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Entwicklungspädagogik. Oliver Hechler
Читать онлайн.Название Entwicklungspädagogik
Год выпуска 0
isbn 9783170360686
Автор произведения Oliver Hechler
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Damit erscheint der Rahmen hinreichend umrissen, in dem sich unsere folgenden Ausführungen bewegen sollen. Im Mittelpunkt steht die Explikation einer Entwicklungspädagogik, die die menschliche Entwicklung unter den Bedingungen des Lernens und des Erziehens fasst und sich damit auf den genuinen Gegenstand der Pädagogik als praktische Wissenschaft bezieht. In diesem Sinne möchten wir eine Theorie der pädagogischen Praxis entfalten, die in der Lage ist, in höchstem Maße interventionspraktisch wirksam zu werden, weil sie den sogenannten »pädagogischen Blick«, der der professionellen Kunstfertigkeit und der Kunstlehre zuzurechnen ist, pädagogisch begründet. Unserem Verständnis nach kann dieser pädagogische Blick auch als das verstanden werden, was Johann Friedrich Herbart (1964) bereits 1802 mit dem Begriff des pädagogischen Takts umrissen hat: »Nun schiebt sich aber bei jedem noch so guten Theoretiker, wenn er seine Theorie ausübt und nur mit den vorkommenden Fällen nicht etwa in pedantischer Langsamkeit wie ein Schüler mit seinem Rechenexempeln verfährt, zwischen die Theorie und die Praxis ganz unwillkürlich ein Mittelglied ein, ein gewisser Takt nämlich, eine schnelle Beurteilung und Entscheidung, die nicht wie der Schlendrian ewig gleichförmig verfährt, aber auch nicht, wie eine vollkommen durchgeführte Theorie (…) sich rühmen darf, bei strenger Konsequenz und in völliger Besonnenheit an die Regel zugleich die wahre Forderung des individuellen Falls ganz und gerade zu treffen« (Herbart 1964, 126). Nimmt man Herbarts Aufforderung, die den Überlegungen zum pädagogischen Takt vorangestellt ist, noch hinzu: »Unterscheiden Sie zuvörderst die Pädagogik als Wissenschaft von der Kunst der Erziehung« (ebd., 124), dann kann Herbart mit Fug und Recht als ein Vordenker einer pädagogischen Professionalisierungstheorie gelten. Er beschreibt hier den Professionellen, der über allgemeines Wissen verfügt und im Blick auf die Forderungen des individuellen Falles für die notwendige Vermittlungsoperation auf den pädagogischen Takt angewiesen ist, im Vergleich zum ewig gleich Vorgehenden, den er als Schlendrian auffasst, und zu einer ingenieurialen Praxis, die willens und in der Lage ist, in völliger Besonnenheit jeden Einzelfall den allgemeinen Regeln unterzuordnen.
So wird für das hier in Rede stehende Thema eine ganz besondere Gattung wissenschaftlicher Darstellung nötig. Um unsere Thematik in gegenstandsangemessener Form entfalten zu können, müssen wir uns in zwei Richtungen abgrenzen. Zum einen wird hier keine theoretisch-erziehungswissenschaftliche Abhandlung zum Thema »menschliche Entwicklung« gegeben. Das ist sicherlich möglich und von herausragenden Vertretern unseres Fachs mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung auch schon geleistet worden, würde aber unsere Zielrichtung verfehlen. Wir möchten weniger ein erziehungswissenschaftliches als ein pädagogisches Buch vorlegen, eines, das für die Praxis des Erziehens Relevanz hat, eines, das sich mehr auf den oben genannten Takt bzw. auf dessen berufswissenschaftliche Basis bezieht. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass theoretisch-erziehungswissenschaftliche Wissensbestände keine Praxisrelevanz haben, dienen sie doch der so wichtigen wissenschaftlichen Fundierung des in der Wissenschaft begründeten Berufs des Pädagogen, den Christian Lüders (1989) damit ja zu Recht als wissenschaftlich ausgebildeten Praktiker bezeichnet hat. Selbstverständlich kann man als Pädagoge auch in Zusammenhängen arbeiten, die entweder mit Pädagogik nichts mehr zu tun haben oder die sich nicht mehr auf die Praxis des Erziehens beziehen. Ähnliche berufliche Verläufe finden sich ja auch bei Ärzten, die als Mediziner, bei Pfarrern, die als Theologen, oder bei Richtern, die als Juristen in ganz unterschiedlichen Feldern tätig werden können. Das ist durchaus möglich, sind doch die entsprechenden Studiengänge im Allgemeinen relevant, weil sie sich grundlegend mit den Facetten des Mensch-Sein beschäftigen. So verständlich es allerdings ist, aus allgemeinem Interesse Medizin, Pädagogik, Theologie oder Rechtswissenschaften zu studieren, so sind diese Disziplinen im Kern auf eine Tätigkeit in ihrer jeweiligen professionellen Praxis als Arzt, Erzieher, Pfarrer und Richter ausgerichtet. Darum geht es in den Ausführungen zur Entwicklungspädagogik: um die Explikation einer pädagogischen Theorie für die erzieherische Praxis. Als wissenschaftlich ausgebildeter Erzieher bezieht sich der Praktiker auf die pädagogische Wissenschaft. Damit kommen wir zur zweiten Differenzlinie unserer notwendigen Abgrenzungsbemühungen. Zielt die erste gewissermaßen auf eine als strukturell zu benennende Binnendifferenzierung der pädagogischen Disziplin, so hebt die zweite Abgrenzung auf die Verhältnisbestimmung der pädagogischen Disziplin und Profession zu ihren Nachbardisziplinen, die sich ebenfalls als Humanwissenschaften verstehen, ab. Um es kurz zu machen: Die hier versuchte Explikation einer Entwicklungspädagogik ist nicht das Resultat einer Anwendung psychologischer, soziologischer oder neurobiologischer Grundlagenforschung auf die Praxis des Erziehens, sondern Ergebnis pädagogischer Studien.
Abb. 1: Verhältnis von pädagogischer Theorie und Praxis zu den Nachbarwissenschaften
Es versteht sich von selbst, dass für die pädagogische Theorie und Praxis die Erkenntnisse anderer Humanwissenschaften von prinzipieller Relevanz sind, nur müssen sie, wie das der Tübinger Pädagoge Klaus Prange (2014) mit Bezug auf Johann Friedrich Herbart (1806/1965) kategorisch feststellt, in das System der einheimischen Begriffe der Pädagogik transformiert werden: »Der Einbau auswärtiger Begriffe in die Systematik der Pädagogik hat unter dem Primat ihrer einheimischen Operationen zu erfolgen« (Prange 2014, 21). Das heißt ganz konkret, dass die Methoden und Ergebnisse der Humanwissenschaften darauf hin geprüft werden müssen, welche Relevanz sie für die Bearbeitung des Gegenstands der Pädagogik in Theorie und Praxis haben. Und es ist die der Pädagogik eigentümliche Systematik, die darüber entscheidet, und nicht beispielsweise die Psychologie, die die Praxis des Erziehens oder gar die Themen der pädagogischen Forschung bestimmen sollte. So wird auch eine mit der Gegenüberstellung von qualitativer und quantitativer Forschung zusammenhängende Vorstellung, nur hypothesenprüfende, subsumtionslogische Forschung und deren Anwendung könne in der Pädagogik als empirisch und evidenzbasiert angesehen werden, obsolet. Insbesondere im Blick auf pädagogische Forschung hat die grundlegende Kritik des Nobelpreisträgers Peter Brian Medawar an hypothesenprüfenden empirischen Untersuchungen Gültigkeit. Im BBC wurde 1963 ein Vortrag des Biologen ausgestrahlt, in dem der Wissenschaftler zu dem Ergebnis gelangt, dass hypothesenprüfende Untersuchungen und die schriftlichen Berichte davon tendenziell ein Betrug seien. Medawar bejaht die Frage »Is the scientific paper a fraud?« und begründet dies u. a. mit der Beobachtung, dass die Grundstruktur der hypothesenprüfenden Untersuchung darauf angelegt sei, solche Ergebnisse zu zeitigen, wie sie bereits vorher angenommen würden. Die Theorie veranlasse den Forscher, Erwartungen zu formulieren, und lasse ihn ausschließlich in diesem Rahmen Entdeckungen machen. Dabei entstünde dann fälschlicherweise der Eindruck, hier seien objektive Wirklichkeiten zum Abdruck gekommen (vgl. Medawar 1963).
Neben den in der wissenschaftlichen Diskussion jeweils präferierten Forschungsmethoden müssen auch die inhaltlichen Schwerpunkte und Begrifflichkeiten der Nachbarwissenschaften auf ihre