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Kind, nur unser an enge Grenzen gebundener Verstand vermag nicht zu erfassen, warum er dies oder jenes geschehen läßt. Aber seien Sie überzeugt, wir kommen immer am besten weg, wenn wir uns bei allem, was war nicht verstehen und was uns als schweres Schicksal trifft, damit trösten: Was Gott tut, das ist wohlgetan!“

      Ilses Wimpern hoben sich.

      „Mein Vater war der beste und gütigste Mensch, warum mußte er sterben, während so viele schlechte Menschen uralt werden? Erst habe ich die Mutter verloren und nun auch den Vater. Was tat ich, daß ich so allein bleiben muß? Ich habe doch niemand auf der weiten Herrgottserde, der auch nur ein bißchen zu mir gehört, der meines Blutes ist. Klingt das nicht grenzenlos traurig?“

      „Gewiß, liebe Ilse, klingt das traurig und ist es auch. Aber Sie haben gute Freunde und Bekannte, man mag Sie überall gern. Und vor allem haben Sie das Glück, nicht hilflos dazustehen. Ihr Vater hinterläßt Ihnen den Rauneckhof und das bedeutet, Sie können sorgenfrei leben. Dafür müssen Sie ihm dankbar sein und daran denken, wie viele arme Mädchen stehen plötzlich nach dem Tod der Eltern den brutalen Alltagssorgen gegenüber, müssen, an ein gutes, bequemes Leben gewöhnt, mit einem Male den Kampf um das tägliche Brot aufnehmen und sind meist so herzlich schlecht darauf vorbereitet. Da bleibt dann oft kaum Zeit, Vater und Mutter zu beweinen.“

      Ihre Stimme zitterte ein ganz klein wenig, weil Hermine Seydel eines weit zurückliegenden Tages gedachte, der ihr nach der Mutter auch den Vater genommen, und aus einer verzärtelten und verwöhnten jungen Dame ein ganz armes Mädel gemacht, das von einer verbitterten und launischen alten Verwandten in ein Arbeitsjoch eingespannt wurde, in das sie keinen Fremden zu zwängen gewagt.

      Sie erhob sich, machte ein paar Schritte. Die Erinnerung hatte sie überfallen wie ein Alpdruck.

      „Liebe Ilse“, begann sie nach einem Weilchen, „wollen Sie die Nacht im Doktorhause verbringen oder darf ich bei Ihnen bleiben, damit Sie nicht so allein sind?“

      Ilses Tränen strömten schon wieder.

      „Nein, nein“, zwängte sie hervor, „ich möchte keins von beiden. Bitte, halten Sie mich nicht für undankbar, aber am liebsten möchte ich mit meinem Vater allein sein. Ich will diese Nacht bei ihm wachen.“

      Frau Hermine stand neben ihr, berührte leicht ihre Schulter.

      „Nicht doch, Kind, das dürfen Sie nicht tun. So eine Nacht der Totenwacht ist endlos. Die Phantasie arbeitet dann mit den traurigsten Bildern, die sich in den langen Stunden zu Schrecknissen verdichten, und Sie sollten Ihre Nerven nicht noch gewaltsam aufreizen.“

      Ilse machte eine fast heftige Bewegung der Abwehr.

      „Liebe Frau Doktor, bitte raten Sie mir nicht ab, es hat doch keinen Zweck.“ Sie hob das tränenüberströmte Gesicht. „Weshalb soll ich aus dem Hause laufen und meinen Vater allein lassen, und weshalb soll jemand bei mir bleiben? Ich fürchte mich ja nicht. Habe mich mein ganzes Leben lang nicht vor dem Vater fürchten brauchen, da brauche ich es doch auch jetzt nicht tun. Vater und ich haben uns immer so lieb gehabt, Vater und ich haben uns immer so gut verstanden. Ich muß bei ihm bleiben, ich kann einfach nicht anders.“

      Frau Hermine unterdrückte eine Antwort. Sie erkannte, es hatte wirklich keinen Zweck, weiter zu versuchen, Ilse Rauneck ihren Entschluß auszureden.

      So sagte sie denn nur leise: „Sie wissen, mein Mann und ich stehen Ihnen gern in allem zur Verfügung.“

      Ilse neigte ein wenig den Kopf.

      „Ich weiß es und bin Ihnen herzlichst dankbar.“

      Tiefer drückte sie sich danach in die Sofaecke, und ihr Weinen klang wieder auf, matt und eintönig, unaufhaltsam und gleichmäßig.

      Frau Hermine trat an eines der Fenster, wollte die Läden schließen und Licht machen. Doch sie unterließ es, denn das Weinen verstummte plötzlich, ruhiges Atmen drang an ihr Ohr.

      Sie schlich sich auf den Zehenspitzen zurück, und ein weiches Lächeln glitt über ihr volles, gutmütiges Gesicht, als sie erkannte, Ilse Rauneck war eingeschlafen.

      Kein Wunder, dachte sie, denn das arme Ding hatte ja seit drei Tagen kein Auge geschlossen. Jetzt hatte sich Ilse in den Schlaf geweint.

      Leise verließ Hermine Seydel das Zimmer, gab draußen Anordnung, daß jetzt niemand die Wohnstube betreten dürfe und ging dann ihrem Manne entgegen, der eben mit Inspektor Werdenberg den Gang entlang kam und sich mit ihm besprach, was zunächst zu tun war.

      Ulrich Werdenberg war von hoher, breiter Gestalt und stand im Anfang der Dreißiger. Sein Haar war dunkelblond und seitlich glatt gescheitelt, sein vielleicht etwas derb geschnittenes Gesicht trug unverkennbar den Ausdruck ehrlichen Schmerzes.

      Frau Hermine gesellte sich zu den beiden Herren.

      Sie erzählte, was Ilse beabsichtigt und daß sie jetzt, völlig übermüdet, mit einem Male eingeschlafen sei.

      „Ich wünschte, sie schliefe bis zum Morgen durch“, sagte Dr. Seydel und rückte an seiner goldenen Brille. „Sie hat sich am Krankenbett völlig aufgerieben. Hoffentlich wacht sie nicht noch vorher auf und führt ihren Vorsatz, die Nacht bei dem Toten zuzubringen, aus.“

      Ulrich Werdenberg wiederholte das Wort „hoffentlich“, setzte hinzu: „Den Dienst, bei ihm Wache zu halten, werde ich meinem Herrn leisten. Als junges Kerlchen von dreiundzwanzig Jahren bin ich zu ihm nach Rauneck gekommen, zehn Jahre bin ich nun schon hier und mir ist‘s, als sei mir ein älterer Herzensfreund gestorben. Denn nicht anders behandelte mich Herbert Rauneck.“

      Man zog sich gemeinsam in eines der Zimmer im Parterre zurück und später schlich sich Hermine Seydel wieder zu Ilse, fand sie immer noch schlafend.

      Wie gut das war. Sie wagte keine Lampe einzuschalten, ließ sich an dem Licht genügen, das durch die Fenster eindrang.

      Im Hof stand eine Laterne mit zwei Armen, sie sandte einen Ausläufer ihrer Helle in das Wohnzimmer.

      Gern hätte Hermine Seydel die Schlafende bequemer gebettet, ihr wenigstens ein weiches Kissen unter den Kopf geschoben, aber sie fürchtete, sie dadurch zu wecken.

      Sie selbst nahm im Armstuhl Platz und sann vor sich hin.

      Zwei Stunden später schlief Ilse Rauneck noch immer und die Doktorsfrau schlüpfte abermals hinaus, ließ sich in der Küche eine Kleinigkeit zu essen geben und machte es sich dann wieder im Armstuhl bequem.

      Ihr Mann hatte fort gemußt zu einem Schwerkranken.

      Und so saß sie lange. Von Zeit zu Zeit nickte sie ein wenig ein und freute sich, wenn sie, sich ermunternd, Ilses ruhige Atemzüge vernahm.

      Schließlich aber ward ihr eigener Schlaf immer fester, und so hörte sie denn nicht, wie Ilse sich leise erhob und sich in dem von der Hoflaterne matt erleuchteten Zimmer zur Tür tappte.

      Die Hoflaterne sollte heute die ganze Nacht brennen, und draußen der niedrige Gang war ebenfalls erhellt.

      Aber kein Mensch war hier zu sehen.

      Eben begann die alte Kastenuhr am Fuß der Treppe zum Schlage auszuholen. Sie vollführte dabei immer ein rasselndes, schnaufendes Geräusch. Sie war vor Altersschwäche längst kurzatmig geworden.

      Ilse verhielt den Schritt und zählte die Schläge. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es sein mochte.

      Zwölfmal klang die alte Glocke auf mit tiefem, heiserem Laut.

      Ilse Rauneck strich sich über die Stirn. Also hatte sie fast sechs Stunden geschlafen!

      Sie schämte sich. Wie hatte sie nur jetzt schlafen können nach dem furchtbaren Leid.

      Sie stieg die Treppe hinauf, drückte die Klinke zum Schlafzimmer ihres Vaters nieder und prallte erschrocken zurück, denn da lag ja der Vater schon aufgebahrt im schwarzen Anzug, und um sein Lager schlang sich eine Girlande von bunten Astern. Wachskerzen standen zu seinen Häupten und zu seinen Füßen, und ihr Flackern gab dem Antlitz des regungslos Ruhenden einen warmen Hauch, nahm ihm die Starrheit

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