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draussen im Westen, in der Rheinebene aus. Der Osten, das Altviertel verödete mehr und mehr.

      So waren die vier Mauern beschaffen, in denen Hedwig Solitander vor etwa dreissig Jahren das Licht der Welt erblickt. Noch führten drei breite uralte Stufen zu dem Eingangstor hinauf, über ihm prangte noch in Stein gehauen das Wappen des Landes — nicht der neumodische badische Greif, sondern der springende kurpfälzische Löwe des heiligen Reichs, in der Nische unter dem wie ein Vogelbauer vorspringenden Erkerkämmerchen grüsste immer noch kunstvoll gemeisselt und gestrichen die Madonna und reiche Ornamentik umgab die ausgebauchten Fensterwölbungen des Erdgeschosses. Aber das alles war nur äusserlich. Innen wohnte Alltagsvolk — Handwerker, Kleinhändler in Menge, die wieder ihre Vorderstuben an Studenten, die Hofkammern und Gauben an Schlafburschen weitervermieteten. Andere Parteien fand der alte Solitander nicht. Und Zins einnehmen musste er. Dies Haus war sein einziger Besitz, das Erbteil der alten Humanistenfamilie seit Jahrhunderten.

      Das Tor stand noch offen, und als die fünf Mädchen hineingingen, verabschiedete sich Käthchen Butterweck, die gleich im Flur links wohnte. „Also schönen guten Abend, Fräulein Doktor!“ sagte sie unsicher und hielt die Hand hin, und bei den anderen entstand eine Heiterkeit, die etwas von Betroffenheit und dann auch von nachträglicher Rührung und Genugtuung an sich hatte. Zum ersten Male war das Wort „Fräulein Doktor“ gefallen. Auch Hedwig Solitander lachte. „Käthchen, lassen Sie die Dummheiten unterwegs“, sagte sie. „Weh jedem von euch, der mich Doktor nennt! Das gibt’s nicht! Verstanden! Gute Nacht!“

      Damit klopfte sie der Kleinen auf die Schulter und stieg mit den beiden Studentinnen, die bei ihr wohnten, und der Krankenschwester die Treppe hinauf. Oben, im dritten Stockwerk, war es lampenhell. Da stand ihr Vater und räusperte sich, wie er sie sah, und tat, gleichgültig zur Seite blickend, als habe er rein durch Zufall eben einmal durch den Türspalt geschaut.

      Der alte Achtundvierziger war jetzt schon sehr betagt, seine hohe, magere Gestalt durch die Last von beinahe achtzig Jahren gekrümmt. Ein ganz kleiner, mit spärlichem, schlohweissem Haar und einem zahnbürstenartigen Schnurrbärtchen gezierter Kopf sass darauf. Die Augen waren trübe. Aber Sprache, Bewegungen, alles sonst an Gryphius Solitander strafte sein Greisentum Lügen. Er schrieb seine ungewöhnliche körperliche und geistige Rüstigkeit einem besonderen Umstand zu: seit vielen Jahrzehnten lief er täglich, im Sommer und Winter, bei Wind und Wetter, Nachmittags die zweitausend Fuss auf den Königstuhl hinauf, trank oben Kaffee und trabte wieder zurück, mit seinen langen, dünnen Beinen wie mit Siebenmeilenstiefeln ausgreifend.

      Hedwig hatte ihm nicht gesagt, dass sie heute ihr Doktorexamen machen würde. Das liess sich leicht geheim halten, zumal gegenüber dem alten, weltfremden Sonderling, der geflissentlich, mit beinahe krankhaftem Eigensinn, jeden Verkehr mit der Universität vermied. Nun war sie gespannt, wie er sich dazu verhalten würde. Sie wusste schon: er machte alles anders als andere Leute.

      Und wirklich hatte der alte Solitander sich schon seine Taktik zurechtgelegt. Er tat gar nichts derart — ganz gleichgültig — als ginge ihn, der sich nie um den Studienplan seiner Tochter gekümmert, sondern sie ruhig hatte in die Vorlesungen wandern lassen, die Geschichte gar nichts an.

      „Guten Abend, meine Damen!“ sagte er mit seiner auffallend hellen, ein wenig weinerlichen Stimme. „Was schleppst du denn da für Blumen und Grünzeug, Kind?“

      „Ich hab’ eben meinen Doktor gemacht, Papa!“

      „So, so,“ meinte der Alte trocken, rieb sich die Hände und schrie dann in den Flur zurück: „Baas, Sie haben recht! Die Hedwig hat ihren Doktor gemacht.“

      Daraufhin erschien eiligst die Baas, wie die alte Wirtschafterin allgemein genannt wurde, die seit einem Vierteljahrhundert — seit Hedwigs Mutter noch ganz jung gestorben — im Hause das Pantoffelregiment führte, trocknete sich die Hände an der Schürze und brach in einen frohlockenden Redeschwall aus. „Oh mei! Oh mei awwer ich hab’s mir gedenkt — wie die Fräule Hedwig gesagt hot, die grüne Einsätze aus dem schwarzen Kleid gehörte ’rausgetrennt — und ich dagegen geredd: die Einsätze sin doch grad schön! Und sie wieder: Das verschteht sie net, Baas! Das Kleid muss ganz schwarz werre, so wie wenn e Herr e Frack anzieht! .. No — do haww’ ich gemerkt: Alleweil kummt’s! Und wie sie sich heut noch hot um sechs Uhr Nachmittags extra schtarke schwarze Kaffee mache losse und als gegähnt und auf und ab geloffe im Zimmer ... lasse Sie sich ’mal angucke, Fräule Hedwig ... Sie schaue aus wie vorher ...“

      „Na natürlich!“ sagte Hedwig ziemlich grob und lachend. „Was soll ich denn sonst für ein Gesicht machen! Baas! Keine Volksreden mehr! Es ist genug der Rührung! Schau sie lieber, dass wir bald was zu essen kriegen! Jetzt hab’ ich Hunger. Und die Damen vermutlich auch!“ Das hoffte die Baas, die sich allmählich von ihrer Aufregung erholte! Aber halt! ehe sie’s vergass! Vorhin war eine Dame dagewesen. Die hatte Fräulein Hedwig besuchen wollen. Da war die Karte.

      Hedwig nahm sie und las: „Frau Geheimrat von Helmstorff, geb. Trenkle“, — und sagte, das Blättchen weglegend: „Wie nett von ihr! Das hätt’ ich ihr gar nicht zugetraut! Wahrscheinlich wollte sie mir noch vorher Glück wünschen!“

      „Sie hätt’ gedacht, das Examen wäre schon gestern gewesen, hot sie g’sächt!“ berichtete die Baas.

      „... Ja — das sollt’s auch eigentlich sein. Es ist erst in letzter Stunde verschoben worden, weil der eine Professor nicht Zeit hatte.“

      „... und ’s wär’ ihr halt arg, dass sie da letz gekomme wär’, — und ihre beschte Empfehlung an das Fräulein!“ vollendete die Baas ihre Meldung.

      „Nun ja — da war das die Dame vorhin schon! Da ist sie vorhin auf dem Rückweg an der Universität bei uns vorbeigegangen!“ sagte Olga Ritter. „Ich wusste gar nicht, dass Sie bei ihr verkehren!“

      „Gott — ich war drei- viermal dort im Haus!“ Hedwig legte den Mantel ab und strich das goldflammende Haar vor dem Spiegel glatt. „Ich hab’ mich durch den alten Trenkle bei seiner Tochter einführen lassen, weil Helmstorff doch einer von meinen Examinatoren war. Sonst hätte mich das bei ihm wenig gelockt. Es ist da immer ein Treiben — Gelehrte aus Indien und Abgeordnete aus Berlin und Amerikanerinnen und eine Wirtschaft wie bei einem kleinen Hof. Und er immer als Mittelpunkt. Da hält er dann Cercle. Zu dumm!“

      „Sie haben doch aber auch viel bei ihm belegt gehabt?“ frug Olga Ritter.

      „Nur das Privatissimum ... von vier bis sechs. Das musst’ ich ja wohl! Übrigens — er macht es einem nicht schwer ...“

      Die Baas war inzwischen schon längst fortgesprungen. Sie hatte einen Hasen in der Küche. Er brozelte schon. O, es war schon alles vorgesehen. Und als die anderen in die Wohnzimmer traten, da ergab es sich, dass durch ein merkwürdiges Spiel des Zufalls gerade heute überall die hohen Kerzenkandelaber aus altem Familiensilber brannten und festlichen Glanz in den wunderlich verschnörkelten, mit uraltem Kram vollgestopften Gemächern verbreiteten, und dass unter dem lebensgrossen Ölbild von Hedwigs Mutter, einer feinen zarten Frau, die auch das herrliche Goldhaar ihrer Tochter besessen, ein grosser Strauss von Veilchen und Farrenwedeln seine süssen Düfte aushauchte, und da und dort ein paar Rosenbüsche seltsam zwischen dem Gelehrtenhausrat schimmerten. Aber der alte Solitander hüstelte wieder, rückte seine lange Pfeife in dem Mund zurecht und sprach vom Wetter. Danken durfte ihm Hedwig nicht, ohne ihn zu verstimmen, so wenig wie für die drei Hundertmarkscheine, die sie, als man sich alsbald zu Tisch setzte, unvermuteterweise in einem Umschlag unter ihrer Serviette fand. Die hatten — nach Gryphius Solitanders weltentrücktem Gesichtsausdruck zu schliessen — wahrscheinlich Heinzelmännchen dorthin gelegt und ebensolche dienstbare Hausgeister die bestaubte Flasche Überrheiner Edelweins aus dem Keller geholt, die der Alte jetzt gleichgültig, als handle es sich um ganz gewöhnlichen Bergsträsser, in die Gläser goss.

      Und auch darin zeigte sich das unausgesprochen Feierliche des Abends, dass der Hauptmann a. D. Evangelist von Thiengen anwesend war, der bei keiner besonderen Gelegenheit als Gast fehlen durfte. Denn er war, obwohl um fünfzehn Jahre jünger, der einzige Freund des Hausherrn — ein stiller weissbärtiger kleiner Mann mit guten blauen Augen. Auf dem einen Ohr hörte er ein bisschen schwer. Da war ihm 1870 bei der Belagerung

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