der fünfzig Jahre lang auf seine Art das Land beherrscht, Schattenrisse und Kleingemälde bekannter Heidelberger Humanisten und Kunstfreunde wie von Johann Heinrich Voss und Boisserée und von dem Grafen von Graimberg — ein paar eingerahmte Bleistiftzeilen Lenaus aus einem Heidelberger Aufenthalt — alles Widmungen der Zeitgenossen an die damals lebenden Solitander. Auch viele Erinnerungen aus der Zeit der Burschenschaft nach 1815 waren da, der Hedwigs Grossvater mit Leib und Seele angehört — ein Bild des Wartburgfestes und eine Nummer der „Isis“ unter Glas, dann die schwarzgeränderte Ansicht einer Burgruine mit der Unterschrift: Hambach 1830 und ein Männerkopf, der nach den verwaschenen Lettern darunter den Doktor Siebenpfeiffer vorstellte und, früher als Heiligtum des Hauses betrachtet, in einem Kästchen ein Stück Holz von Sands Schaffot in Mannheim und eine Bleistiftzeichnung des aus dessen Bohlen gezimmerten, jetzt noch über dem Heidelberger Kirchhofsweg stehenden Weinberghäuschens.

      Die Schatten der Vergangenheit lagen über all den Dingen — viel verlorenes Hoffen — vergessenes Sehnen — verwehtes Mühen — dem jungen Geschlecht, im Glanz des neuen Reiches schon ganz unverständlich und fern. Denn all diese Gedenkzeichen reichten nur bis zum Jahr achtundvierzig. An dessen Schwelle machten sie halt. Nichts erinnerte an Gryphius Solitanders eigene Sturm- und Drang- und Turm- und Strangzeit, wie er es wohl als alter Mann jetzt nannte. Im Zellengefängnis in Bruchsal hatte er keine Musse gehabt, Reliquien zu sammeln, und als er viele Jahre später aus Amerika zurückkehrte, da war die Welt anders geworden und die Buben auf den Strassen sangen nicht mehr: „Wenn die Fürsten fragen, was macht Hecker doch?“ sondern sie jubelten die Wacht am Rhein, und es hatte einen heissen Sommerabend gegeben — da stand er, der Achtundvierziger, in dunkler Nacht auf den Anlagen von Heidelberg — die Menschen Kopf an Kopf um ihn wie eine Mauer unter den Platanen — und zwischendurch bewegte sich ein langer, endlos langer Zug stumm schwankender Bahren — weisse, stille, unbewegte Gestalten darauf — die Verwundeten von Weissenburg — ein paar Frauen schluchzten krampfhaft — sonst war alles totenstill und doch lag ein Ahnen in der Luft, ein Wehen: das Reich ist kommen! — und ihm, dem alten Freischärler, rannen die Tränen übers Gesicht und er verstand die Welt nicht mehr ...

      Das einzige, was unter den Erbstücken der Vergangenheit in seinem Hause sein eigenes war, auf ihn persönlich hinwies, das waren die grossen Glaskästen mit Schmetterlingen und Käfern, die jeden freien Platz füllten. Darin war er Fachmann, auch in Gelehrtenkreisen anerkannt, und bastelte, als Hedwig eintrat, eben an einer Anzahl sauber aufgespiesster Nachtmotten seiner Sammlung herum. Die fing er sich selbst um Mitternacht mit einem Licht auf einem Kreuzweg in den Bergen. Da sass er in seinem grauen Kapuzinermantel — uralt — aber steif aufgerichtet und regungslos wie ein Magus des Nordens — und jetzt noch erzählten Kerle, die sich mit verstohlenem Hasenschlingenlegen befasst hatten: oben, am „hohlen Käschtebaum“ geistere es wüst! Da hätt’ ein Gespenst gehockt! Da seien sie aber gesprungen ...

      Er nickte Hedwig freundlich zu, gab ihr über die Kästen, die er auf seinen hochgezogenen langen Beinen hielt, hinblinzelnd die Hand und sagte nur: „Ich komme gleich! Drinnen liegt ein Brief für dich! Der erste! Von heute nachmittag ab wird’s erst losgehen — mit den Glückwünschen und Telegrammen ...“

      Hedwig nahm im Nebenraum das Schreiben vom Frühstückstisch. Es war eine weibliche Handschrift. Sie öffnete es und las:

      „Sehr verehrtes Fräulein Solitander!

      Schrecklich leid hat es mir getan, Sie gestern gerade zur ungelegensten Zeit aufgesucht zu haben. Ich glaubte, nach einer beiläufigen Bemerkung meines Mannes, dass Ihr Examen schon vorgestern stattgefunden habe. Zu dessen so schönem Erfolg, von dem er mir gleich beim Nachhausekommen berichtete, bitte ich Sie, meine aufrichtigen Glückwünsche entgegennehmen zu wollen. Wenn Sie gestatten, wiederhole ich morgen, Dienstag, zwischen zehn und elf Uhr Vormittags meinen Besuch bei Ihnen. Ich hoffe, dass ich Sie da nicht so störe, wie heute Nachmittag, und bin inzwischen mit besten Empfehlungen Ihre ergebenste

      Alwine von Helmstorff.“

      „Komisch!“ sagte Hedwig zu ihrem Vater, der ihr inzwischen gefolgt war. „Frau von Helmstorff will heute schon wieder zu mir kommen.“

      „Weswegen denn?“

      „Ich hab’ keine Ahnung! Sie ist sonst gar nicht so zutunlich! Vielleicht ist’s wegen dem nächsten Luisenbazar, dass ich da mitwirken soll.“

      Die Angelegenheit der Frau von Helmstorff interessierte sie nicht weiter. Das würde sich ja finden. Sie zerriss achtlos den Brief und warf ihn zur Seite. Ihr Vater nickte und sah sie an. Sie war heute sehr blass. Das eigentümlich Müde, Leere bei ihr merkte jetzt sogar er, der sich eigentlich stets mehr um Käfer und Schmetterlinge als um die eigene Tochter gekümmert hatte. Der hatte er erlaubt, ihren eigenen Weg zu gehen. Dafür musste sie ihm dankbar sein. Aber das war auch alles. Näher kam man dem alten Sonderling selten, und doch fühlte Hedwig unbestimmt, dass gerade das, was auch in ihr ein wenig seltsam war — was sie von den anderen abschied und innerlich so einsam machte — dass es ein Erbteil seines Blutes bedeutete.

      Und jedesmal, wenn sie daran dachte, hatte sie eine Sehnsucht — ein Heimweh nach der kaum gekannten Mutter, der früh Verstorbenen, deren Bild — ein feines, blasses junges Antlitz unter goldrot schimmerndem Haar — dort drüben an der Wand hing. Und darunter blühten und dufteten die Veilchen, die der Alte gestern hingestellt ...

      „Du

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