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dass Mary in dem Moment, in dem der Raum betreten wurde, begonnen hat, einen Brief zu schreiben. Bohnemeyer und Swift betonen, dass diese Deutungen nicht die einzig gültigen sind, sondern dass sie lediglich die Standardinterpretation der entsprechenden Sätze darstellen. Demnach handelt es sich um eine pragmatische Implikatur, woraus sich ergibt, dass durch einen anderen Kontext eine andere Interpretation erzeugt werden kann:

(31) Als ich Marys Büro betrat, schrieb sie einen Brief. Überrascht blickte sie auf, legte den Stift zur Seite, und lächelte mich an.
(Beispielsatz aus ebd.: 269)

      Da in allen angeführten Beispielen prinzipiell beide Lesarten möglich sind, greift das Deutsche meist zusätzlich auf lexikalische Mittel zurück (z. B. Verbalperiphrasen), um die entsprechende Interpretation deutlich zu machen. Durch inchoative Verben wie beginnen kann beispielsweise die perfektive Lesart hervorgehoben werden:

(32) Als ich Marys Büro betrat, begann sie, einen Brief zu schreiben.

      Eine weitere Möglichkeit ist die Verwendung von Präfixen. In Beispielsatz 33 wird beispielsweise durch das Präfix {aus-} die Perfektivität der Handlung betont:

(33) Johann hat das Glas Wasser ausgetrunken.

      Progressivität hingegen wird unter anderem durch die Verwendung von Adverbien wie gerade akzentuiert (vgl. Ebert 2000: 631; Heinold 2015: 63–64):

(34) Als ich Marys Büro betrat, schrieb sie gerade an einem Brief.

      Das Adverbium gerade kann mit allen Tempora und Aspekten (auch mit Progressiv-Konstruktionen) kombiniert werden und ist als rein lexikalische Ausdrucksweise von Progressivität zu verstehen (vgl. Ebert 2000: 631). Darüber hinaus ist es möglich, gerade als lexikalische Modifizierung zur Disambiguierung zweideutiger Sätze einzusetzten. In Beispielsatz 36 wird das Adverb verwendet, um die Ambiguität des Satzes zwischen einer habituellen und einer progressiven Lesart aufzuheben (vgl. Heinold 2015: 64):

(35) Ich rauche. (habituell oder progressiv)
(36) Ich rauche gerade. (progressiv)

      Eine weitere Möglichkeit, den dynamischen Charakter einer Handlung zu betonen, ist die Verwendung von dabei + sein (finit) + zu (vgl. Ebert 2000: 607). Diese Periphrase ist, anders als beispielsweise die am-Periphrase, auch in der Standardsprache verwendbar (vgl. Ballweg 2004: 78):

(37) Als ich Marys Büro betrat, war sie dabei, an einem Brief zu schreiben.

      Die am-Periphrase (auch ,rheinische Verlaufsform‘) wird mithilfe von sein (finit) + am + substantivierter Infinitiv gebildet (vgl. Ebert 2000: 607). Sie wird in der Literatur auch als deutsches Progressiv bezeichnet und „kennzeichnet […] den entsprechenden Prozeß als im Verlauf befindlich, es liegt also eine Binnenperspektive vor, Grenzen werden nicht sichtbar“ (Zifonun et al. 1997: 1877). Die Frage, ob diese Form bereits vollständig grammatikalisiert ist, wird in der Literatur intensiv diskutiert (vgl. Heinold 2015: 60–66). Das obere Ende des Spektrums nimmt Thiel (2008: 13) ein, die das deutsche Progressiv „in verschiedenen sprachlichen Registern und geografischen Regionen“ nachgewiesen und eine Liste sprachnormierender Instanzen erstellt hat, welche die am-Periphrase anerkennen. Auch Van Pottelberge (2005: 171) argumentiert, dass die rheinische Verlaufsform „unbestreitbar zu den systematisch bildbaren Einheiten der Grammatik [gehört] und […] in diesem Sinne eine grammatikalisierte Verbform [ist]“. In seiner Darstelltung erkennt er aber an, dass der Funktionsbereich der Periphrase insofern relativ eingeschränkt ist, als ihr Gebrauch nicht obligatorisch und in der deutschen Standardsprache nicht sehr häufig ist. Eine ähnliche Argumentation findet sich bei Ballweg (2004: 78), der erwartet, „dass bei fortschreitendem Grammatikalisierungsprozess das Deutsche der Zukunft über ein [vollständig grammatikalisiertes] Progressiv verfügen wird“. Auch wenn Behrens, Flecken und Carroll (2013) dem am-Progressiv eine systematische Bildung nicht absprechen, können sie anhand ihrer empirischen Studie zeigen, dass L1-Sprecher des Deutschen die Periphrase kaum aktiv produzieren. Daraus schließen sie, dass die Progressivperiphrase keine grammatikalische Option im Standarddeutschen ist (vgl. Behrens et al. 2013: 126; vgl. auch Mair 2012: 804 für eine ähnliche Sichtweise). Ebert (2000: 606) und Ballweg (2004: 78) stellen außerdem fest, dass die rheinische Verlaufsform hauptsächlich in informalen Kontexten und in der gesprochenen Sprache verwendet wird. Schließlich sei an dieser Stelle erwähnt, dass es noch weitere Periphrasen gibt, wie beispielsweise beim + substantivierter Infinitiv + sein oder im + substantivierter Infinitiv + sein, die allerdings eine wesentlich eingeschränktere Verwendung aufweisen (vgl. Ebert 2000: 630–631).

      Auch Habitualität wird im Deutschen nicht mithilfe grammatischer Mittel markiert. Typisch ist die Verwendung von Adverbien wie immer oder für gewöhnlich (vgl. Heinold 2015: 66) oder des infinitivregierenden Verbs pflegen (vgl. Barz et al. 2009: 410; Dahl 1985: 96). Aufgrund des geringen Stellenwerts wird der Ausdruck von Habitualität in deutschen Grammatiken normalerweise nicht oder nur bedingt besprochen.

      Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Deutsche über keine grammatikalischen Mittel verfügt, um aspektuelle Unterschiede auszudrücken. Um zwischen Perfektivität und Imperfektivität zu unterscheiden, greift es auf pragmatische oder lexikalische Ausdrucksmittel wie Adverbien oder nicht vollständig grammatikalisierte Periphrasen zurück. Im nächsten Kapitel wird auf das Englische eingegangen und es wird dargelegt, wie Aspektualität in dieser Sprache ausgedrückt wird.

      2.3.2 Das Englische

      Im Unterschied zum Deutschen besitzt das Englische eine vollständig grammatikalisierte und obligatorische aspektuelle Opposition zwischen progressiv und nicht progressiv. Sie findet sich auf allen Zeitstufen und kommt durch die Unterscheidung zwischen der periphrastischen Konstruktion be + V-ing und den entsprechenden nicht progressiven Formen zum Ausdruck (vgl. Bertinetto et al. 2000; Comrie 1976: 32–40; Dahl 1985: 90–95; Declerck 2006: 32–34; Hewson 2012: 514; Mair 2012). Im Folgenden wird die temporale Domäne der Vorzeitigkeit fokussiert und es wird mithilfe des Kleinschen Systems der Unterschied zwischen past progressive und simple past herausgearbeitet. Im Anschluss daran wird unter Zuhilfenahme des conjunction tests gezeigt, dass es sich beim englischen simple past um keine genuin perfektive Verbform handelt und schließlich wird darauf eingegangen, welche Ausdrucksmittel das Englische verwendet, um habituelle Semantik auszudrücken.

      Mithilfe des Kleinschen Systems und der in Kapitel 2.2 etablierten questio kann die progressive Semantik dargestellt werden. Als Antwort auf die Frage, was der Zeuge beim Betreten des Raumes gesehen hat, könnte dieser das Folgende antworten:

(38) My friend was talking to a man. (progressive-Form)
– – – – [–] – – – –

      Die progressive-Form in Beispielsatz 38 fokussiert dasjenige Zeitintervall, zu dem der Raum betreten wurde (= Topikzeit). Das Sprechen des Freundes (= Situationszeit) ist nicht auf das kurze Zeitintervall der Topikzeit beschränkt. TT ist somit in TSit enthalten, woraus sich die progressive Lesart ergibt. Stellt der Richter die questio allerdings etwas anders und fragt, was der Zeuge während seines Aufenthaltes in dem Raum getan hat, ist die folgende Antwort möglich:

(39)

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