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geschaffen, indem er bereits 1968 feststellte, »daß die Psychologie nie und nirgends die Erziehung leiten und richten kann. Daß aber (…) die Psychologie im Gegenteil nach Ursprung, Bedeutung und Gegenstand vom pädagogischen Denken abhängig ist« (Langeveld 1968, 71). Und ebenso ist es auch nicht die Soziologie, die Erziehung überwiegend als Element des Sozialisationsprozesses versteht und dementsprechend der pädagogischen Theorie und Praxis aus soziologischer Sicht nahelegt, was unter Erziehung zu verstehen und wie mit dieser umzugehen ist (vgl. Hechler 2013). Mit Blick auf den Symbolischen Interaktionismus schreibt der Pädagoge Gerhard Hey bereits 1978: »Es ist fatal, wie Pädagogen unkritisch einer Theorie wie der des Symbolischen Interaktionismus anheimfallen, die zwar einen für die Erziehung bedeutsamen Zusammenhang erkannt hat (…), die aber ein in vielen Dingen amputiertes Bild des Menschen vermittelt« (Hey 1978, 48). Und es dürfte sich an der von Hey dargelegten Situation aktuell wenig geändert haben – wahrscheinlich ist nur der Symbolische Interaktionismus von scheinbar moderneren Theorien, wie zum Beispiel dem vielzitierten, aber doch häufig missverstandenen oder auch in weiten Teilen unverstandenen Konstruktivismus abgelöst worden (vgl. Fertsch-Röver 2017). Gleiches gilt auch für die Biologie. Selbst wenn diese in der Pädagogik momentan hoch im Kurs steht – fast noch höher als der Konstruktivismus –, muss doch die »Neurobiologie der Schule« (Bauer 2008, 9) noch durch das Nadelöhr der pädagogischen Disziplin und Profession. So verhält sich die Pädagogik zu ihren humanwissenschaftlichen Nachbardisziplinen wie die Medizin zur Biologie, Chemie oder Physik. Diese Wissenschaften liefern grundlegende Kenntnisse über die Funktionsweise des menschlichen Organismus, doch wird dadurch die Medizin nicht zu einer lediglich anwendenden Disziplin – also zu einer angewandten Wissenschaft –, denn die biologischen, chemischen oder physikalischen Einsichten können den kranken Menschen niemals in seiner leibseelischen Gesamtverfasstheit begreifen und ihm deshalb auch nicht gerecht werden. Hierfür bedarf es zunächst der Aufarbeitung dieser Wissensbestände durch die medizinische Wissenschaft und deren interventionspraktischer Vermittlung im Rahmen des Arzt-Patient-Verhältnisses. Insofern versteht es sich auch von selbst, dass niemand auf die Idee käme, dem Biologen, Chemiker oder Physiker die Behandlung eines Kranken oder einer Krankenstation zu übertragen.

      In diesem Sinne folgt die hier in Angriff zu nehmende Entwicklungspädagogik grundlegend einer anthropologischen Betrachtungsweise (vgl. Bollnow 1965). Diese Sichtweise verhindert sowohl eine unzulässige triviale Summierung der Erkenntnisse der benachbarten Humanwissenschaften mit Blick auf den Gegenstand der Pädagogik als auch dessen Subsumtion unter das vorherrschende Paradigma einer benachbarten Humanwissenschaft. Vielmehr ermöglicht die hier zu entfaltende Entwicklungspädagogik, »daß sich die Pädagogik ihres unmittelbaren (kursiv im Original) Zugangs zum Menschen gewiß wird und nicht mehr glaubt, sich von anderen Wissenschaften (…) sagen lassen zu müssen, wie der Mensch beschaffen ist, mit dem sie es zu tun hat, um daraus sekundär die pädagogischen Begriffe abzuleiten, sondern den Menschen in allen seinen Lebensbezügen (…) unmittelbar sub specie educationis zu erforschen« (Loch 1963, 79).

      Diesem Verständnis folgend heben die Ausführungen zur Entwicklungspädagogik auf die Entfaltung eines personagenetischen Entwurfs der menschlichen Entwicklung unter den Bedingungen des Lernens und des Erziehens ab. Im Zentrum steht die Personwerdung des Menschen durch Lernen und Erziehung. Damit beziehen wir uns auf die Faktizität und die gattungsspezifische Notwendigkeit von Erziehung, die die anthropologische Grundlage der Pädagogik abgeben und die bereits früh in der pädagogischen Reflexion zum Gegenstand wurden. Letztendlich heben wesentliche pädagogische Aussagen – von Erasmus von Rotterdam über Johann Amos Comenius bis hin zu Immanuel Kant – auf den Tatbestand ab, dass der »Mensch nur Mensch werden (kann) durch Erziehung« (Kant 1878, 63). Diese Aussage bedarf allerdings einer kleinen Erweiterung und nicht unwesentlichen Korrektur, ist sie doch eher in einem historischen Kontext zu verstehen. Demzufolge fassen wir Mensch-Sein nicht als Resultat von Erziehung auf, denn der Mensch ist jenseits von Erziehung qua Geburt Mensch, sondern knüpfen an die Tradition einer personalistischen Erziehungstheorie an, wie sie der italienische Pädagoge Guiseppe Flores d´Arcais (1991) entworfen und der Würzburger Pädagoge Winfried Böhm (1997) weitergeführt und in Deutschland bekannt gemacht hat. Dieser pädagogischen Denkrichtung zufolge wird – stark vereinfacht – der Mensch als Mensch geboren, aber erst durch Erziehung, die maßgeblich für den individuellen Bildungsprozess ist, zur Person. Wir haben also die Person, die »gereift für sich selber entscheiden und in solchen Entscheidungen zur Persönlichkeit werden (kann)«, im Blick. So muss die Erziehung, wie wir sie denken, sowohl als »Freigabe des Heranwachsenden, nicht als seine Unterwerfung« als auch als notwendiger »Beistand (für) die Aktualisierung der Personalität« (Speck 1970, 323) des Menschen verstanden werden, indem erzieherisches Handeln prinzipiell jene Bedingungen zu ermöglichen hat, unter denen der Mensch sein Person-Sein aktualisieren kann. Außer Acht lassen wir hierbei die philosophisch-anthropologischen und phänomenologischen Entwürfe zur Person und zur Personalität, die zwar die Grundlage für die Bestimmung der Begriffe »Person« und »Personalität« als pädagogische Grundbegriffe abgeben, die hier aber nicht weiter diskutiert werden sollen. Es geht uns damit, wie gezeigt wurde, weder um die Explikation der Psychogenese, der Soziogenese oder der Biogenese mit Blick auf die menschliche Entwicklung, um hieraus etwa die pädagogische Fragestellung und diesbezügliche pädagogische Handlungsentwürfe abzuleiten, sondern um den, wie Werner Loch (1963) meint, unmittelbaren spezifisch-pädagogischen, das heißt, personagenetischen Zugang zum Menschen unter den Bedingungen der Erziehung im Rahmen eines erzieherischen Verhältnisses. Dieser markiert das Alleinstellungsmerkmal der Pädagogik als Disziplin und Profession und macht deutlich, »was ein Pädagoge und nur ein Pädagoge wirklich kann im Unterschied zum Psychologen oder Arzt oder Therapeuten« (Prange 1987, 357).

      Dieser Zugriff hat auch zur Folge, dass wir uns nur an den Stellen auf einschlägige Entwicklungstheorien beziehen, wo diese dazu dienen, die Sache der Entwicklungspädagogik zu verdeutlichen. Eine systematische Aufarbeitung psychologischer, soziologischer oder biologischer Entwicklungstheorien wird hier nicht angestrebt. Ebenso bleiben die zumeist anhand und entlang soziologischer Sozialisationstheorien beeinflussten entwicklungspädagogischen Entwürfe (z. B. Aufenanger 1992) hier weitgehend unberücksichtigt, was selbstverständlich nicht heißt, dass wir diesen keine Relevanz zusprechen, doch meinen wir, dass diese Entwürfe nur bedingt aus den »einheimischen Begriffen« der Pädagogik und deren Systematik hervorgegangen sind. Selbstverständlich haben grundlegende Arbeiten zum Gedanken einer Entwicklungspädagogik, wie sie zum Beispiel auch Heinrich Roth im zweiten Band seiner Pädagogischen Anthropologie entworfen hat (Roth 1971), Eingang in unsere Überlegungen gefunden. Allerdings versuchen wir an dieser Stelle, weniger einen systematischen Überblick oder vielleicht gar eine Theoriegeschichte der Entwicklungspädagogik zu schreiben als vielmehr »nach vorne« einen Entwurf zu formulieren, der sich, und dieser Sachverhalt ist völlig unstrittig, zwar im Kontext der einschlägigen Bemühungen verorten lässt, dabei aber möglicherweise etwas »Neues« in die Diskussion einzubringen vermag. So können wir vielleicht, in Anlehnung an Klaus Prange, abschließend festhalten: Die Entwicklungspädagogik »ist von Anfang bis Ende bei sich selbst und braucht nicht erst den Umweg über anderes Wissen, das nachträglich pädagogisiert wird« (Prange 2000, 242).

      Entsprechend den Forderungen des Themas entfalten wir unsere Gedanken zur Entwicklungspädagogik in zweifacher Hinsicht. Zum einen werden wir die pädagogischen Grundlagen der Entwicklungspädagogik kurz skizzieren, um den Rahmen abzustecken, in dem wir unser entwicklungspädagogisches Modell verorten. Denn es scheint ja mittlerweile nicht mehr klar, was im Allgemeinen unter Pädagogik und im Besonderen unter Erziehung zu verstehen ist bzw. verstanden werden soll. Die Entwicklungspädagogik ist eingebettet in ein Verständnis von Pädagogik als eine praktische Wissenschaft, dessen Grundbegriff die Erziehung darstellt. Diese Bestimmung findet sicherlich nicht ungeteilten Zuspruch – das muss sie auch nicht. Doch lässt sich erzieherisches Sehen, Denken und Handeln ohne einen grundlegenden, weitestgehend kohärenten Entwurf von Pädagogik schlichtweg nicht realisieren, wenn man es mit der Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis ernst meint.

      Zum anderen wird dann die Explikation dessen, was wir unter Lernen und Erziehen über den Lebenslauf verstehen, entfaltet. Hier finden sich genaue Darstellungen von Entwicklungsthemen und Lernaufgaben, die sich dem Menschen über seinen gesamten Lebenslauf in den unterschiedlichen Lerndimensionen stellen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei

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