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leerer graumelierter Ärmel, wo der linke Arm des Mannes hätte sein sollen, ist nach innen geklappt und mit einer Sicherheitsnadel befestigt; das schmale Gesicht ein Axtblatt auf dem gebeugten Schaft des Körpers.

      »Bitte schön. Ist es wohl möglich, etwas zu essen zu bekommen?«

      Die deutschen Worte des Mannes schneiden die Zeit in Stücke, lose Enden flattern im Raum.

      Die Kellnerin beugt sich herab, hebt eine heruntergefallene Serviette vom Boden auf, eilt am Buffet entlang davon, ohne auch nur zur Seite zu schauen, durch die Schwingtüren hinaus in die Küche.

      Yanns Mutter hat sich ihrem Sohn zugewandt, der in einer Bewegung erstarrt ist, die Reste der Brotscheibe noch in der Hand. Die bleiche Haut auf ihrem Hals ist rot gefleckt, auf ihre Oberlippe sind Schweißperlen getreten, feuerrote Streifen leuchten auf ihren straffen Wangen.

      »Sag ihm, daß sie gehen sollen.«

      Ihre Stimme ist nur ein Flüstern.

      Yanns viereckiger Körper ist zusammengesunken. Seine große Hand krampft sich um das Brot, er öffnet den Mund, aber kein Laut kommt hervor.

      Bevor Nanna nachdenken kann, ist sie einen Schritt zur Tür gegangen. Sie schiebt ihren schmalen Körper beschützend zwischen das Axtgesicht und Yann und seine Mutter.

      »Es ist alles besetzt«, sagt sie in ihrem besten Schuldeutsch.

      »Besetzt. Reserviert.«

      Ehrliche Enttäuschung läßt das scharfe Gesicht weicher erscheinen.

      »Schade«, sagt er, »ich wollte meiner Frau zeigen, wie eine perfekte französische Mahlzeit schmeckt, ich habe hier vor vielen Jahren schon einmal ein köstliches Mittagessen gegessen.« Er verbeugt sich ritterlich vor Nanna. In der Tür dreht er sich um, sein Blick ist suchend, dann zeigt er auf einen der Tische, die dicht am Buffet stehen. Danach geht er, leicht hinkend, gefolgt von seiner blonden Frau.

      Nanna hört, wie die Tür hinter ihnen ins Schloß fällt.

      Das Geräusch von Glas, das zersplittert, läßt sie herumfahren. Auf dem Boden vor dem Buffet liegen grüne Scherben in einer Weinpfütze. Die Schwingtür zur Küche schlägt heftig hinter dem Rücken von Yanns Mutter hin und her, Nanna hört das Geräusch ihrer rufenden Stimme, eine andere Frauenstimme antwortet entfernt.

      Nannas Beine zittern, die Zunge klebt ihr am Gaumen.

      Yann steht wie versteinert immer noch in der gleichen Haltung, die Reste der Brotscheibe in der Hand, die Schultern hängend.

      »Entschuldige«, murmelt er.

      Er dreht leicht den Kopf, ein fast taubes Opfer einer Explosion.

      Die klappernden Schwingtüren öffnen sich für Lucienne, die mit Handfeger und Wischeimer kommt. Ohne Nanna und Yann anzusehen, geht sie in die Knie und wischt auf. Das Geräusch von Glasscherben, die gegen das Metall des Eimers klirren, zerreißt die Stille.

      Yanns Mutter kommt hinter Luciennes gebeugtem Rücken zum Vorschein, sie stellt mit abgemessenen Bewegungen eine neue Weinflasche auf das Buffet. Ihr Gesicht hat seine übliche Blässe wiedergewonnen.

      »Für euch ist da hinten gedeckt«, sagt sie, ihre Stimme ist kühl und neutral.

      Yann richtet sich mit einem Ruck auf.

      »Du könntest dich zumindest bedanken.«

      »Merci, Mademoiselle.«

      Eine hochgezogene Augenbraue, eine ironische Miene, dann schließen sich die Schwingtüren wieder hinter ihrem Rücken.

      Juni 1961

      Strib (!), den 15.6.1961

      Liebe Nanna!

      Vielen Dank für Deinen langen Brief. Mutter hat ihn mir nachgeschickt, ich habe ihn vor ein paar Tagen bekommen. Alle haben auf den Umschlag gestarrt, sie haben wohl gedacht, er wäre von einem heimlichen Liebhaber. Mein Ruf an dieser Schule ist so, daß all die Zimperliesen hier die ganze Zeit nur das Schlimmste denken. (Und es kommt vor, daß sie recht haben.)

      Du glaubst wohl, ich lüge! Aber das ist die nackte, leibhaftige Wahrheit. Ich bin an einer Hauswirtschaftsschule. Ächz, stöhn, einmal tief Luft holen, so, das ist überstanden, bitte schön, und jetzt nachspülen.

      Außerdem habe ich mich verlobt. Mit meinem exotischen Cousin Gustav, ich habe Dir von ihm erzählt, aber das hast Du bestimmt vergessen, er ist der, dessen Mutter (meine Tante) einen schwedischen Diplomaten heiratete. Die haben jahrelang an den merkwürdigsten Orten gewohnt, er hat sein Abitur in Schweden gemacht, aber jetzt studiert er Medizin in Kopenhagen, kommst Du noch mit? Nun ja, jedenfalls habe ich ihn am fünfundsiebzigsten Geburtstag meiner Oma getroffen, und da hat es, peng, geknallt. Er sieht aus wie ein blonder James Dean, und damit übertreibe ich nicht. Da hieß es einfach, schnell zu handeln!

      Mutter meinte, wir würden uns ein bißchen zu lange in meinem Zimmer aufhalten, und in seinem Kollegium darf man nach zehn Uhr abends keinen Damenbesuch mehr haben, deshalb wurde das Ganze etwas kompliziert. Und da habe ich meiner Mutter gesagt: Aber wir sind doch verlobt, und damit mußten sich alle (inklusive Gustav!) abfinden. Mutter ist ganz wild geworden, meine Tante und der Diplomat wurden in Spankuk oder wo sie nun gerade wohnen unterrichtet, und jetzt sitzt Mutters unermüdliches Fräulein Petersen vermutlich da und stickt Monogramme auf Bettbezüge, und ich habe einen schlichten Goldring, den ich abnehmen soll, wenn ich Fisch saubermache, und das muß ich dauernd.

      Verlob Dich nie. Dann riskierst Du, in eine Hauswirtschaftsschule geschickt zu werden. Wenn Du glaubst, Latein war langweilig, dann versuche das hier einmal.

      Dein Yann klingt, als wäre er der Richtige für Dich. Könnt ihr nicht einfach abhauen und heiraten? Auch wenn Mémé (bedeutet das Oma?) mit ihrem Melonengesicht reizend zu sein scheint, muß das mit diesem Aufbau auf dem Kopf ja zum Schreien aussehen – was macht sie denn, wenn es regnet? Es ist komisch, sich vorzustellen, daß jemand, den man kennt, jemanden kennt, der jeden Tag in Tracht herumläuft, ich verbinde Frankreich eigentlich immer mit der neuen Welle.

      Habt ihr – Du weißt schon? Mochtest Du das? Ich wurde richtiggehend süchtig, bevor ich des Landes verwiesen wurde. Hier teile ich mein Zimmer mit einer dicken Eisenwarenhändlerstochter aus Skive, da lasse ich lieber die Hände über der Decke. Gustav muß den Sommer mit seinen Eltern verbringen, sie haben ein Haus in den schwedischen Schären. Mutter hat mir für zwei Monate einen Job als Ferienkindermädchen in Oxford besorgt, dem Herrn sei’s geklagt. Sie denkt wohl, ich würde mir einen Haufen Kinder anschaffen, na, ich werde sie eines Besseren belehren. Hast Du ein Pessar, oder ist das in Frankreich verboten? Das ist zwar klebrig, aber beruhigend, das kann ich Dir sagen.

      Ich habe Vater überreden können, mir eine einjährige kaufmännische Ausbildung zu bezahlen, auch wenn er mit dem Kopf geschüttelt hat. Schließlich müssen wir ja überlegen, ob ich einmal seine Firma übernehmen will, habe ich ihm erklärt. Er sah aus, als hätte ihn der Blitz getroffen! Ich fange damit im Herbst an. Dann bist Du zurück, nehme ich an, oder? Das mit dem Militärdienst klang erschreckend. Muß er wirklich in den Krieg? Gibt es nicht die Hoffnung, daß der bald aufhört?

      Viel Glück mit ihm, wie dem auch sei. Hast Du nicht ein Bild, daß ich die Giraffe mal sehen kann? Beiliegend mein Gustav, Du mußt doch zugeben, daß er Stil hat! Jetzt hat es gegongt, das heißt, ich muß runter und lernen, wie man einen Wischlappen auswringt. Zum Glück hat das hier bald ein Ende.

      Love from

      Dreck-Mett’

      Nanna legt den Brief auf ihren kleinen Schreibtisch, lächelt bei dem Gedanken an ihre Freundin.

      Die Tür öffnet sich vorsichtig. Mariclô steht im Türspalt. Das dünne Haar, das Nanna jeden Morgen sorgfältig in einer Schleife sammelt, jeden Tag in einer anderen Farbe, steht wie verwelkte Grashalme ab, die schmalen Wangen sind feucht.

      »Was ist denn?« Nanna hockt sich hin, legt die Arme um den aufgeschossenen Körper. Das Kind drückt sich fest an sie, will unter ihre Haut kriechen

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