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Nanna - Eine kluge Jungfrau. Lis Vibeke Kristensen
Читать онлайн.Название Nanna - Eine kluge Jungfrau
Год выпуска 0
isbn 9788711455975
Автор произведения Lis Vibeke Kristensen
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Eine Kröte mußte ihr Leben lassen, bevor der Brief abgeschickt werden konnte. Eine Kröte – oder war es ein Frosch – bekam durch Nannas Urin angeschwollene Eierstöcke, eine Laborassistentin las in ihren Eingeweiden wie ein Augur, und Nanna schrieb mit klopfendem Herzen ihren Jubelbrief und schmuggelte ihn in die Tasche des Landbriefträgers, ohne daß die Stiefmutter es sah.
In ein paar Tagen wird Yann in der Sonne vor dem Gebäude der Truppenbetreuung in der Kaserne in Marseille stehen und den Umschlag mit ungeduldigen Fingern aufreißen.
»Nun ja, du bist hier jedenfalls jederzeit willkommen«, sagt die Stiefmutter, und das klingt, als erwarte sie eine Antwort.
»Mmm.« Nanna zögert. Man kann nie wissen, was aus ihren Worten in der Version der Stiefmutter wird. »Paris ist ja auch eine Möglichkeit«, sagt sie vorsichtig. »Wenn ich nicht arbeiten muß, könnte ich mich auf mein Studium konzentrieren. Ich könnte mir ein Zimmer nehmen, das muß gar nicht so teuer sein.«
Die Zeit ausdehnen. Konfrontationen vermeiden. Darum herumkommen, etwas zu erzählen, bevor Yann und sie alles geregelt haben.
»Dein Vater kann dir ja nie etwas abschlagen.« Plötzlich klingt die Stiefmutter verbittert. »Das Internat hat ein ganzes Jahr lang unseren Etat bis aufs äußerste strapaziert.«
»Aber ihr habt das Haus hier kaufen können.«
Die Kleinlichkeit der Stiefmutter hat sie schon immer peinlich berührt. Sogar in den Jahren, als die Anwaltspraxis des Vaters blühte und das Geld reichlich hereinfloß, konnte sie am Eßtisch sitzen und sich lang und breit darüber auslassen, wieviel der Wurstaufschnitt gekostet hatte.
Die Stiefmutter schnaubt leise.
»Ja, leider Gottes«, sagt sie, und Nanna sieht aus den Augenwinkeln, daß ihr rundes Gesicht, in dem die aufgerissenen braunen Augen unter den hellen Ponylocken eine große Ähnlichkeit mit einem verwöhnten Pudel heraufbeschwören, sich zu einer feindlichen Miene verzieht.
Ein Holzscheit ist durchgebrannt und fällt mit einem zischenden Laut auf den Kaminboden zusammen.
Nanna steht auf und stellt die Tassen zusammen.
»Ich werde selbst mit Vater darüber reden«, sagt sie.
Die altmodischen Kopfsteine auf dem Hofplatz zwischen dem Haus und dem kleinen Stallgebäude zeigen immer noch feuchte Flecken, auch wenn der Regen inzwischen aufgehört hat. Die großen Kastanien hängen voll mit den stacheligen Früchten, die noch fest an den Zweigen sitzen, und die fingrigen Blätter haben noch ihre dunkelgrüne Sommerfarbe.
Nanna steht am Dachbodenfenster und schaut zu ihrem Vater hinunter, der sich nach seiner Mittagsruhe wieder angezogen hat. Jetzt steht er mitten auf dem Hofplatz und ruft dem ungestümen Hund zu, dem er mit großer Mühe und der Hilfe der Stiefmutter Halsband und Leine anlegen konnte.
Nanna ist vor dem scharfen Ton, der zwischen den Eheleuten herrscht, in das Zimmer geflüchtet, das als das ihre bezeichnet wird, das ihr jedoch ein starkes Gefühl der Peinlichkeit gibt mit all seinen Erinnerungen an die Teenagerjahre in ihrem alten Zimmer. Stapel von rosa Kissen auf ihrem Jungmädchenbett, der kleine weiße Schminktisch, die Christel-Zeichnungen auf den geblümten Tapetenwänden – das alles gehört zu einer anderen, sehr viel kindlicheren Person.
Unten auf den runden Steinen macht der Hund übermütige Sprünge um die in Gummistiefeln steckenden Beine ihres Vaters, wirft ihn vor lauter kläffendem Eifer fast um. Sein glänzendes Fell funkelt in der Nachmittagssonne kastanienbraun.
»Sitz!«
Vater zieht kurz an der Hundeleine. Das Tier läßt sich für einen Moment stoppen, wirft sich dann jedoch in einem Bogen nach hinten, landet vor den Füßen des Vaters auf dem Boden und wedelt frohgelaunt, wobei ihm die Zunge aus der Schnauze hängt.
»Sitz! Sitz!«
Der Hund stupst ihn mit der Schnauze, wirft sich gegen sein Bein, zieht und zerrt an der Leine. Vater müht sich ab, das Hinterteil des Hundes auf den Boden zu bekommen, aber der große Welpe leistet energischen Widerstand, windet sich unter seinen Händen, daß der Mann fast hinfällt.
Nannas Vater ist es gewohnt, Macht über die Dinge zu haben, sein herrisches Wesen hat den Rahmen ihres Daseins abgesteckt, solange sie denken kann. Jetzt wird sie verlegen, weil sie mit ansehen muß, wie er einem Tier gegenüber machtlos ist. Einem lebhaften Welpen, der nur dazu da zu sein scheint, um Vaters Gebrechlichkeit zu zeigen. Sie tritt einen Schritt vom Fenster zurück, hat Angst, Vater könnte entdecken, daß er beobachtet wird.
Da sieht sie plötzlich die Peitsche in Vaters Hand. Sie hat die Hundepeitsche am Haken in der Halle hängen sehen und sich an die vielen Male erinnert, bei denen sie sich als Kind die Finger in die Ohren steckte, wenn Vater seine Jagdhunde bestrafte. Nie hat sie die Notwendigkeit der Peitschenschläge in Frage gestellt, ebensowenig wie alles andere, was ihr bewunderter Vater tat. So dressiert man halt Hunde, hatte er erklärt, und damals hatte sie genickt und geschwiegen und ihre Ohren vor dem Schmerzgejaul der Hunde verschlossen. Jetzt spürt sie eine unbekannte Wut in sich aufsteigen. Sie will ihrem Vater zurufen, daß der Hund doch nur jung und fröhlich ist und keine Strafe verdient, doch sie bleibt stumm hinter der Scheibe stehen.
Vater hebt den Arm ein ums andere Mal, läßt die Peitsche herabsausen. Seine gebeugte Gestalt in der dicken Tweedjacke verliert vor ihren Augen die Proportionen, wird zu einem drohenden Schatten vor der gekalkten Wand des Stalls. Nanna hört das erschrockene Aufheulen des Hundes, der jetzt auf dem Boden entlangkriecht, verängstigt und gedemütigt, und sie wünschte, er würde sich losreißen und Vater beißen, der weiter zuschlägt, daß die Peitsche durch die Luft zischt.
»Poul!«
Die Stimme der Stiefmutter. Nanna sieht die dicke Gestalt über das Kopfsteinpflaster auf viel zu hohen Absätzen trippeln und Vaters Arm, der herabsinkt, ein mechanisches Spielzeug, dessen Feder langsam ausschwingt.
»Misch dich da nicht ein.«
Nanna kann hören, daß er kaum die Worte herausbekommt, er keucht vor Erschöpfung und Erregung. Der Hund ist auf die Beine gekommen, zieht an der Leine, daß er fast das Gleichgewicht verliert.
»Du kannst das doch nicht ertragen.«
Die Stiefmutter hat ihren Kopf schräg geneigt, streckt die Arme in einer flehenden Geste aus. Die Taktik aller Frauen, wenn es um Vater geht. Bitten und demütig hoffen, daß er sich herablassen wird, ihnen das zu geben, was sie wünschen.
Die Taktik aller Frauen, einschließlich ihrer selbst.
Nanna schließt die Augen, um diese peinliche Szene nicht mit ansehen zu müssen, um nicht daran denken zu müssen, daß sie in ein paar Stunden, ein paar Tagen, gezwungen sein wird, selbst den Vater anzuflehen, ihr die Erlaubnis zu geben, das zu tun, was sie tun muß. Als sie die Augen wieder öffnet, ist ihr Vater auf dem Weg ins Haus, wobei er sich schwer auf die Schulter der Stiefmutter stützt. Nanna kann hören, daß die Stiefmutter leise mit ihm spricht, aber die Worte zerreißt der Wind. Die Peitsche hängt schlaff in seiner Hand.
Auf dem Weg die breite Steintreppe hinauf bleibt er plötzlich stehen, guckt zu Nannas Fenster hinauf. Eine Sekunde lang treffen sich ihre Blicke.
Das werde ich büßen müssen. Der Gedanke kommt ihr, ohne daß sie es will, und sie schiebt ihn schnell wieder beiseite, peinlich berührt über die eigenen Gedanken. Sie hebt die Hand zu einem Gruß, aber der Vater dreht seinen Kopf weg, steigt mit schweren Schritten die Treppe hinauf, geht ins Haus. Der Hund folgt ihm auf dem Fuße, er hat die Schläge bereits vergessen und wedelt fröhlich mit dem Schwanz, bereit für ein neues Spiel.
»Ein kleines Glas Sherry?«
Vater füllt Nannas Glas mit der hellgelben Flüssigkeit aus der geschliffenen Karaffe, die er aus dem Barschrank geholt hat. Sich selbst schenkt er einen Fingerbreit Whisky ein.
»Aber sag ihr nichts.« Er winkt mit seinem Glas, zwinkert Nanna zu.