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Hol über, Cherub. Hans Leip
Читать онлайн.Название Hol über, Cherub
Год выпуска 0
isbn 9788711467459
Автор произведения Hans Leip
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Und daß er nun jemandem nachzutrauern habe, er, der noch niemandem nachgetrauert hatte, selbst seinen Eltern kaum, das erfüllte ihn mit seltsamer Begierde, so als lohne es sich schon dieser stillen zehrenden Trauer um Bili, das Leben liebzubehalten. Und der alte forsche Kavalier meldete sich noch einmal zu Wort in ihm, daß es doch schade sei, sie so entgangen zu sehen, jetzt, wo sozusagen er mit einem Heimatschuß davongekommen war und der andere und jeder andere tot. Er erhob sich fiebernd.
Aus einer Gruppe von Sanitätern, die betreuend umhergingen, sonderte sich einer und kam auf ihn zu: Mensch, Pambel, auch du? Es war einer seiner Bekannten von der Handelskammer, der freiwillig Dienst tat. Komm mit, sagte er herzlich, die Villa ist groß, kannst zwo Zimmer haben, besser du als irgendwer Wildfremdes, zusammenrücken müssen wir alle, und auch mein Kontor steht dir zur Verfügung, wir beackern den Balkan gemeinsam. Ich habe auch noch einen alten Anzug ...
Herr Pambel umarmte den Wackeren, so gut es ging. Ja, schluckte er, das ist echte Kameradschaft! Und er blickte über die Schulter des Freundes hin auf die Heimatlosen, die sich, von der Furcht der kommenden Nacht beschlichen, zu den Lastwagen drängten.
Ach, die Armen, dachte er, und auf einmal war es ihm, als gehöre er zu ihnen und dürfe sich nicht entziehen, da es nun von dannen ging in das Unbekannte, dürfe nicht leichtfertig sich zurückbegeben in ein bequemes Bett und die alten Gewohnheiten, in das alte Leben, in die alte Betriebsamkeit, als sei nichts vorgefallen als ein bißchen Verlust und Verdruß.
Wortlos löste er sich von dem Halt, den er eben gefunden, und er ging davon, schweigend in den breiten trüben Strom der Entwurzelten, und der Handelsfreund sah ihm kopfschüttelnd nach, wie er mühselig dahinhumpelte, wie er einem alten Manne sogar noch das Bündel tragen half trotz der behinderten Hände und in immer größerem Gedränge den Lastwagen zu entschwand.
Ein sonderbares, nie geahntes Glücksgefühl kam nun über Herrn Pambel, vergleichbar höchstens dem, das er empfunden, als er zum ersten Male die Weite des Meeres vom Segelboot aus vor sich gesehen; nun aber war es unendlicher, unsagbarer, unbegrenzter. Ihr, meine Brüder alle, hätte er sagen mögen, in Not und Elend und in der Heimatlosigkeit, meine Brüder und Schwestern alle! Ich will wie ihr dorthin und dorthin verschlagen sein und nicht klagen und will fröhlich sein, daß ich lebe wie ihr.
Als sei er der betört singende Vogel, der dem Käfig entflohen war, so war ihm zumute. Und er half bei den Lastwagen denen, die schwächer waren als er und es eiliger hatten und – er sagte es sich voll Mitleid – ängstlicher waren. Ihm war, als könne nie wieder je eine Furcht ihn befallen, und er überlegte, es wäre geratener, in der Stadt zu bleiben, wo zu erwartende neue Angriffe Mut und Hilfe erfordern würden.
Mitten im Gewühle aber, hin- und hergestoßen, begann er wieder nachzudenken, und er kam zu sich selbst zurück und setzte die Unterhaltung mit Bili fort, zweifelnd nun und begierig, ob er sie wohl recht begriffen habe. Wie denn verträgt sich dein Erlauschen der Geschichte aus der innersten Stille, wie du es genannt hast und wie es ähnlich in den Versen heißt, Bili, wie verträgt es sich mit deinem gefallenen Mann und deinen gefallenen Söhnen oder vielmehr – verzeih, wenn ich tollpatschig rede, es sind neue Bezirke für mich – wie vertrug es sich vorher?
Er blickte sich um, als habe ihn jemand gehört und wolle ihn verhaften. Schon wieder feige? lächelte er, und er reckte sich und sagte laut: Friede mit Euch! Aber niemand achtete darauf.
Und als er nun die Kette der Lastwagen, die als letzte die Stadt verlassen sollten, hinunterspähte, ob nicht irgendwo bei dem armen Gepäck mit anzufassen sei, seinen Kräften gemäß, da sah er über den lärmend sich hoch stauenden Ansturm, fern von sich, doch überdeutlich, am Ende der Wiese – und das Herz stockte ihm – jemanden im Strudel der anderen über das Gitter des letzten Wagens klimmen und, von hilfreichen Händen unterstützt, ein Kind hinterherziehen und noch eins und noch eins. Er stolperte darauf zu, hinkte, rannte über die zertretene Wiese, drängte, wühlte, stieß sich durch die quirlende Menge, erreichte den Wagen, eben, eben noch, krallte sich an, wie in das Gitter des Kanarienkäfigs, schrie auf vor Schmerzen und entschuldigte sich, wurde mitgeschleift, wurde von mitleidigen Fäusten ins Überfüllte hinaufgezogen.
Es wurde gänzlich Nacht, bis sie miteinander sprechen konnten, als nämlich einige fremdländische Arbeiter, die in einem Wäldchen nahe der Stadt dem nächsten Nachtangriff zu entgehen gedachten, ausgestiegen waren. Bili saß in einer Ecke, noch in ihrem Abendkleid und dem leichten Mantel, und die Kleinen schliefen, eng an sie gepreßt. Herr Pambel wußte gleich, was sie meinte, als sie sagte: Die beiden hatten sich den Abend versöhnt, aber eine Unruhe trieb sie zu den Kindern, und als dann der Alarm kam und sie die Kleinen im Keller gut behütet fand, hielt es sie nicht, sie mußte zu ihm zurück und ist direkt in die Mine hineingelaufen, die unser Haus auseinanderriß ...
Und er ... wollte Herr Pambel sagen, aber da sagte sie es schon, und sie drückte den Kopf krampfhaft gegen die Wagenwand. Der Wagen schütterte gleichmäßig dahin und übertönte gnädig, wie sehr das Schluchzen sie schüttelte. Es war, als weine sie das zu Ende, was sie den Abend vorher begonnen.
Und dies sind seine Kinder, sagte Herr Pambel, so zart er vermochte, ahnend, daß nunmehr eine andere Tapferkeit ihm leuchte als die, welche in Berichten rühmend erwähnt wird, oder gar die, allein zu sein oder still in der Allgemeinheit zu verschwinden, und er neigte die zersprungenen Lippen beschämt vor Glück, daß ihm eine solche Ehre zugebilligt sei.
Duft von reifenden Saaten wehte aus dem Dunkel. Hier war des Mordens kein Raum, und droben am unzerstörbaren Himmel, einbezogen in die Angst und Freude der Geschöpfe, pulsten die Sterne.
Die Törin
Nicht weit vom See am Strome lag die kleine Stadt. Die Würgedrachen waren darüber hergefahren. Wer von den Bewohnern deshalb sein Leben hatte einbüßen müssen, er brauchte nicht mehr zu klagen. Denn die Zeit, die folgte, war elender als der Tod.
Nur die kleine Törin blieb guter Dinge. Zwar besaß sie einen Buckel, nicht groß, aber immerhin. Sozusagen zum Ausgleich hatte sie hübsche Beine und überdies ein einfältiges Herz, keineswegs etwa frei von Neigung zu bedeutenden Dingen, doch des Zweifels enthoben über das, was sie tat, und das, was darzustellen ihr gegeben war. Sie pflegte nach Feierabend durch die Trümmerschluchten zu gehen, die vormals Straßen und Gassen gewesen waren, und dann sang sie. Ja, sie hatte eine freundliche Stimme. Und sie nickte zu den ausgebrannten Mauern empor, als singe sie für die, welche hier gelebt und ausgelitten hatten.
Der Fischknecht aber war unterwegs.
Zwischen den Ruinen in den Rattenkellern, da wohnte noch mancher. Da wuchsen, wenn sie singend vorbeikam, die Köpfe wie giftige Pilze aus dem Mulm, und Aasgeruch ging davon aus. Die Reinlichkeit war selten geworden; ach, was soll man darüber reden, man weiß, wie das ist, wenn der Mangel überhand nimmt, wenn man unter dem baren Nichts zu ersticken droht und den Regen beneidet, der weiter keine Bedürfnisse hat, als feucht zu sein, sich hinzuhauen und zu verdunsten, und der – so nebenbei – die Weidenröschen hervortätschelt, den Schutt zu überblühen, unaufgefordert wie der Gesang der Buckligen. Denn das Schöne ruht nie.
Und mancher grinste ihr zu, einladend, sein bißchen Nichts mit ihm zu teilen und das ihre mit seinem. Von den Kellerlöchern war es eine günstige Perspektive, an ihr hinauf zu blinzeln. Das war denen, die an Bartgestoppel und kahlen Schädeln als männlich zu ersehen waren, mit blassem Vergnügen klar. Außerdem war der Vater dieser Sängerin der Verwalter der Fabrik, wo sie alle in Lohn standen. Die weiblichen Wesen jedoch in den mürben Höhlen, von aussichtsloser Hausarbeit und jenseits aller Schönheitspflege trübe aufmerkend, hielten nicht zurück, an die Tatsache zu gemahnen, daß diese Nachtigall eine höchst alberne, verbogene, bucklige und durchgedrehte Schraube sei. Denn welchen Wert man auch dem männlichen Geschlechte beizumessen sich entscheidet, derzeit und des Orts hatte es den Wert der Seltenheit und war von Begehr, Neid und Verzweiflung umwittert.
Der Fischer aber gab der