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können ihnen unterschiedliche neuronale Aktivitäten zugewiesen werden. Aufgaben, die das deklarative Gedächtnis beanspruchen, aktivieren beispielsweise Bereiche im medialen Teil des Temporallappens (v. a. im Hippocampus). Das prozedurale Gedächtnis hingegen zeigt primär Aktivitäten in den Basalganglien und im Cerebellum (Brodmann-Areal 6 und 44; vgl. Ullman 2016: 954–956).

      Ullman (2016: 956–958) geht davon aus, dass im Grunde beide Systeme über ähnliche Fähigkeiten verfügen und sich damit einhergehend prinzipiell ähnliches Wissen aneignen können. Dank der schnellen Lernfähigkeit wird gerade am Anfang eines Lernprozesses auf das deklarative System zurückgegriffen, bis sich durch mehrmalige Darbietung eines Reizes auch Repräsentationen im prozeduralen System ausbilden. Das Wissen im deklarativen System scheint dabei intakt zu bleiben.

      Als Vertreter der non-interface-Position verstehen Ullman (2016) und Paradis (2009) Prozeduralisierung nicht als die Transformation von explizitem in implizites Wissen, sondern als die simultane Herausbildung von implizitem Wissen in einem anderen Gehirnareal. Dies führt dazu, dass immer mehr auf das implizite/prozeduralisierte und immer weniger auf das explizite Wissen zurückgegriffen wird:

      Proceduralization could not refer to the transformation of particular explicitly known rules into implicit computational procedures, but only to the gradual replacement of the use of explicit knowledge […] by the use of implicit competence newly (and independently) acquired through repeated use […]. Acquisition is not […] the proceduralization of explicit knowledge because an implicit procedure does not constitute the faster and faster application of an explicit rule; it operates on the basis of principles of a different type (Paradis 2009: 16; Hervorhebung durch den Verfasser).

      Die eben dargestellten neurobiologischen Grundannahmen werden von den deklarativ-prozeduralen Modellen von Ullman (2001, 2015, 2016) und Paradis (2004, 2009) übernommen und auf den L1- und L2-Erwerb angewandt. Im Folgenden wird das Modell von Ullman im Detail dargestellt und auf jenes von Paradis nur an jenen Stellen eingegangen, an denen sich die beiden Modelle unterscheiden. Ullman (2015: 140, 2016: 958) geht im Hinblick auf den L1- und den L2-Erwerb davon aus, dass jede Art von idiosynkratischem Sprachwissen mithilfe des deklarativen Systems gelernt wird. Dies betrifft beispielsweise einfache Inhaltswörter inklusive deren (phonologischer) Form, Bedeutung, zugrunde liegender grammatikalischer Informationen sowie deren Form-Bedeutungs-mappings.1 Außerdem werden auch unregelmäßige morphologische Formen, Redewendungen etc. in diesem System gespeichert (vgl. Ullman 2016: 958).

      An dieser Stelle unterscheiden sich die Modelle insofern, als Paradis (2009: 12–22) den Unterschied zwischen Lexikon und Vokabular betont (für überblicksartige Darstellungen zum mentalen Lexikon vgl. Levelt et al. 1999: 4; Müller-Lancé 2003; Raupach 1997: 21): Ersteres bezieht sich – so Paradis – auf die impliziten grammatikalischen Eigenschaften der lexikalischen Items (= lemma-stratum bei Levelt et al. 1999: 4), und somit explizit nicht auf die Form-Bedeutungs-Assoziationen, die er Vokabular nennt (= form- und conceptual-stratum; vgl. ebd.). Laut Paradis (2009: 12) werden die grammatikalischen Eigenschaften des Lexikons im L1-Erwerb mithilfe des prozeduralen, das Vokabular sowohl im L1- als auch im L2-Erwerb durch das deklarative System erworben. Beide Modelle haben Vor- und Nachteile: Paradis kann die Unterscheidung zwischen explizit/implizit bzw. deklarativ/prozedural aufrechterhalten und muss im Gegensatz zu Ullman nicht erklären, warum die implizite grammatische Information des lemma-stratum im deklarativen System abgespeichert sein sollte. Ullmans Modell hat allerdings den Vorteil, dass es die einzelnen Strata eines lexikalischen Eintrags des mentalen Lexikons – aufgrund der vermeintlich unterschiedlichen Speicherung im deklarativen bzw. im prozeduralen Gedächtnis – nicht getrennt voneinander behandeln muss.

      Im Allgemeinen schreibt Ullman (2016: 958–959) dem deklarativen System eine enorme Bandbreite an Lernmöglichkeiten zu, sodass im Prinzip nicht nur idiosynkratisches Wissen, sondern auch regelbasierte Aspekte einer Sprache mithilfe dieses Systems (implizit oder explizit) gelernt werden können. Laut Ullman (2015: 141) hängt jede Art von implizitem und probabilistischem Lernen (z. B. Sequenzlernen) sowohl im L1- als auch im L2-Erwerb prinzipiell vom prozeduralen System ab. Allerdings unterliegt das prozedurale System einer sensiblen Phase (vgl. Grotjahn 2005; Herschensohn 2013; Johnson/Newport 1989 für einen allgemeinen Überblick zum Faktor Alter), sodass laut Ullman (2001: 108–111) ein wesentlicher Unterschied zwischen dem L1- und dem L2-Erwerb darin besteht, dass Grammatik vor der Pubertät mithilfe des prozeduralen Systems gelernt wird, wohingegen sich Spracherwerb ab dem frühen Erwachsenenalter durch einen stärkeren Rückgriff auf das deklarative System auszeichnet (vgl. auch Paradis 2009: X):

      Whereas earlier learners rely largely on procedural memory for grammatical computations, later learners tend to shift to declarative memory for the same ‘grammatical’ functions, which are moreover learned and processed differently than in earlier learners. Thus processing of linguistic forms that are computed grammatically by procedural memory in L1 is expected to be dependent to a greater extent upon declarative memory in L2 (Ullman 2001: 109).

      Dieser stärkere Rückgriff auf das deklarative System im L2-Erwerb hat laut Ullman zwei Auswirkungen: (1) Durch den fehlenden Zugriff auf das prozedurale System werden die sprachlichen Formen memoriert und wie andere Lexeme im mentalen Lexikon gespeichert. Nur durch die Fähigkeit des deklarativen Gedächtnisses, Muster von auswendiggelernten Formen auf neue zu übertragen, entsteht Produktivität in der L2. (2) Einige grammatikalische Regeln können zwar mithilfe des deklarativen Gedächtnisses gelernt werden, unterscheiden sich aber möglicherweise wesentlich von den L1-Regeln. Sowohl Ullman (2001: 110) als auch Paradis (2009: XI) nehmen jedoch an, dass mit höherem Sprachniveau in der L2 der Zugriff auf das prozedurale System erhöht werden kann.

      Zusammenfassend lässt sich sagen, dass laut den beiden deklarativ-prozeduralen Modellen jede Art von idiosynkratischem Wissen sowohl im L1- als auch im L2-Erwerb mithilfe des deklarativen Systems gelernt wird. Regelbasierte Aspekte und probabilistisches Lernen beruhen hingegen vermehrt auf dem prozeduralen System, das allerdings einer sensitiven Periode zu unterliegen scheint, was dazu führt, dass L2-Lerner ab dem frühen Erwachsenenalter vermehrt auf das deklarative System zurückgreifen. Dies kann den Mangel des prozeduralen Systems zwar bis zu einem gewissen Grad kompensieren, aber nicht vollständig ausgleichen.

      3.4 Unterschiede zwischen dem L2- und dem L3-Erwerb

      In den letzten Kapiteln wurde bis auf wenige Ausnahmen immer vom L1- und vom L2-, aber nur selten vom L3-Erwerb gesprochen. Lange Zeit sah man keine Notwendigkeit, zwischen dem Erwerb einer L2 und jenem einer L3 zu unterscheiden. Sharwood Smith (1994: 7; Hervorhebung im Original) beispielsweise definiert eine Zweitsprache folgendermaßen:

      ‘Second’ language will normally stand as a cover term for any language other than the first language learned by a given learner or group of learners […] irrespective of the number of other non-native languages possessed by the learner.

      Der Terminus Zweitsprache1 (L2) wurde (und wird) als Begriff verwendet, der alle Sprachen miteinschließt, die sich ein Individuum nach dem Erwerb einer L1 aneignet (vgl. Hammarberg 2010: 92–93). Die fehlende terminologische Differenzierung lässt darauf schließen, dass die zugrunde liegenden Prozesse beim Erwerb einer L2 und jenem einer L3 als nicht unbedingt unterschiedlich angesehen wurden (bzw. werden) (vgl. Jessner 2006: 14). Diese Ansicht wird von der sich in den 1990er-Jahren herausbildenden Drittspracherwerbsforschung kritisch hinterfragt. Anlass dafür sind mehrere Studien, die zeigen, dass sich bi- und multilinguale Personen von monolingualen unterscheiden (für einen neueren Überblick vgl. Cenoz 2013: 74–77; De Angelis 2007: 115–120; Hirosh/Degani 2018; Jessner 2014: 180–181; Jessner/Megens/Graus 2016: 193–194; Peukert 2015: 1; Ruiz de Zarobe/Ruiz de Zarobe 2015: 398). Ein wesentlicher Unterschied ist beispielsweise, dass multilinguale Lerner auf mehrere Transferbasen zurückgreifen können. Außerdem haben sie „eine nachweislich höhere Bewusstheit in Bezug auf die Sprache(n) selbst als auch auf die eigene Mehrsprachigkeit und auf das eigene Lernen inklusive der eigenen Lernstrategien“ (Hufeisen 2003: 97). Hufeisen (2000: 209–214, 2010) versucht, diese Unterschiede im sogenannten Faktorenmodell2 herauszuarbeiten. Mit jeder neu gelernten Sprache werden weitere Faktoren, die den Erwerb beeinflussen, in das Modell integriert. Die wesentlichen Aspekte werden im Folgenden kurz angesprochen.

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