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gefangen in dem Schatten ihrer Eltern, einem undurchdringlichen Netz.

      »Soll ich gehen?« flüstert sie und hört, wie er nach Atem ringt.

      »Wenn es das ist, was du willst.«

      Seine Faust landet auf der Matratze, daß die Federn singen. Sie kommt auf die Beine, steht unentschlossen vor ihm.

      Die Schweißflecken auf dem weißen Hemd, das Haar, das an der Stirn klebt, trotz der Scham in seinen Augen ist es ihr Mann, den sie jetzt sieht, und es besteht zwischen ihnen kein Abstand mehr, nur die verzweifelte Lust der überstandenen Anspannungen.

      Die Honigsüße der Lindenbäume strömt durch das offene Fenster herein, vermischt sich mit dem Salz auf seiner Haut, der leichten Bitternis des Schweißes, und sie werden zu Zungen und Lippen, zu Zähnen und nackter Haut, eine Wildheit, die sie wie Beutetiere schüttelt, bis sie atemlos liegenbleiben.

      Yann hat sich halb aufgerichtet, wühlt in einer Hosentasche.

      »Warte.«

      Sie nimmt ihm das kleine Päckchen aus der Hand.

      »Nein«, sagt sie.

      September 1961

      »Dein Vater ist kleiner geworden«, sagt die Stiefmutter.

      Nanna hat ihr mit dem Abwasch nach dem Mittagessen geholfen, jetzt sitzen sie beide mit ihren Kaffeetassen vor dem Kamin im Wintergarten. Vater ruht sich in seinem Zimmer oben aus, müde von der Arbeit des Vormittags mit dem halbwüchsigen Jagdhund, der jetzt in seinem Korb an der Gartentür liegt und im Schlaf piepst.

      Nanna zupft mit ihren Nägeln an einem losen Faden in der Armlehne des Sofas. Sie hat es auch gesehen, möchte es aber am liebsten nicht wahrhaben. Vater ist nach unten gewachsen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hat, er ist grau und eingefallen geworden. Seine Wangen hängen, Cockerspanielohren über dem faltigen Hals, das ist jetzt deutlich zu sehen, wo er nicht mehr täglich einen Schlips trägt, sondern sich weiche Hemden mit Halstüchern und Tweedjacken angeschafft hat, der perfekte Country-Gentleman.

      Das runde Gesicht der Stiefmutter unter dem aschblonden Haar hat senkrechte Falten bekommen, sie ist fünfundvierzig, sitzt mit einem herzkranken Mann weit draußen auf dem Land. Das Haus ist groß und schwer instand zu halten, mit Kaminen und Öfen in allen Zimmern, Vater will lebendiges Feuer um sich haben, friert aber in den hohen Räumen, wickelt sich in Decken ein. Die große unpraktische Küche schreit geradezu nach einer Hilfe, aber Nanna ahnt, daß die Frau, die ein paarmal in der Woche kommt und »das Gröbste macht«, wie die Stiefmutter sagt, alles ist, was das Budget erlaubt. Vater will mit Stil leben, und sein Bekanntenkreis, der aus seinen alten Jagdkameraden aus dem niederen Landadel der Gegend besteht, fordert ein gewisses Niveau hinsichtlich der Gastfreundschaft.

      Nanna fühlt sich wie eine Fremde in der ländlichen Umgebung. Das Haus ihrer Kindheit existiert nicht mehr, es wurde zusammen mit der Anwaltspraxis nach Vaters drittem Herzinfarkt veräußert. Hier in diesem Haus hat sie nie gelebt. Das letzte Gymnasiumsjahr hat sie in einem Internat verbracht, in dem sie kaum ihre Klassenkameraden kennenlernen konnte, in der kurzen Zeit bis zu den Examensprüfungen.

      Jetzt sitzt sie hier in der finsteren Provinz, auf einem geblümten, etwas abgenutzten Kaminsofa, und schaut ihre Stiefmutter über den Rand der Kaffeetasse an.

      Die Stiefmutter atmet mühsam, als sie sich vors Feuer kniet und mit dem Schürhaken die Glut schürt, ihr fehlt die Geschicklichkeit, sie versprüht nur Funken, ohne daß das Feuer richtig fängt. Sie hat in den letzten Monaten einiges zugenommen, wie Nanna sehen kann, ihr Hinterteil wölbt sich kürbisartig unter dem engen Rock, das kann nicht in Vaters Sinne sein, er haßt dicke Frauen. Nannas lange, schlanke Figur hat sie von der Mutter geerbt, die sie nie kennengelernt hat und die Vater in allen möglichen Zusammenhängen hervorhebt, ohne daran zu denken, daß er damit seine Frau verletzt.

      »Ich kann es versuchen.«

      Nanna nimmt der Stiefmutter den Schürhaken aus der Hand. Sie schubst vorsichtig die glühenden Holzstücke beiseite, schiebt ein wenig Rinde dazwischen und läßt so das Feuer wieder aufflackern. Sie kniet mit ausgebreiteten Armen vor dem Kamin, die Fahrradfahrt im Septemberregen vor dem Essen, um auf dem nächsten Hof frische Eier zu holen, sitzt ihr immer noch in den Knochen, eine feuchte Kälte.

      Nanna spürt den Blick der Stiefmutter, als sie aufsteht. Auch wenn sie weiß, daß ihr bis jetzt unmöglich etwas anzusehen ist, fühlt sie sich ertappt. Nanna hat keinen Zweifel, daß die Stiefmutter ihr keine Hilfe sein wird bei dem, was ihr bevorsteht. Ihr Vater konnte schon immer seine beiden Frauen vorzüglich gegeneinander ausspielen.

      Sie kriecht in die Sofaecke und streckt sich nach ihrer Tasse, schüttelt sich ein wenig. Außerhalb des warmen Halbkreises vor dem Kamin ist die Luft kühl, ihre Nasenspitze ist kalt wie eine Hundeschnauze.

      »Dieser Yann, von dem du erzählt hast«, sagt die Stiefmutter und greift nach der Kaffeekanne. Nanna kann hören, wie sie sich anstrengt, ihre Stimme leicht klingen zu lassen. »... heißt er wirklich so?«

      »Jean heißt er auf französisch«, erklärt sie neutral. »Yann ist bretonisch. Das ist eine ganz andere Sprache«, fährt sie fort, erleichtert, über ein Thema reden zu können, von dem die Stiefmutter garantiert nichts weiß. Sich einen Moment überlegen fühlen dürfen, akademische Rauchschwaden über den forschenden Frauenblick der Stiefmutter legen zu dürfen. Man kann viel von Nannas mürrischer Stiefmutter behaupten, die eine Vergangenheit als Arzthelferin bei ihrem ersten Mann hinter sich hat, aber an Intuition fehlt es ihr nicht.

      »Wie groß ist das Hotel, das er besitzt?« Zunächst läßt die Stiefmutter ein Stück Würfelzucker in ihre blaugeblümte Kaffeetasse fallen, dann, nach einigen Sekunden des Zögerns, noch eins.

      »Ziemlich groß«, antwortet Nanna ungenau. Ihr kommt der Gedanke, daß die Stiefmutter vielleicht die Aufgabe übertragen bekommen hat, herauszufinden, ob Yann eine akzeptable Partie ist. Sie versucht sich Vaters Blick auf dem massiven weißgekalkten Gebäude vorzustellen, auf der Bar mit den Spielautomaten, in der die Fischer am späten Nachmittag an dem glänzenden Tresen hängen, wenn das Hochwasser sie und ihre Boote sicher an Land gebracht hat.

      »Ziemlich groß«, wiederholt sie und leert ihre Kaffeetasse mit einem Schaudern. Der Geschmack von Kaffee beginnt bei ihr Übelkeit zu erregen, aber sie traut sich nicht, ihn stehenzulassen und dadurch das Mißtrauen der Stiefmutter zu erwecken. Wenn es nicht sowieso schon geweckt wurde.

      »Dein Vater denkt oft an dich.«

      Die Stiefmutter rührt umständlich in ihrer Tasse, den Blick dabei auf die Flammen im Kamin fixiert. Es scheint, als suche sie nach einem Weg, die Informationen aus Nanna herauszukitzeln, ohne daß diese es bemerkt. Nanna bekommt das unangenehme Gefühl, daß ihr Tun und Lassen ein viel häufigeres Gesprächsthema zwischen ihrem Vater und seiner Frau ist, als sie angenommen hat.

      »Ich denke auch oft an ihn«, sagt sie, um weiteren diesbezüglichen Äußerungen zuvorzukommen. »Ist das nicht etwas zuviel für ihn mit dem Hund? Der ist doch so wild.«

      »Aber das ist doch alles, was er hat.«

      »Nun ja, er hat doch immer noch dich.«

      »Auf mich ist er meistens nur wütend.« Die Stiefmutter seufzt. »Er ist so froh, daß du wieder zu Hause bist.«

      Etwas in ihrem Ton läßt Nanna aufhorchen. Sie drückt das Kissen in ihrem Rücken zurecht.

      »Mmmm«, sagt sie nur, um Zeit zu gewinnen.

      »Bei unserem Kaufmann haben sie erzählt, daß sie in der Schule hier eine Vertretung brauchen«, fährt die Stiefmutter fort. »Du fängst mit dem Studium doch sowieso nicht vor dem Januar an, oder? Und es wäre so schön für deinen Vater, wenn er mehr mit dir reden könnte.«

      Ein Gefühl der Panik steigt in Nanna auf. Sie sieht sich selbst, gefangen in ihrer Sofaecke, ein Tier in der Falle, gebunden an Händen und Füßen durch Rücksicht und Erziehung, brav und unproblematisch wie immer.

      Wenn nicht das geschehen wäre, was sie nicht mehr lange

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