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diesem Buch zur Entwicklungspädagogik wird die eigenständige Reihe »Entwicklungspädagogik konkret« grundgelegt. Die drei Bände der Praxis-Reihe befassen sich jeweils mit einem der drei großen Räume der Erziehung, indem dieser in theoretischer Hinsicht ausgeleuchtet und anhand empirischer Befunde konkretisiert wird. So können die zentralen Lernaufgaben, Lernhemmungen und auch entsprechende Lernhilfen aus der Lebenspraxis der jeweiligen Lebensalter konkret vor Augen geführt und die entwicklungspädagogischen Gedanken erfahrungswissenschaftlich fundiert werden.

      Einzelwerke in der Reihe Entwicklungspädagogik konkret sind die folgenden:

      image Band 1: Familienerziehung

      image Band 2: Schulerziehung

      image Band 3: Selbsterziehung

      Wir wünschen uns als Autoren, dass es im vorliegenden Buch gelungen ist, die den Pädagoginnen und Pädagogen eigene Expertise deutlich zu machen, und wünschen allen Leserinnen und Lesern, dass ihnen die Lektüre neues pädagogisches Selbstbewusstsein eröffnet und zu theoriegeleitetem Handeln einlädt. Rückmeldungen und Anregungen sind sehr willkommen und werden nicht unbeachtet bleiben, einer Anregung wollen wir jedoch vorgreifen: Die bewusste Würdigung von männlichen und weiblichen Bezeichnungen, Formulierungen und Ausführungen ist uns sehr wichtig. Aus diesem Grund lehnen wir I-Notlösungen und *-Varianten ab und sind bemüht, gerechte und richtige Formulierungen zu finden. Allerdings haben wir bei der Beschreibung von Personen/Berufsgruppen in der Regel die männliche Form verwendet. Sollte stellenweise der Eindruck entstehen, dass in diesem Buch auf diese Weise die Korrektheit auf dem Altar der besseren Lesbarkeit geopfert wird, bitten wir um Verständnis.

      Würzburg, im Oktober 2020

      Stephan Ellinger und Oliver Hechler

      1 Pädagogik als praktische Wissenschaft

      Pädagogik ist eine praktische Wissenschaft. Damit unterscheidet sie sich zum einen von theoretischen Wissenschaften und zum anderen von angewandten Wissenschaften. Die Pädagogik verfügt, wie auch die Medizin, die Jurisprudenz und die Theologie, als praktische Wissenschaft immer über eine korrespondierende Interventionspraxis, die sich auf die Bearbeitung von Zentralwerten bezieht. Diese werden von der Gesellschaft als relevant angesehen, da sie für die ontogenetische und phylogenetische Entwicklung des Menschen von grundlegender Relevanz sind. So liegt es zum Beispiel auf der Hand, dass Fragen von Krankheit und Gesundheit schon immer Fragen waren, die sowohl für den einzelnen Menschen als auch für die ihn umgebende Gruppe eine existenzielle Bedeutung aufwiesen. So haben sich dann auch schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte Personen hervorgetan, die als heilkundig galten und denen man diesbezüglich ein entsprechendes Wissen sowie Können zugeschrieben hat. War dieses Wissen und die damit verbundene Könnerschaft zunächst ein reines Erfahrungswissen, das sich durch anschauliche Unterweisung tradierte, entwickelte es sich durch Systematisierung allmählich auch zu einem theoretischen Wissen weiter, das aber trotz der zunehmenden theoretischen Sättigung immer Bezug auf den Gegenstand nahm, von dem es seinen Ausgangspunkt genommen hat – nämlich dem leidenden Menschen (Patient). Kann damit Gesundheit als gesellschaftlicher Zentralwert angesehen werden, um den sich die medizinische Wissenschaft und die ärztliche Praxis kümmern, so lassen sich auch noch Gerechtigkeit, Wahrheit und Bildung als weitere gesellschaftliche Zentralwerte benennen. Für die Bearbeitung des Zentralwerts der Gerechtigkeit sind die Rechtswissenschaften und die richterliche Praxis zuständig, für den der Wahrheit traditionell die Theologie und die verkündende Praxis des Pfarrers. Bedingt durch die Aufklärung und den damit verbundenen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn sind heute die Wissenschaften mit der Erforschung der Phänomene der Welt und ihrer Geltungsbegründung betraut. Bildung schließlich wird als bedeutsam angesehen, weil die biologische Ausstattung des Menschen nicht ausreicht, um diejenigen Kompetenzen auszubilden, die nötig sind, ein Leben in personaler Selbstbestimmung zu führen. Der Mensch muss sich eine Form geben, die nicht für alle detailliert vorbestimmt ist. Bei diesem Unterfangen ist er auf Lernen und auf Erziehung angewiesen, für die sich die Pädagogik und die erzieherische Praxis verantwortlich fühlen.

      Tab. 1: Disziplin und Profession in der praktischen Wissenschaft

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      DisziplinMedizinTheologieJurisprudenzPädagogik

      In Tabelle 1 werden die gesellschaftlichen Zentralwerte, also die Werte, von denen angenommen wird, dass sie für das Wohl des Einzelnen und der Gesellschaft von Relevanz sind, und deren Bearbeitung durch die jeweiligen Professionen noch einmal deutlich zur Darstellung gebracht. Die Professionen des Arztes, Pfarrers, Richters und Erziehers unterscheiden sich von anderen akademischen Berufen, wie zum Beispiel dem des Ingenieurs oder Historikers, hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Lebensgestaltung des einzelnen Menschen. Die professionell zu bearbeitenden Problemstellungen betreffen das Individuum in höchstem Maße und sind in den jeweiligen Antworten und Operationen in Ausprägung und Entwicklung ungewiss, nicht berechenbar und nicht standardisierbar. Der Professionelle muss also die in die Krise geratene Lebenspraxis als Einzelfall individuell vor dem Hintergrund des jeweiligen allgemeinen disziplinären Wissens deuten, um dafür zu sorgen, dass sich die Autonomie der Lebensführung des betroffenen Menschen wiederherstellt. Damit ist eine Vermittlungsleistung gefragt, die sich den akademischen Berufen außerhalb dieses professionellen Zuständigkeitsbereichs nicht stellt. Diese können vielmehr ihr allgemeines wissenschaftliches Wissen unvermittelt auf den Einzelfall anwenden. Deutlich wird weiterhin, dass die jeweiligen Disziplinen mit ihren korrespondierenden professionellen Praxen die unterschiedlichen Lebensprobleme der Menschen im Modus ihrer jeweiligen Expertise deuten. Der Arzt sieht die Lebensprobleme der Menschen, mit denen er zu tun hat, vordinglich als Gesundheitsprobleme, der Pfarrer sieht diese als Glaubensprobleme, der Richter als Rechtsprobleme und der Erzieher schließlich betrachtet die Lebensprobleme der Menschen als Lernprobleme. Dieser disziplin- und professionsspezifische Zugang zu den Lebensproblemen der Menschen trägt der Tatsache Rechnung, »daß es in der Realität keine wirtschaftlichen, soziologischen oder psychologischen Probleme, sondern eben nur Probleme, und in der Regel sehr komplexe«, gibt (Myrdal 1971, 15), und erweist sich durch die Fokussierung als in höchstem Maße komplexitätsreduzierend. Nur so können professionelle Praxen wirksam werden. Eine Super-Disziplin mit ihrer Super-Profession, die den Menschen allumfassend zu greifen vermögen, ist bisher nicht in Sicht. Manchmal tut sich eine Disziplin hervor und stellt den Anspruch auf alleinige Deutungsmacht. Aktuell scheint dies auf die sogenannten Biowissenschaften zuzutreffen. Doch es zeigt sich immer wieder, dass sich die leibseelische Existenz des Menschen einem solchen Zugriff entzieht und sich, wenn überhaupt, nur partiell fassen lässt. Die Deutung der Lebensprobleme des Menschen im Modus der jeweiligen Disziplin und Profession bringt auch auf Seiten der professionellen Praxis nicht selten eine Differenzierung mit sich. Zwar kann sowohl in menschheitsgeschichtlicher als auch in vor-professioneller und vor-disziplinärer Perspektive prinzipiell von einer funktionellen Herausbildung von Heilkundigen (heute: Ärzte), Heilskundigen (heute: Pfarrer), Rechtskundigen (heute: Richter) und Erziehungskundigen (heute: Erzieher) ausgegangen werden, doch differenzierten sich diese archaischen Prototypen professionellen Handelns im Laufe der Entwicklung weiter aus. So ist unstrittig, dass spezifische Fachbereiche innerhalb der disziplinären und professionellen Zuständigkeit mit unterschiedlichen Fachkunden und Fachbezeichnungen zu versehen sind. Bei den Ärzten liegt dieser Sachverhalt auf der Hand und ist auch leicht nachzuvollziehen. Die medizinische Wissenschaft und die ärztliche Praxis differenzieren sich bis heute immer weiter aus. Der approbierte Arzt bildet sich zum Facharzt (zum Beispiel: Facharzt für Innere Medizin) weiter und erlangt noch eine weitere Zusatzbezeichnung (zum Beispiel: Kardiologie). Gleiches lässt sich auch bei den Pfarrern erkennen, wenn einzelne Tätigkeiten spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern und so zu einem alleinigen Betätigungsfeld, wie zum Beispiel die Krankenhausseelsorge oder die Pastoralpsychologie, werden. Im Bereich der Jurisprudenz und der Pädagogik sind im Laufe der historischen Herausbildung der jeweiligen professionellen Praxen gewissermaßen noch zwei weitere Berufe

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