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Nanna - Eine kluge Jungfrau. Lis Vibeke Kristensen
Читать онлайн.Название Nanna - Eine kluge Jungfrau
Год выпуска 0
isbn 9788711455975
Автор произведения Lis Vibeke Kristensen
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Nanna erzählt ihr von den Briefen von daheim, von ihrem Vater und seinem neuen Haus, von dem Haus auf dem Land mit dem Pferdestall, in dem ihre Stiefmutter ein Pferd haben soll. Die Unruhe, die die Briefe der Stiefmutter sonst immer in Nanna hervorruft, verdampft, als sie den Inhalt in kindliche Formeln faßt.
Den Brief von Mette will sie für sich behalten. Aber jetzt bereitet ihr das Unglück des kleinen Mädchens ein schlechtes Gewissen.
»Hast du was geträumt?«
Das Kind nickt an ihrer Schulter, Nanna spürt die feuchte Wärme des kleinen Körpers an ihrem eigenen. Mariclôs Alpträume sind namenlos, und Nanna hat gelernt, nicht nachzufragen, sie wiegt sie nur in den Armen, bis die Tränen versiegen.
Das ferne Geräusch der Türklingel. Madames harte Absätze auf dem Flur bleiben vor ihrer Tür stehen.
»Kommen Sie.«
Nanna steht schnell auf, schuldbewußt, ohne zu wissen, warum. Mettes Brief landet auf dem Boden, das dünne Luftpostpapier flattert im Durchzug, und Madames Blick erfaßt sofort sowohl den Brief als auch Nanna selbst und das Kind, das seinen Kopf gegen Nannas Hals drückt.
»Es ist für Sie. Le Braz, glaube ich, hat er gesagt.« Der immer beleidigt aussehende Mund würgt den Namen hervor wie Reste eines ungenießbaren Happens.
Yann war noch nie zuvor an der Wohnungstür. Wenn er sowohl das Mißtrauen der Concierge als auch den Unwillen von Madame gegenüber unerwarteten Ereignissen auf sich genommen hat, muß etwas Entscheidendes passiert sein, etwas, das nicht warten kann, bis sie sich morgen wiedersehen. Nannas Gehirn explodiert in einer Serie von Schreckensvisionen, ihr Körper fühlt sich halb gelähmt an, wie nach einem Schlaganfall.
»Ich habe ihn in den kleinen Salon geführt.« Madame hebt die sich wehrende Mariclô vom Boden auf, streicht ihr Kleid mit schnellen Handbewegungen glatt. »Sie sollten mit ihm reden.«
Das piepsende Weinen des kleinen Mädchens folgt ihr auf den Flur. Irgendwo in der Wohnung klingelt ein Telefon, sie hört Madame den Flur entlangklappern, ihre wütende Stimme, die das Kind zum Stillsein ermahnt.
Yann steht mit dem Blick zur Tür auf dem dunkelroten Teppich, der wie eine Insel auf dem Parkettboden des Salons liegt, ein Schiffbrüchiger, zwischen den zerbrechlichen Möbeln des Zimmers an Land gespült.
»Was ist passiert?«
»Ma feuille de route. Mein Einberufungsbescheid.« Seine Hand legt sich um ihren Nacken, streichelt ihn mechanisch. »Ich fahre morgen ganz früh nach Hause.«
»Wann?« Sie klammert sich mit beiden Händen an seine Jacke, er ist bereits dabei, sich aus ihrer Reichweite zu entfernen, unbeschützt, ausgesetzt. »Wann kommst du zurück?«
»Ich will Mutter um Erlaubnis bitten, daß wir heiraten dürfen, bevor ich fort muß.«
Er hat sich aus ihrem Griff befreit, ergreift ihre Hände, er hat um meine Hand angehalten, denkt sie, aber sie fühlt keine Freude, statt dessen schickt die Panik Funken durch ihr Gehirn, sie starrt Yann an, hilflos, findet keine Worte.
Ihre Briefe an den Vater haben von Ausflügen mit Freundinnen erzählt, von Abenden im Café, aber sie hat nie Yanns Namen erwähnt, instinktiv hat sie ihn gegen Vaters kühle Beurteilung beschützt, dagegen, entblößt zu werden, gewogen und als zu leicht befunden zu werden.
Jetzt will, jetzt muß sie alles beichten.
»Willst du?«
Das leise Knarren der Tür hinter ihnen, Mariclôs Gesicht in der Türöffnung, die Tränen sind jetzt verschwunden, ihr klarer Blick ist auf Yann gerichtet, ohne ein Zeichen von Wiedererkennen zu zeigen.
»Maman will mit Nanna reden«, sagt sie.
»Ich muß jetzt gehen.«
Sie nimmt das Kind bei der Hand. Eine Welle hat sie erfaßt und zieht sie vom Land fort, sie greift nach einem Halt, will den Boden unter den Füßen nicht verlieren.
»Willst du nicht?«
Seine Augen sind unsicher unter der Sorgenfalte auf der Stirn.
»Doch, doch.«
Sie will um etwas Zeit bitten, aber es gibt keine Zeit. Sie nickt mit geschlossenen Augen, fühlt seine Wange, so heiß, seine Arme, die ihren Körper so fest halten, daß sie kaum noch Atem holen kann.
Mit der Hand des Kindes in ihrer bleibt sie stehen und sieht ihn die Treppen hinunter verschwinden, hört seine laufenden Schritte, die zwischen den marmorverkleideten Wänden des Treppenhauses widerhallen, den schweren Klang der Tür, die hinter seinem Rücken zufällt.
»Nanna.« Mariclô zupft leicht an ihrer Hand, zeigt mit einem kleinen Finger. »Yann«, sagt sie, und ihre Nase kräuselt sich vor Anstrengung.
Sie hebt das Kind hoch und schaut in dessen ernste Augen.
»Ja«, sagt sie, »das ist Yann.«
Das Kind hängt auf ihrer Hüfte wie ein Tier, hüpft bei jedem Schritt, den sie zurück in ihr Zimmer geht, auf und ab. Die Wärme des kleinen Körpers und dessen leichtes Gewicht dämpft ihre Unruhe, aber das Herz schlägt ihr immer noch vogelartig in der Brust.
Madames Stimme erreicht sie aus dem Eßzimmer.
»Ihr Vater hat angerufen.«
Jede Ader in ihrem Körper hat sich geöffnet, die Wärme schlägt ihr auf die Haut.
»Er wollte wissen, wann Sie planen, nach Hause zu fahren.« Die Augen in dem hübschen Gesicht leuchten mißtrauisch. »Das hat mich verwundert.«
Nanna sucht nach den Worten, die ihr eine Frist einräumen, Zeit um nachzudenken, sie klopft nervös den schmalen Rücken des Kindes.
»Ich wollte Ihnen schon sagen, daß ich gern mit in die Provence kommen kann.«
Das ist ein spontaner Einfall, aber Madame hat schon vorher mehrere Male laut vernehmlich geseufzt bei dem Gedanken an einen ganzen August ohne Kindermädchen.
»Ja, warum nicht?«
Ein Achselzucken unter der eleganten Seidenbluse, keine offensichtliche Begeisterung, aber es ist geglückt, sie ist in Sicherheit, jedenfalls für eine Weile.
»Ich werde meinem Vater schreiben«, sagt sie und läßt die Worte so leicht klingen, wie es nur geht.
Ihre Knie zittern immer noch, als sie die Zimmertür hinter sich schließt. Die Gedanken poltern wie fallende Kegel in ihrem Kopf herum.
Die Universität, die auf sie im September wartet, der Traum ihres Vaters, ihr eigener Wunsch, das wohlgeordnete Leben, die klar abgesteckten Bahnen. Eine Bühne, die bereitsteht und nur von ihr fordert, daß sie ihre Rolle einnimmt. Jetzt empfindet sie das Ganze als fiktiv, eine Fata Morgana. Sie weiß nicht, ob sie noch immer imstande sein würde, ihren Platz in dieser Schattenwelt einzunehmen, aber sie weiß, daß sie es nicht mehr will.
»Nanna.« Mariclô dreht Nanna ihr Mausgesicht zu, drückt ihre Knie fest gegen ihre Hüfte. »Bleibst du?«
»Ich bleibe«, sagt Nanna, und plötzlich gluckert Lachen aus ihrem Zwerchfell. Sie dreht das Kind immer wieder im Kreis herum in dem luftigen Zimmer, immer und immer wieder, bis beide vor schwindliger Freude keuchen.
Sechs Uhr dreißig. Der Wecker. Der schläfrige Gang ins Badezimmer, Bluse und Rock, leichte Sandalen. Die Schlange im Milchgeschäft, sie schirmt sich gegen die lauten Stimmen ab, verteidigt ihren Platz, nickt flüchtig der Frau vom Nachbartreppenhaus zu. Das Brot gegen den Körper gepreßt, warm wie tröstende Hände. Dann die Kaffeemühle, das blubbernde Geräusch, wenn der Perkolator anspringt, der intensive Duft der Kräuter, der die Küche ausfüllt.
Mariclôs Arme um ihren Hals, das schläfrige Gesicht über den Spitzen