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sind nicht in der Perspektive des Sprechers eingeschlossen. Durch die Einnahme dieser Binnenperspektive wird die Aktion als im Verlauf befindlich interpretiert. Diese progressive Lesart definiert Pérez Saldanya (2004: 216) folgendermaßen: „La acepción progresiva […] se caracteriza por presentar una situación en curso y por focalizar un punto del desarrollo de esta situación“. Durch die Fokussierung eines punktuellen Referenzzeitintervalls tritt in Beispielsatz 62 eine fokalisierende Lesart zu Tage. Das spanische imperfecto kann aber auch mit einem durativen Referenzzeitintervall kombiniert werden.3 Beispielsweise kann der Richter den Zeugen bitten, die Situation während eines Gesprächs mit Luis (= Topikzeit) zu beschreiben. Der folgende Satz wäre als Antwort möglich:

(63) Durante la conversación con Luis, un hombre no paraba de mirarme.
– – – – [ – – – – ] – – – –

      Die durative Topikzeit in Beispielsatz 63 hat zwar eine größere zeitliche Ausdehnung als in 62, ist aber noch immer in der Situationszeit eingeschlossen, weshalb eine imperfektive, durativ-progressive Lesart eintritt. Diese Semantik kann außerdem durch weitere Periphrasen zum Ausdruck gebracht werden (z. B. ir + gerundio, andar + gerundio oder continuar + gerundio; vgl. Martínez-Atienza 2004: 355).

      Im Spanischen kann die progressive Bedeutung sowohl mit dem imperfecto als auch mit der Periphrase estar + gerundio ausgedrückt werden (vgl. Arche 2014: 801; Pérez Saldanya 2004: 216; Real Academia Española 2009: 1688; Martínez-Atienza 2004: 354). Die gerundio-Periphrasen stellen eine Handlung in ihrem Verlauf dar und betonen somit den prozesshaften Charakter derselben: „[El gerundio] presenta una visión de la acción en su desarrollo, una visión de la acción en curso“ (Yllera 1999: 3402). Diese verlaufsartige Semantik ergibt sich daraus, dass sich die Periphrase aus einem schon realisierten und einem noch zu realisierenden Teil zusammensetzt. Diese Idee findet sich schon bei Guillaume (1929: 15–17), wird von Alarcos Llorach (1978: 57–59) auf das spanische Gerundium angewandt und schließlich von Yllera (1999: 3394) in die Gramática descriptiva del español übernommen.4 Wie auch in anderen romanischen Sprachen weitet sich die Verwendung der Periphrase im Spanischen auf andere semantische Bereiche aus. Beispielsweise ist ein Wechsel von der prototypischen, fokalisierenden hin zu einer durativen Lesart erkennbar (vgl. García Fernández 2009: 259). Darauf deutet die Verwendung im nächsten Beispielsatz hin, in welchem auf ein unbegrenztes, duratives Zeitintervall Bezug genommen wird:

(64) ¡Siempre te estás quejando!
(Beispielsatz aus Yllera 1999: 3405)

      In den Kapiteln zum Deutschen, Englischen und Französischen wurde dargelegt, dass die entsprechenden Progressivperiphrasen nicht mit statischen Prädikaten kombiniert werden können. Dies trifft prinzipiell auch auf die spanische Periphrase zu (vgl. Yllera 1999: 3409). Kommt es trotzdem zu einer solchen Kombination, erfolgt eine Dynamisierung des Prädikats:

(65) Estás siendo tonto.
(Beispielsatz aus García Fernández 2009: 266)

      In Bezug auf die Vergangenheit kann estar sowohl mit perfektiver als auch mit imperfektiver Morphologie vorkommen. Tritt es mit imperfektiver Morphologie auf, kann es prinzipiell mit der progressiven Lesart des imperfecto ausgetauscht werden (vgl. Arche 2014: 801; Real Academia Española 2009: 1688, 1756; Yllera 1999: 3403):

(66) Cuando sonó el teléfono, Eugenio se levantaba de la cama.
(67) Cuando sonó el teléfono, Eugenio se estaba levantando de la cama.
(Beispielsätze aus Real Academia Española 2009: 1756)

      Wird das Hilfsverb mit perfektiver Morphologie verwendet, drückt die Periphrase ein Ereignis aus, das in seinem Verlauf dargestellt wird und während einer begrenzten Zeitspanne anhält: „Con estar en tiempo perfectivo […], la perífrasis indica una acción vista en su transcurso cuyo desarrollo ‘permanece’ durante un tiempo“ (Yllera 1999: 3405; Hervorhebung im Original).

      Wie auch im Französischen kann das spanische Imperfekt Habitualität ausdrücken. Diese Semantik bezieht sich auf eine Situation „[que] se repite de manera más o menos regular un número indeterminado de veces durante el intervalo de tiempo que se toma como referencia“ (Pérez Saldanya 2004: 216). Die habituelle Lesart zeigt somit an, dass eine Handlung nicht ein Mal, sondern eine unbegrenzte Anzahl von Malen stattfindet:

(68) Cuando era pequeño, las clases en el colegio empezaban a las ocho de la mañana.

      Habitualität kann außerdem mit periphrastischen oder lexikalischen Mitteln ausgedrückt werden, beispielsweise soler + Infinitiv oder tener la costumbre de + Infinitiv, aber auch mittels Adverbien wie habitualmente, generalmente oder siempre (vgl. Real Academia Española 2009: 1688; Martínez-Atienza 2004: 346).

      Abgesehen von diesen Grundbedeutungen hat das imperfecto noch zahlreiche modale Nebenbedeutungen, auf die nicht näher eingegangen wird, da sie für die vorliegende Arbeit nicht von Relevanz sind (für eine genauere Darstellung vgl. García Fernández 2004: 90–94; Fernández Ramírez/Bosque 1986: 269–276).

      In diesem Kapitel wurde gezeigt, dass sowohl das Spanische als auch das Französische und das Lateinische in der Vergangenheit zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt unterscheiden, dafür aber teilweise andere Formen verwenden. Im nächsten Kapitel werden die fünf Sprachen gegenübergestellt und es wird veranschaulicht, inwiefern sie sich bezüglich der Opposition perfektiv/imperfektiv unterscheiden.

      2.3.5 Konklusion: Tempus und Aspekt aus einer sprachvergleichenden Perspektive

      In diesem Kapitel wird zusammengefasst, wie das Deutsche, das Englische, das Lateinische, das Französische und das Spanische die für diese Arbeit relevanten semantischen Konzepte versprachlichen, und inwiefern es Einschränkungen bezüglich der Kombination mit lexikalischem Aspekt gibt (siehe Tabelle 8). Weder das englische present perfect noch das spanische perfecto compuesto werden in die Tabelle aufgenommen, da sie nicht Teil der Opposition perfektiv/imperfektiv sind. Aus diesem Grund werden sie auch im Laufe der Arbeit nicht weiter thematisiert.

      Beim Präteritum und beim Perfekt handelt es sich um zwei Formen, deren Grundbedeutung keine aspektuelle Information beinhaltet. Sie können mit allen lexikalischen Aspektklassen kombiniert werden. Das englische simple past wurde als aspektneutrale Form beschrieben und drückt damit primär temporale Vorzeitigkeit aus. Es kann ebenfalls mit allen lexikalischen Aspektklassen verbunden werden. Das past progressive hingegen kann nur mit nicht statischen Prädikaten kombiniert werden und drückt primär Progressivität aus.

      Die Unterscheidung zwischen perfektiv/imperfektiv findet sich sowohl im Lateinischen als auch im Französischen und Spanischen. Die entsprechenden perfektiven Formen (das lateinische Perfekt, das passé simple/passé composé und das perfecto simple), besitzen das semantische Merkmal [+ perfektiv]. Der andere Teil der Opposition, der imperfektive Aspekt, drückt sowohl die habituelle als auch die kontinuative und die progressive Semantik aus. Alle Formen können mit allen lexikalischen Aspektklassen verbunden werden und unterliegen keinen Einschränkungen. Die Progressivperiphrasen être en train de und estar + gerundio drücken wie die englische Periphrase primär progressive Bedeutung aus und können nur mit nicht statischen Prädikaten kombiniert werden. In Tabelle 8 findet sich eine zusammenfassende Darstellung, in der beschrieben wird, welche aspektuellen Grundbedeutungen Bestandteil der entsprechenden

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